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[Seite der Druckausg.:49]


4. „Seelsorge" an Muslimen in öffentlichen Institutionen

Die Anwesenheit von Muslimen in öffentlichen Institutionen stellt differenzierte Anforderungen an die Betreiber oder Träger dieser Einrichtungen. Unweigerlich taucht die Frage nach ihrer Betreuung oder „Seelsorge" auf. Während die Diskussion im Zusammenhang mit dem Begehren nach Einführung islamischen Religionsunterrichts im schulischen Bereich seit geraumer Zeit geführt wird und entsprechend weit gediehen ist - sofern die Anforderungen gegenseitig bekannt sind [Vgl. Rohe 2000.] - ist die Problematik in anderen Lebensbereichen vergleichsweise neu. Das hat damit zu tun, daß sich Institutionen wie Bundeswehr oder Altenheim erst sukzessive dem Zugang von Muslimen öffnen und damit verbunden deren Zahl in ihnen (noch) gering ist. Da sie aller Voraussicht nach in der Zukunft zunehmen wird, darf die Reichweite der in Frage stehenden Problematik nicht unterschätzt werden.

Im einzelnen handelt es sich um folgende Institutionen: Bundeswehr, Bundesgrenzschutz, Polizei, Strafanstalten, Krankenhäuser, Behindertenheime, Altenpflegeheime usw.

Auf der Basis des Grundgesetzes und entsprechender Vereinbarungen mit Bund oder Ländern sind Strukturen der beiden großen christlichen Kirchen zur Seelsorge ihrer Gläubigen in den jeweiligen Einrichtungen entstanden. [Vgl. Campenhausen 1991; Ders. 1996; Eick-Wildgans 1995; Seiler 1995; Heintzen 1995.]
Im Zusammenhang dieses Beitrags kann es nicht darum gehen, die Frage kirchlicher Seelsorge in den genannten Einrichtungen zu diskutieren. Vielmehr ist nach den Bedingungen und Möglichkeiten zur Schaffung eines vergleichbaren Angebots für muslimische Gläubige angesichts der dargestellten Situation zu fragen. Hierbei sind zum einen die Voraussetzungen des Grundgesetzes zur Religionsausübung und zum anderen das Selbstverständnis der Muslime von der Ausübung ihres Glaubens in Betracht zu ziehen, bevor Schlußfolgerungen für einzelne Einrichtungen zu ziehen sind.

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4.1 Voraussetzungen des Grundgesetzes

Ansatzpunkt allen seelsorglichen Wirkens in öffentlichen Einrichtungen ist die Tatsache, daß die sich in ihnen aufhaltenden Menschen zur Ausübung ihres Grundrechts auf Religionsfreiheit fremder Hilfe bedürfen. Der Charakter des Aufenthalts in einer der genannten Einrichtungen bringt zwangsläufig eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit mit sich. Ob es sich um einen Wehrpflichtigen, einen Strafgefangenen oder einen Krankenhausinsassen handelt, sie alle können ihren Glauben nur unter den Lebensbedingungen der jeweiligen Institution ausüben und normalerweise nicht am religiösen Leben ihrer Gemeinden teilnehmen. Dennoch garantiert ihnen das Grundgesetz auch für die Dauer des Aufenthalts in den jeweiligen Einrichtungen Religionsfreiheit, wozu auch die ungestörte Religionsausübung gehört. Die Schutzwirkungen des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gelten daher auch für den betreffenden Personenkreis. Das Grundrecht auf Religionsfreiheit als Individualrecht bleibt in den genannten Lebenszusammenhängen grundsätzlich unangetastet, wenn auch seine Ausübung durch die Erfordernisse der Anstalt eingeschränkt sein kann.

Darüber hinaus garantiert das Grundgesetz den Religionsgesellschaften bei Bedarf die Zulassung zur Vornahme religiöser Handlungen. Die entsprechende Regelung in Art. 140 GG i.V.m. Art. 141 WRV lautet: „Soweit das Bedürfnis nach Gottesdienst und Seelsorge im Heer, in Krankenhäusern, Strafanstalten oder sonstigen öffentlichen Anstalten besteht, sind die Religionsgesellschaften zur Vornahme religiöser Handlungen zuzulassen, wobei jeder Zwang fernzuhalten ist." Den Bereich individueller Religionsausübung überschreitend werden damit den Religionsgesellschaften Möglichkeiten ihres Wirkens eröffnet, sofern das Bedürfnis da-

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nach besteht. Dabei genügt die bloße Anwesenheit von Gläubigen einer entsprechenden Glaubensrichtung, um das Vorliegen eines solchen Bedürfnisses zu konstatieren. Axel Freiherr von Campenhausen spricht dieser Regelung folgende Bedeutung zu: „Unter der Geltung des GG hat Art. 141 WRV jetzt die Funktion einer Verdeutlichung der Wirkung des Art. 4 in einem speziellen, besonders sensiblen Bereich staatlichen Handelns. Es geht mit anderen Worten bei der Anstaltsseelsorge um Grundrechtsermöglichung unter den besonderen Bedingungen des Anstaltsverhältnisses." [Campenhausen 1996, S. 223.]

