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[Seite der Druckausg.:64]


2. Grundsatzfragen

Muslimischer Religionsausübung kommt eine Rolle im Gebäude des Glaubens zu, die sich nur sehr begrenzt mit derjenigen im Christentum vergleichen läßt. Auch wenn sich in den äußeren Formen nicht selten Parallelen ergeben, so ist der islamische Ansatz doch ein anderer als der christliche. Während sich das Christentum als Gewissensreligion darstellt, steht der Islam, in einer Linie mit dem Judentum, als Gesetzesreligion. Der Religionsausübung in all ihren rituellen Spezifika mißt der Islam ein großes Gewicht zu. Wo man für das Christentum von Orthodoxie, im Sinne der Rechtgläubigkeit, spricht, liegt für den Islam der Begriff der Orthopraxie viel näher. Zwar verpflichtet in beiden Religionen der rechte Glaube ganz unabdingbar auch auf das rechte Handeln, jedoch liegt im Islam eine besondere Betonung auf der inhaltlichen Bestimmung dieses rechten Handelns. Wesensmerkmal ist hier die Suche nach der göttlichen Rechtleitung, huda. Die Eröffnungssure des Korans, die fatiha, macht diese Bitte um Rechtleitung deutlich:

„Im Namen Gottes, des allbarmherzigen Erbarmers. / Gelobt sei Gott, der Herr der Welten! / Der Allbarmherzige, der Erbarmer, / Der König des Gerichtstags. / Dir dienen wir, dich rufen wir um Hilf’ an. / Führ’ uns den Weg den graden! / Den Weg derjenigen, über die du gnadest, / Derer auf die nicht wird gezürnt, und derer, die nicht irrgehn." [In der Übersetzung von Friedrich Rückert.]

Diesen graden und gnadenvollen Weg erschließt den Gläubigen zuallererst der Koran. Er gilt den Muslimen als letztverbindlich gültiges und unmittelbares Gotteswort, dem Propheten Muhammad [Vgl. Miehl 2000.] (geb. ca. 570 - gest. 632 n.Chr.) durch den Erzengel Gabriel überbracht, nach dem Tode Muhammads durch seine Gefährten aufgezeichnet und bis heute unverändert überliefert. Die Koranredaktion durch den Kalifen Uthman (644-56 n.Chr.) legte die Gestalt des Buches fest, das heute in 114 Kapiteln, Suren genannt, vorliegt. Deren Verse sind numeriert. Jede Sure, außer der neunten, beginnt mit der basmala, den Worten „im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes" [So die Übersetzung Rudi Parets. Rückert übersetzt: „Im Namen Gottes des allbarmherzigen Erbarmers".].
Dabei unterscheiden sich die einzelnen Suren erheblich in ihrem Umfang. Nach der sieben Verse umfassenden fatiha, der Eröffnungssure, folgen die weiteren Suren in etwa in absteigender Länge, so daß die längste Sure des Korans gleich nach der fatiha zu finden ist, während die kürzesten Suren am Ende des Korans stehen. Das heißt auch, daß die Suren nicht chronologisch geordnet sind. Da aber die frühen Suren oft auch die kürzeren sind, kann es für eine erste Begegnung mit dem Koran hilfreich im Sinne der Chronologie sein, die Lektüre von hinten zu beginnen. Unter Muslimen werden die Suren meist mit ihren arabischen Namen genannt, ansonsten gibt man - etwas prosaischer - die Nummer und den Vers an. Einigen Versen, die im Glaubensleben eine herausgehobene Rolle spielen, sind ebenfalls Namen zugeschrieben worden. Hinter der Angabe 2:255 verbirgt sich der „Thronvers", der in Not, Bedrängnis und Versuchung gesprochen wird. Der arabische Begriff für einen Koranvers ist aya. Darunter versteht man zunächst ein Wunder(-zeichen) Gottes. Tatsächlich gilt der Koran als das Bestätigungswunder für die Prophetie Muhammads.