Als in Betracht kommende religiöse Handlungen nennt der Artikel zusammenfassend „Gottesdienst und Seelsorge". Während der Begriff des Gottesdienstes die wesentlichen liturgischen Handlungen der christlichen Glaubensgemeinschaften meint, bezeichnet das Wort Seelsorge den umfassenden Auftrag kirchlichen Handelns am ganzen Menschen. Neben spezifisch religiösen Handlungen können daher auch Formen karitativen und sozialen Wirkens dazu gehören. Der Begriff der Seelsorge bedarf daher im Hinblick auf die sogenannte Anstaltsseelsorge einer entsprechenden Differenzierung, wie dies denn auch in den jeweiligen Vereinbarungen für bestimmte Arten der Anstaltsseelsorge der Fall gewesen ist. [Zur Begrifflichkeit schreibt Campenhausen: „Der Begriff der religiösen Handlung ist – auch auf dem Hintergrund der Rspr. des BVerfG zu Art. 4 GG – weit auszulegen. Vor allem ist das Selbstverständnis und die Auffassung der jeweiligen Religionsgemeinschaft zu beachten. … Zu den religiösen Handlungen i.S.d. Art. 141 WRV gehören deshalb alle Handlungen, die als korporative Grundrechtsausübung in Betracht kommen. … Hieraus wird man freilich nicht den Schluß ziehen dürfen, daß es überhaupt keine Grenzen für die Definition von religiösen Handlungen gäbe. Auch wenn Art. 4 GG einer dynamischen Auslegung zugänglich ist, Kirchen und Religionsgemeinschaften auch bisher ungewohnte Handlungsweisen als Seelsorge deklarieren oder der Seelsorge zurechnen können, muß die Grundrechtsausübung für den heutigen Betrachter verstehbar, objektivierbar und voraussehbar sein. Staatliche Gerichte müssen in der Lage sein, eine selbständige rechtliche Bewertung zu treffen. Ein uneingeschränktes subjektives Erfindungsrecht für das, was Religionsbetätigung oder Seelsorge oder religiöse Handlung sei, ist den Grundrechtsträgern also nicht eingeräumt. Die Grenzen der vom Tatbestand erfaßten Verhaltensweisen ergeben sich aus dem Umstand, daß das Grundrecht ein Element der Rechtsordnung ist, also anwendbar und deshalb objektiv beurteilungsfähig sein muß" (Ebd., S. 226f.).]

Als berechtigt zur Vornahme von religiösen Handlungen betrachtet der Artikel allein die Religionsgesellschaften, wobei infolge der Gleichstellung nach Art. 137 Abs. 7 WRV auch die Weltanschauungsgemeinschaften hinzuzuziehen sind.

Das Grundgesetz formuliert somit auf individueller wie auf korporativer Ebene einen Anspruch auf Religionsfreiheit in den betreffenden Einrichtungen. Da in diesen Fällen die Wirkungskreise von Staat und Religionsgesellschaften ineinander fallen und dennoch nicht austauschbar sind, handelt es sich bei der Anstaltsseelsorge - vergleichbar dem Religionsunterricht - um sogenannte gemeinsame Angelegenheiten. [„Eine gemeinsame Angelegenheit ist die Anstaltsseelsorge deshalb, weil die Kommandogewalt, Leitung und Verantwortung in den Anstalten dem Staat bzw. dem öffentlichen Anstaltsträger zustehen, die Seelsorge und die Abhaltung von Gottesdiensten aber auch in den Anstalten eine kirchliche Angelegenheit bleiben" (Ebd., S. 224).]
Die im Grundgesetz zugrunde gelegte Beziehung zwischen Staat und Religionsgesellschaften gebietet ein Zusammenwirken beider in diesen Fragen. Das religiöse Wirken der Religionsgesellschaften vollzieht sich innerhalb des Auftrags der jeweiligen Institution. Somit bedarf es genauer Absprachen zur Regelung von Organisation und Ablauf der Anstaltsseelsorge. Dabei steht im Hintergrund dieses Zusammenhangs - das haben die bisherigen Ausführungen erkennen lassen - das Modell kirchlicher Organisationsformen und -strukturen. Inwieweit dieses sich auf Fragen muslimischer Religionsausübung übertragen läßt, ist Gegenstand der weiteren Überlegungen.

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Ohne jeden Zweifel hat der einzelne Muslim einen Anspruch auf das Grundrecht der Religionsfreiheit, die nicht vor Kasernentoren oder Gefängnistüren Halt macht. Dementsprechend ist festzustellen, daß die betreffenden Einrichtungen oftmals bemüht sind, den religiösen Verpflichtungen ihrer muslimischen Insassen im Rahmen ihrer Möglichkeiten nachzukommen. Hierbei ist etwa an schweinefleischfreie oder vegetarische Kost in Krankenhäusern oder Gefängnissen sowie an die Bereitstellung von Gebetsräumen in Krankenhäusern oder Altenheimen zu denken. [Ein Beispiel aus dem Bereich der Altenpflege bietet das Multikulturelle Seniorenzentrum Haus am Sandberg in Duisburg-Homberg, das bislang jedoch nicht die angestrebte Akzeptanz der türkischen Muslime des Stadtteils gefunden hat (Helmstaedter / Michels 1997).]
Die Reichweite der individuellen Religionsausübung mag allerdings im einzelnen ein Streitfall sein. Grundlegende Informationen über Einzelfragen sowie klärende Absprachen zwischen Muslimen und der Anstaltsleitung können dabei der Vermeidung von Konflikten dienen. Wo dies im Einzelfall oder grundsätzlich nicht gelingt, kann die Frage Gegenstand einer richterlichen Urteilsfindung werden. Wie bereits erwähnt, wies das Verwaltungsgericht Hamburg durch Urteil vom 26. Januar 1994 die Klage eines Muslims auf Zurückstellung vom Wehrdienst wegen islamischer Glaubenszugehörigkeit ab. [Vgl. S. 32.] Die Möglichkeiten und Grenzen individueller Religionsausübung sollten daher in den verschiedenen Einrichtungen geklärt werden. Dabei ist eine Differenzierung nach unterschiedlichen religiösen Gruppierungen zu berücksichtigen. Nicht alle in Deutschland lebenden Türken gehören dem sunnitischen Islam an, neben kleinen schiitischen und christlichen Minderheiten, sind sehr viele von ihnen Aleviten. Bei den Aleviten handelt es sich um eine religiöse Sondergruppe, die sich in ihrem Selbstverständnis erheblich von der Sunna und der Schia unterscheidet. Kennzeichnend ist vor allem, daß Aleviten die fünf religiösen Grundpflichten des Islams nicht befolgen und statt dessen eine Reihe eigener Rituale entwickelt haben. [Einen Überblick bietet Spuler-Stegemann 1998, S. 51-56.]
Die für Muslime typischen Formen der Religionsausübung, wie das rituelle Gebet und das Fasten im Monat Ramadan, finden daher bei ihnen keine Anwendung (sie fasten statt dessen zehn oder zwölf Tage im Monat Muharram). Dies kann kein Argument gegen die verbindliche religiöse Praxis anderer sein, sondern verdeutlicht vielmehr die Notwendigkeit der Differenzierung.

Hinsichtlich der Garantie des Grundgesetzes auf Zulassung zur Vornahme von religiösen Handlungen ergeben sich im Blick auf muslimische Gemeinschaften Bedenken. Im Wortlaut der WRV ist von „Religionsgesellschaften" als Trägern von Gottesdienst und Seelsorge die Rede. Damit ist ein organisatorischer Zusammenschluß von Angehörigen einer Religion gemeint, „der die Angehörigen ein und desselben Glaubensbekenntnisses - oder mehrerer verwandter Glaubensbekenntnisse - zu allseitiger Erfüllung der durch das gemeinsame Bekenntnis gestellten Aufgaben zusammenfaßt." [Zitiert nach: Tillmanns 1999, S. 476. Diese gängige Definition des Begriffs der Religionsgemeinschaft geht auf Gerhard Anschütz in seinem Kommentar zur WRV zurück.]
Daraus ergibt sich, daß nicht jeder beliebige Gläubige zur Anstaltsseelsorge berechtigt ist, sondern vielmehr die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft vorausgesetzt ist, deren Vertreter religiöse Handlungen vornehmen dürfen. Ob nun muslimische Gemeinschaften in Deutschland den Charakter einer Religionsgemeinschaft im Sinne von Art. 140 GG i.V.m. Art. 141 WRV besitzen, ist weithin strittig. Zwar bezeichnen sich einige von ihnen, wie der Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland / Islamischer Weltkongreß Deutschland (altpreußischer Tradition) e.V. und der Verband der Islamischen Kulturzentren e.V. (VIKZ), ausdrücklich als Religionsgemeinschaften, [Die entsprechenden Passagen der Vereinsatzungen lauten:
„Der Verein ist eine autonome islamische Religionsgemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland im Sinne der Verfassung (Grundgesetz) und der Gesetze der Bundesrepublik Deutschland" (Satzung des Islamrates für die Bundesrepublik Deutschland / Islamischen Weltkongresses Deutschland [altpreußischer Tradition] e.V. vom 29. November 1997 § 2 Abs. 3).
„Bei dem Verband der Islamischen Kulturzentren handelt es sich um eine Religionsgemeinschaft, die im Rahmen des Artikels 140 des Grundgesetzes in Verbindung mit den fortgeltenden Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 gegründet worden ist. Dies wurde vom Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen mit Schreiben vom 12. August 1994 unter dem Aktenzeichen: IV A 3 - 224 - offiziell anerkannt" (Satzung des Verbandes der Islamischen Kulturzentren e.V. vom 21. August 1994 § 1 Abs. 4).]
doch

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steht ihre rechtliche Anerkennung als solche derzeit noch aus. Die Diskussion um den Rechtsstreit der Islamischen Föderation Berlin e.V. (IFB) mit der Senatsverwaltung des Landes Berlin um die Erlaubnis zur Erteilung islamischen Religionsunterrichts macht die Problematik deutlich. [Vgl. Tillmanns 1999.]