Der Koran gilt als Gottes eigenes Wort [An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, daß Vergleiche des Korans mit der Bibel ebenso von einer falschen Voraussetzung ausgehen wie Vergleiche Muhammads mit Jesus. Im Unterschied zum Koran gilt die Bibel als „Gotteswort in Menschenwörtern" (Dohmen 1998, S. 30).]; an seinem Zustandekommen hat Muhammad nach islamischer Auffassung keinerlei kreative Beteiligung gehabt. Die Tradition sieht ihn sogar als ummi, als Analphabeten. Die göttliche Herkunft sehen die Gläubigen in der Unnachahmlichkeit des Korans, in seiner sprachlichen und inhaltlichen Perfektion und nicht zuletzt seiner

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Schönheit bestätigt - das arabische Original ist in Reimprosa verfaßt. Nicht wenige Menschen beherrschen die kunstvolle Rezitation des gesamten Korans auswendig.

Gegenwärtig ist das Arabische längst nicht mehr die Muttersprache aller Muslime, und zwischen dem modernen Arabisch und dem Arabisch des Korans haben die 14 Jahrhunderte, seit denen er gelesen wird, Divergenzen hinterlassen. Auch wenn der Koran als letztlich unübersetzbar gilt, stehen den Gläubigen vielfältige Kommentare und Übersetzungen zur Verfügung, die es ihnen ermöglichen, sich mit der Bedeutung und den gängigen Auslegungen vertraut zu machen.

Die Herabsendung des Korans geschah abschnittweise und zu verschiedenen Anlässen im Leben Muhammads und der Gemeinde. Ein Hauptthema, das den Koran durchzieht, ist das Verhältnis Gottes zu den Menschen. In den frühen Suren finden sich Aufrufe zum Glauben und die Warnung vor dem Jüngsten Tag, die späteren Suren enthalten teils legalistische Erörterungen zur Konsolidierung der Gemeinde.

Der besondere Status des Korans als Offenbarung göttlichen Willens und als Gotteswort bringt es mit sich, daß der Koranexegese nur der arabische Wortlaut zugrunde gelegt werden darf. Auch die Koranrezitation während des fünfmaligen täglichen Ritualgebetes erfolgt in arabischer Sprache. Allein der arabische Originaltext gilt als heilig und die Fülle göttlicher Herabsendung enthaltend. Diese Heiligkeit des Korans spiegelt sich auch im Umgang mit dem konkreten Buch wider, der den Zustand ritueller Reinheit erfordert. Aus Ehrfurcht wird der Koran nicht auf den Boden gelegt oder auf irgendeine Weise achtlos behandelt und nicht an unreine Orte mitgenommen. In den Wohnungen hat er oft einen erhöhten Platz. [Nichtmuslime sollten dies respektieren und weder in Moscheen noch Privathäusern ungefragt im Koran blättern. Besser ist es, bei Interesse darum zu bitten, sich das Buch zeigen zu lassen, seine Seiten aber nicht zu berühren.]

Der Koran ist mithin auch die erste und wichtigste Quelle des islamischen Rechtes, der šari‘a. Das Ziel, das die šari‘a verfolgt, ist, die göttliche Rechtleitung in ihren konkreten Dimensionen menschlicher Lebenszusammenhänge zu erschließen.

Um diese umfangreiche Orientierung in allen Lebensbereichen bieten zu können, wurde der Bezugsrahmen des islamischen Rechts bald über den Koran hinaus erweitert. Diese Öffnung ist bereits im Koran selbst angelegt, der dem Propheten Muhammad die umfassende Führung der islamischen Gemeinde, der umma, anvertraut: „Wenn einer dem Gesandten gehorcht, gehorcht er Gott". (4:80) Muhammads Taten, Gewohnheiten und Aussprüchen, der sunna, kommt daher in jeder Hinsicht Beispielcharakter zu. Berichte darüber wurden früh gesammelt, eingehend auf Glaubwürdigkeit und Lückenlosigkeit der Tradenten, Authentizität und Übereinstimmung mit koranischen Prinzipien geprüft und in sogenannten Hadith-Sammlungen kompiliert. Ein Hadith (Pl. Ahadith) bezeichnet dabei eine einzelne Überlieferung aus Muhammads Leben.