Während das Verwaltungsgericht Berlin die Voraussetzung dafür, nämlich den Charakter der IFB als Religionsgemeinschaft im Sinne von § 23 Abs. 1 SchulG Berlin, für nicht gegeben sah, [Vgl. VG Berlin, Urteil vom 19. Dezember 1997 – 3 A 2196/93.] kam das Oberverwaltungsgericht Berlin am 4. November 1998 zu folgendem Urteil: „Der Kläger erfüllt alle Merkmale einer Religionsgemeinschaft." [OVG Berlin, Urteil vom 4. November 1998 – 7 B 4/98, S. 555.]
Das Bundesverwaltungsgericht hat dieses Urteil am 23. Februar 2000 zwar im Prinzip bestätigt, aber dennoch darauf hingewiesen, daß die Auslegung des Begriffs der Religionsgemeinschaft in diesem Fall nicht durch die entsprechenden Bestimmungen des Grundgesetzes vorgegeben sei. [Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Februar 2000 – 6 C 5/99. In der Pressemitteilung des Bundesverwaltungsgerichts vom gleichen Tage heißt es: „Der dort [d.h. in Art. 7 Abs. 3 S. 2 GG, Th.L.] verwandte Begriff der Religionsgemeinschaft enthält daher keine für das Land Berlin verbindliche Vorgabe. Hinsichtlich der Auslegung und Anwendung des gleichlautenden Begriffs im Berliner Schulgesetz muß es daher bei der Entscheidung des OVG verbleiben, welchem für die Auslegung und Anwendung von Landesrecht die letztinstanzliche Kompetenz zukommt."]
Da Art. 7 Abs. 3 S. 2 GG durch die sogenannte „Bremer Klausel" in Art. 141 GG in Berlin ausdrücklich keine Anwendung findet, kann es sich bei der IFB demnach lediglich um eine Religionsgemeinschaft im Sinne von § 23 Abs. 1 SchulG Berlin handeln.

Auch die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Darmstadt vom 9. September 1999 zur Erteilung einer Ausnahmegenehmigung vom Verbot des betäubungslosen Schächtens hatte den Charakter der IRH als Religionsgemeinschaft im Sinne von § 4a TierSchG zum Gegenstand. [Vgl. S. 43.] Eine Prüfung im Hinblick auf Art. 140 GG i.V.m. Art. 141 WRV steht derzeit generell noch aus. Aus diesen Feststellungen ergibt sich, daß die verschiedenen muslimischen Gemeinschaften in Deutschland derzeit (noch) nicht als Träger einer ordentlichen Anstaltsseelsorge betrachtet werden können.

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4.2 Selbstverständnis der Muslime

Umgekehrt ist mit vollem Recht zu fragen, ob Muslime von ihrem religiösen Selbstverständnis her überhaupt in diesem Sinne „Seelsorge" betreiben wollen und können. Dazu schrieb der Islamwissenschaftler Richard Hartmann: „Der Islam hat eine sehr umfassende offizielle Gottesdienstordnung. Individuelle Seelsorge aber ist in dem vom Gesetz geregelten Kult nicht vorgesehen. Und doch erwies sie sich als nötig. … Durch die Zulassung breiter Laienschichten in die Derwischbruderschaften und damit wenigstens in den Vorhof der eigentlichen Mystik haben die Derwischorden weitgehend die Aufgabe der Seelsorger im Islam übernom-

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men." [Hartmann 1992, S. 153] Hinter dieser Aussage steht ein theologisches Selbstverständnis, das den Islam grundlegend vom Christentum unterscheidet.

Demnach steht der Mensch in einer unmittelbaren Beziehung zu seinem Schöpfer, die keiner Vermittler bedarf. Aufgrund einer schöpfungsgemäßen Veranlagung ist jeder Mensch seinem Wesen nach auf Gott ausgerichtet und kommt seiner Bestimmung in gläubiger Hingabe an Gott nach. Diese Hingabe macht bereits das Wesen des Wortes Islam aus, und indem der Mensch diese Hingabe vollzieht, wird er zum Muslim. [Vgl. Lemmen 2000c, S. 33f.] Es bedarf daher keiner besonderen Riten der Initiation, da der Islam bereits die schöpfungsgemäße Religion der Menschen darstellt. Die Aufgabe der Propheten und besonders des Propheten besteht darin, die Menschen durch die Verkündigung göttlicher Willensmitteilungen zum Glauben zu rufen. Hinzu kommt, daß der Islam die theologische Lehre von der Erbsünde nicht teilt und ihm daher die damit verbundene Erlösungslehre durch ein stellvertretendes Leiden ebenso fremd ist. [Allein der schiitische Islam kennt die Vorstellung eines stellvertretenden Leidens seiner Imame: „Die ‚Sünd losen’ nehmen freiwillig einen Teil der Strafe auf sich, die eigentlich den sündigen Menschen gebührt; ihr stellvertretendes Leiden erspart es der Menschheit, von der vollen Gerechtigkeit Gottes getroffen zu werden. Das Selbstopfer befähigt die Märtyrer zudem, eine Mittlerrolle … bei Gott einzunehmen und mit ihrer Fürsprache … für die Gläubigen einzutreten. Dieser Glaube an das stellvertretende Leiden kommt christlichen Vorstellungen sehr nahe, so daß man die schiitische Imamologie geradezu als ‚islamische Christologie’ hat bezeichnen können. Allerdings dürfen die Unterschiede nicht verwischt werden: Die Vorstellung von einer existentiellen Sündhaftigkeit, einer ‚Erbsünde’, von der die Menschheit erlöst werden müsse, ist der Schia – wie dem Islam überhaupt – fremd; die Passion der Imame gilt lediglich die Strafe ab, die der Gläubige durch individuelles Verschulden verwirkt hat" (Halm 1988, S. 177f.).]

Diese andere theologische Konzeption hat zur Folge, daß der Islam seinem Selbstverständnis nach keine Kirche ist, sondern vielmehr eine umma, eine Gemeinschaft von Gläubigen. Seinem Wesen nach bedarf er daher keiner Vermittler und keiner Amtsträger zum Vollzug bestimmter Rituale. Vielmehr ist jeder erwachsene und vernünftige Muslim, der um seine Religion weiß, zur Vornahme der entsprechenden rituellen Handlungen berechtigt. Mit anderen Worten gesagt ist jeder Muslim/jede Muslima sein/ihr eigener „Priester" und „Seelsorger". Demnach läßt sich der Begriff der Seelsorge in seinem spezifisch christlichen Bedeutungsgehalt nicht unmittelbar auf das religiöse Leben der Muslime übertragen. Hinsichtlich der Anstaltsseelsorge ist daher zu fragen und zu klären, was damit aus muslimischem Verständnis überhaupt gemeint sein kann.

So warnen beispielsweise Muslime in Deutschland um der eigenen Identität willen vor der Übernahme von Organisationsformen und -strukturen, die dem Islam fremd sind. Im Bemühen um den Status einer Körperschaft öffentlichen Rechts sehen sie die Gefahr einer Verkirchlichung, die durch eine „strukturelle Assimilation des Islams in Deutschland" [So lautet der Titel eines Beitrages von Ayyub Axel Köhler, in dem er sich kritisch mit der Frage der Körperschaftsrechte für muslimische Organisationen in Deutschland auseinandersetzt (Köhler 1999). In einem früheren Beitrag zum Thema zog er folgende Konsequenz: „Wer aber diese Körperschaft mit Kirchenstruktur anstrebt, muß den Islam reformieren, d.h. säkularistisch deformieren. Naturgemäß setzen sie sich der großen Gefahr aus, aufgrund ihres nun ambivalenten Verhältnisses zu Staat und Welt sich politisch-ideologisch anzupassen und dabei ihren religiösen Gehalt zu opfern. Die endgültige Spaltung der Muslime und schwere innerislamische Auseinandersetzungen werden ein böses Erwachen auslösen. Über die weitreichenden Konsequenzen dieser Bestrebungen … müßten sich die Verantwortlichen, wenn sie den Islam verstanden haben, eigentlich im Klaren sein" (Ders. 1997, S. 6f.).] drohe. Tatsächlich erwecken Formen muslimischer Selbstorganisation, wie sie in der sogenannten Geistlichen Verwaltung des Islamrates für die Bundesrepublik Deutschland mit ihrer Hauptabteilung Seelsorge in öffentlichen Einrichtungen und den entsprechenden Referaten für Seelsorge in Bundeswehr, Polizei, Krankenhaus und Justizvollzugsanstalten begegnen, einen derartigen Eindruck. [Diese Struktur geht auf eine Änderung der Verfassung des Islamrates für die Bundesrepublik Deutschland vom 4. September 1993 zurück (Lemmen 1999b, S. 18f.).]
Dabei geben die Bezeichnungen an sich noch keine

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Auskunft darüber, was damit gemeint sein soll. Die Struktur des Islamrates insgesamt soll dabei dem „Modell der Reformierten Kirche" [Mit diesen Worten zitiert Köhler den früheren Vorsitzenden und heutigen Ehrenvorsitzenden des Islamrates, Muhammad Salim Abdullah (Köhler 1999, S. 16 Anm. 3).] nachempfunden sein.

Grundsätzlich geht es in der Frage der Anstaltsseelsorge um die Vornahme religiöser Handlungen. Als solche nennt Art. 141 WRV ausdrücklich die Bereiche „Gottesdienst und Seelsorge". Diese Formulierung erfordert jedoch hinsichtlich der Muslime eine weitere Konkretisierung.