Wo diese beiden ersten Quellen nicht genug Aufschluß bieten, wendet die islamische Rechtsfindung weitere Methoden an, die aber keinesfalls im Widerspruch zu Koran und sunna stehen dürfen. Auf dem Hintergrund, daß die Gesamtheit der Gemeinde nicht dem Irrtum verfallen könne, hat sich der igma‘ entwickelt, der Konsens der Gelehrten. Eine weitere Methode stellt der qiyas, der Analogieschluß dar. Er erlaubt es, in Analogie zu den primären Quellen des Rechts zu entscheiden, also beispielsweise aus dem koranischen Weinverbot und der sunna des Propheten ein Verbot aller alkoholischen Getränke oder auch aller Rauschmittel abzuleiten. Der igtihad, die individuelle Rechtsfindung eines Gelehrten anhand der primären Quellen ist im sunnitischen Islam dort nicht mehr möglich, wo bereits ein igma‘ vorliegt. Bereits

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im frühen Mittelalter wurde das „Tor des igtihad" geschlossen. Der schiitische Islam vollzog diese Entwicklung allerdings nicht mit.

Um in aktuellen Fragen flexibel zu bleiben, wurde das Amt des Muftis geschaffen, der in religiösen Angelegenheiten ein Gutachten, fatwa, erstellen kann. Der Antragsteller ist nicht an die fatwa gebunden - gegebenenfalls kann er sich an einen anderen Gelehrten wenden und eine weitere fatwa einholen.

Dieses Rechtssystem hat Kategorien entwickelt, die es erlauben, sämtliches menschliche Handeln im Hinblick auf seinen ethischen und religiösen Gehalt hin zu beurteilen. Gegenstand der Beurteilung ist dabei sowohl das Handeln des Menschen in der Welt als auch dasjenige im Bezug auf Gott. Jedes Tun und Lassen findet seine Bewertung zwischen den Polen der Verpflichtung und des Verbotes. Dieses Spektrum ist in sich wiederum gegliedert und durch Fachtermini bestimmt:

Fard oder wagib bezeichnet eine Pflicht. Sie zu erfüllen wird belohnt, und ihre Unterlassung zieht Strafe nach sich.

Mandub bezeichnet eine Empfehlung. Während die Tat belohnt wird, bedeutet ihre Unterlassung jedoch keine Strafe.

Mubah charakterisiert eine sittlich neutrale Handlung. Weder wird ihr Vollbringen belohnt, noch ihre Unterlassung bestraft.

Makruh ist eine Tat dann, wenn ihre Unterlassung belohnt, ihr Vollzug aber nicht bestraft wird.

Haram bezeichnet ein klares Verbot. Die Unterlassung wird belohnt, während der Vollzug bestraft wird.

Lohn und Strafe beziehen sich dabei auf außerweltliche Kategorien. „Wird doch auch gar nicht alles, was haram ist, vom Richter mit Strafe belegt, nämlich unter Umständen dann nicht, wenn es nicht einen Verstoß gegen die Rechte der Menschen, sondern einen solchen gegen die Gottes bedeutet." [Hartmann 1992, S. 75.] Das souveräne Urteil über alles menschliche Handeln liegt mithin bei Gott. Die Übersetzung des Begriffs „Islam" bedeutet nichts anderes als Hingabe an und Unterwerfung unter Gott und seinen Willen. Dabei geht es nicht in erster Linie um ein abstraktes „Dein Wille geschehe!", sondern um eine möglichst konkrete Annäherung an den offenbarten göttlichen Willen. Die šari‘a verfolgt das Ziel, alle Bereiche des Lebens auf dieser Basis zu regeln.

Auf diesem Hintergrund sind die religiösen Grundpflichten des Islams zu sehen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2001

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