Unter den Begriff des Gottesdienstes fällt zweifelsfrei das den Muslimen vorgeschriebene fünfmal täglich stattfindende Ritualgebet. Für den Vollzug des Gebetes sind ein Zustand ritueller Reinheit, die Einhaltung bestimmter Zeiträume und die Ausrichtung nach Mekka erforderlich. Grundsätzlich kann jeder Muslim alleine beten, vorzugsweise tut er es aber zusammen mit anderen, woraus sich die Notwendigkeit eines Raumes für das gemeinsame Gebet ergibt. Es kann prinzipiell an jedem Ort stattfinden, sofern es sich um eine für das Gebet würdige Stätte handelt. Der Platz, an dem es geschieht, wird dadurch zur Moschee, zum Ort der Niederwerfung. Anders als eine Kirche ist eine Moschee daher kein sakraler oder geweihter Raum. [Vgl. Lemmen 2000a, S. 21-25.] Somit stellt sich die Frage nach „Krankenhausmoscheen" oder „Gefängnismoscheen" anders als die Frage nach Krankenhauskapellen oder Gefängniskapellen. Damit soll nicht einer Verdrängung von betenden Muslimen in Abstellräume Vorschub geleistet, sondern lediglich der andere Charakter ihrer Gebetsstätte hervorgehoben werden.

Charakteristisch anders ist ferner, daß es für das gemeinsame Beten eigentlich keiner Assistenz von außen bedarf. Vielmehr kann jeder erwachsene, vernünftige und in seiner Religion bewanderte Muslim dem gemeinsamen Gebet von mehreren Muslimen als Imam vorstehen. Für das gemeinsame Gebet in Anstalten ist deshalb theoretisch kein Imam von außerhalb notwendig. Erforderlich ist er allenfalls für das Freitagsgebet und die Festtagsgebete, zu deren verbindlichen Bestandteilen die Abhaltung einer Predigt gehört. Diese Predigt halten zu können, setzt gewisse religiöse Kenntnisse voraus, die nicht bei jedem muslimischen Patienten oder Strafgefangenen angenommen werden können. [Erol Pürlü vom VIKZ, der aufgrund einer besonderen Vereinbarung in der Justizvollzugsanstalt Siegburg muslimische Jugendliche betreut, berichtete bei einer Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung am 4. Mai 2000 in Berlin, daß sich die ordnungsgemäße Durchführung des gemeinsamen Gebetes schon deshalb schwierig gestaltet, weil anfänglich keiner der beteiligten Jugendlichen den Gebetsruf ausrufen konnte.] Somit tut in diesen Fällen die Hilfe eines kundigen Muslims von außen not. Dabei gilt jedoch zu beachten, daß die Verpflichtung zum Freitagsgebet und zu den Festtagsgebeten dem islamischen Recht zufolge nicht für Reisende, Kranke und Gefangene besteht. [Vgl. Arikan 1998, S. 133-135.]

Wenn Seelsorge hingegen in einem weiten Sinn gefaßt wird und das umfassende religiöse Handeln für und an Gläubigen meint, dann kann und muß der Begriff auch für Muslime Anwendung finden. Die Tatsache, daß menschliche Extremsituationen wie Krankheit oder Gefängnisaufenthalt, zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Sinn menschlichen Daseins führen, ist auch im Hinblick auf Muslime in diesen Einrichtungen ernst zu nehmen. Die Konfrontation mit solchen Situationen kann eine verstärkte Hinwendung zum Glauben und seiner Ausübung zur Folge haben. Bedingt durch den Aufenthalt in einer öffentlichen Einrichtung können sich dann auch Fragen im Hinblick auf die Religionsausübung un-

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ter den besonderen Verhältnissen ergeben. Über den Kreis der unmittelbar zur Verfügung stehenden Personen hinaus, können daher Rat und Hilfe eines kundigen Muslims erforderlich werden. Somit tut ein muslimischer Ansprechpartner in öffentlichen Einrichtungen not. Zu dessen Tätigkeiten können die Unterweisung im Glauben und seiner Ausübung gehören. Die Ausübung der religiösen Grundpflichten des Islams setzt nämlich die Kenntnis der jeweiligen Vorschriften des islamischen Rechts voraus. Aufgabe eines solchen „Seelsorgers" kann daher sein, für die Anliegen von Muslimen hinsichtlich der Inhalte ihres Glaubens und seiner Ausübung unter den besonderen Lebensverhältnissen zur Verfügung zu stehen. Diese Hilfe ist besonders notwendig bei der Begleitung Sterbender, denen bestimmte Korantexte und Gebete vorzusprechen sind, und im Umgang mit Toten, die auf bestimmte Weise für die Bestattung vorzubereiten sind. [Vgl. Lemmen 1999a, S. 14-22.]
Doch auch in diesen Fällen gilt: Jeder Muslim/jede Muslima, der/die um die entsprechenden Vorschriften weiß, ist berechtigt, die Handlungen vorzunehmen.

Auch in diesen Fragen ist die bereits erwähnte Differenzierung nach Sunniten/Schiten und Aleviten zu berücksichtigen. Dabei sei angemerkt, daß die bei Aleviten verbreitete religiöse Funktion der dede, womit die „traditionellen religiösen Amtsträger" [Kehl-Bodrogi 1993, S. 273.] gemeint sind, noch am ehesten Wesen und Aufgabe eines „Seelsorgers" nahe kommt.

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4.3 Schlußfolgerungen

Als Ergebnis ist zunächst festzustellen, daß eine ordentliche muslimische Anstaltsseelsorge zwar notwendig, aber derzeit noch nicht möglich ist, weil einerseits muslimische Organisationen nicht über die formellen Voraussetzungen dazu verfügen und sie andererseits das Anforderungsprofil ihres Verständnisses der „Seelsorge" definieren müssen. Denkbar ist jedoch die Einführung bestimmter Formen einer außerordentlichen Anstaltsseelsorge in Absprache mit den zuständigen Anstaltsleitungen. Im Hinblick auf eine bessere Betreuung von Muslimen in den verschiedenen öffentlichen Einrichtungen lassen sich bereits jetzt eine Reihe von Handlungsmöglichkeiten erkennen. Dazu gehört:

  1. die Einhaltung der islamischen Speisevorschriften zu gewährleisten;
  2. einen Raum für das gemeinsame Gebet zur Verfügung zu stellen;
  3. die Teilnahme am Freitagsgebet zu ermöglichen, falls dies vom Arbeitsablauf der Einrichtung her denkbar ist;
  4. die Teilnahme an den beiden Festtagsgebeten zu gestatten;
  5. geeignete muslimische Gesprächspartner zur Beratung in religiösen Angelegenheiten in den Einrichtungen zuzulassen.

In der Vergangenheit haben Mitarbeiter der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion e.V. (DITIB) in Justizvollzugsanstalten für die Betreuung türkischer Muslime zur Verfügung gestanden. So anerkennenswert dieses Bemühen in der berechtigten Sorge um das Wohl der türkischen Landsleute auch sein mag, so problematisch ist dieses Unterfangen auf der anderen Seite. Handelt es sich doch bei den Mitarbeitern der DITIB um Bedienstete des türkischen Staates, die der Dienstaufsicht durch die zuständigen Konsulate unterstehen und denen eine Quasi-Seelsorge in öffentlichen Einrichtungen der Bundesrepublik Deutschland eingeräumt wird. [Vgl. Lemmen 2000a, S. 36.] Die zuständigen Strafvollzugsämter müssen sich daher die Frage gefallen las-

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sen, ob dieses Vorgehen in Einklang mit den Voraussetzungen des Grundgesetzes steht. Selbst wenn eine ordentliche Anstaltsseelsorge für muslimische Strafgefangene aus den genannten Gründen nicht möglich sein kann, ist es mehr als fraglich, ob Vertretern eines ausländischen Staates vergleichbare Befugnisse zustehen dürfen.

Für die verschiedenen Bereiche der Anstaltsseelsorge lassen sich abschließend im Hinblick auf Muslime die folgenden Feststellungen treffen:

1. Bundeswehr [Vgl. Seiler 1995, S. 961-980.]

Das Soldatengesetz begründet in § 36 einen Anspruch der Soldaten auf Seelsorge und ungestörte Religionsausübung. Die Seelsorge in der Bundeswehr beruht für evangelische Soldaten auf dem Militärseelsorgevertrag (MSV) vom 22. Februar 1957 und für katholische Soldaten auf dem Reichskonkordat vom 20. Juli 1933. Sie wird für beide durch das Militärseelsorgegesetz vom 26. Juli 1957 geregelt. [Die beamtenrechtlichen Bestimmungen des Militärseelsorgevertrages sind nach Art. 2 des Militärseelsorgegesetzes und nach Abstimmung mit dem Heiligen Stuhl sinngemäß auf die katholischen Militärgeistlichen anzuwenden.]
Die Militärseelsorge ist ausdrücklich keine staatskirchliche Einrichtung, sondern wird „als Teil der kirchlichen Arbeit im Auftrag und unter Aufsicht der Kirche" [Art. 2 Abs. 1 MSV.] ausgeübt. Demzufolge sind die Militärgeistlichen zwar Bundesbeamte, unterstehen jedoch in ihrer Leitung und Dienstaufsicht dem zuständigen Militärbischof. Zu ihren Aufgaben gehören der „Dienst am Wort und Sakrament und die Seelsorge" [Art. 4 MSV.] sowie die Erteilung des Lebenskundlichen Unterrichts. Bei letzterem handelt es sich eigentlich um eine Aufgabe des Staates, die dieser an die Militärseelsorger delegiert hat. Die Militärseelsorge ist in personale Seelsorgebereiche eingeteilt, weshalb Soldaten für die Zeit ihres Dienstes nicht den Ortskirchengemeinden angehören.

Ein dem Militärseelsorgevertrag vergleichbares Abkommen mit einem Vertragspartner auf muslimischer Seite ist derzeit noch nicht in Sicht, so daß es bislang keine Militärseelsorge für Muslime geben kann. Dennoch sollte die Bundeswehr entsprechende Maßnahmen ergreifen, um den muslimischen Soldaten die ungestörte Religionsausübung zu ermöglichen. Fraglich ist ferner, ob nicht eine Regelung hinsichtlich des Lebenskundlichen Unterrichts, der getrennt nach Konfessionen und auf freiwilliger Basis stattfindet, für muslimische Soldaten denkbar ist.

2. Bundesgrenzschutz [Vgl. Seiler 1995, S. 981-984.]

Anders als in der Bundeswehr besteht beim Bundesgrenzschutz kein Anspruch auf Seelsorge. Dennoch ist sie durch entsprechende Vereinbarungen zwischen dem Staat und den beiden Kirchen ausdrücklich gewährleistet. Organisation und Aufbau der Bundesgrenzschutzseelsorge entsprechen der Militärseelsorge, wobei jedoch die Seelsorger keine Beamten, sondern Angestellte sind. Die Bundesgrenzschutzbeamten selbst gehören – anders als Soldaten – weiterhin ihren Ortskirchengemeinden an. Der Berufsethische Unterricht ist Teil ihrer Ausbildung, er wird nicht konfessionell getrennt und nicht ausschließlich von Seelsorgern erteilt.

Fragen der Religionsausübung muslimischer Bundesgrenzschutzbeamter sollten sich durch entsprechende organisatorische Maßnahmen klären lassen. Wie im Fall der Bun-

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deswehr ist kein Vertragspartner für den Abschluß einer Vereinbarung für die Seelsorge an Muslimen erkennbar.

3. Polizei [Vgl. Heintzen 1995.]

Die Anwendung des Begriffs der Anstaltsseelsorge auf die Polizei ist aufgrund der Einteilung in verschiedene Dienstzweige nur zum Teil berechtigt. Eine Mindestgarantie auf Seelsorge ergibt sich nur für kasernierte Polizeieinheiten (Polizeischulen und Bereitschaftspolizei), während Angehörigen des Einzeldienstes der Schutzpolizei oder der Kriminalpolizei die Teilnahme an der normalen Seelsorge ihrer Gemeinden möglich ist. Die Einrichtung einer regulären Polizeiseelsorge durch den Abschluß von Staatskirchenverträgen der einzelnen Bundesländer ist daher als ein Entgegenkommen des Staates zu verstehen, der mehr Möglichkeiten der Seelsorge gewährleisten kann, als ihm durch Art. 140 GG i.V.m. Art. 141 WRV aufgetragen ist. Die Polizeiseelsorge stellt keine eigenständige personale Seelsorge dar, sondern ist als Ergänzung der allgemeinen Seelsorge in die jeweiligen kirchlichen Organisationsstrukturen eingebunden. Die Polizeipfarrer bekleiden daher ausschließlich ein kirchliches Amt. Der Berufsethische Unterricht in Polizeischulen und Abteilungen der Bereitschaftspolizei ist Angelegenheit des Staates, der sich jedoch zu dessen Erteilung der Seelsorger bedienen kann.

Wie in den beiden vorhergehenden Bereichen fehlen auch bei der Polizeiseelsorge die Voraussetzungen für entsprechende Regelungen im Hinblick auf muslimische Polizeibeamte.

4. Strafvollzug [Vgl. Eick-Wildgans 1995, S. 1010-1016.]

Die im Grundgesetz garantierte Religionsfreiheit wirkt sich in besonderem Maße auch auf den Strafvollzug aus. Sowohl das Strafvollzugsgesetz als auch andere gesetzliche Regelungen garantieren dem einzelnen Gefangenen das Recht auf Religionsausübung. Dazu gehört das „Recht auf Einzelseelsorge und Besuch des Gottesdienstes und anderer religiöser Veranstaltungen … sowie auf den Besitz grundlegender religiöser Schriften und religiöser Gegenstände in angemessenem Umfang." [Ebd., S. 1013.] Vom Grundrecht der Religionsfreiheit ist darüber hinaus abgedeckt, daß Gefangene sich außerdem an Seelsorger einer anderen Religionsgemeinschaft wenden und deren Gottesdienste – sofern die Seelsorger dies zulassen – aufsuchen dürfen. Die Teilnahme an religiösen Veranstaltungen überhaupt läßt sich nur aus schwerwiegenden Gründen der Sicherheit und Ordnung versagen. Das Strafvollzugsgesetz garantiert ferner die Befolgung der Speisevorschriften, wobei die Strafvollzugsanstalten jedoch nicht verpflichtet sind, „entsprechend hergestellte Speisen zur Verfügung zu stellen, solange dem Gefangenen die Möglichkeit gelassen wird, die Speisevorschriften auf andere Weise einhalten zu können." [Ebd., S. 1015.] Die Organisation der Gefängnisseelsorge ist in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich geregelt. [„Zu beobachten sind die Übernahme in das Beamtenverhältnis, die vertragliche Begründung eines Dienstverhältnisses und die Bindung im Wege eines Gestellungsvertrages, der zwischen Staat und Kirche geschlossen wird" (Ebd., S. 1011).]
Unabhängig von der Art der Anstellung ist der Seelsorger „als im Vollzug Tätiger … zur Zusammenarbeit und zur Mitwirkung an der Erreichung des Vollzugsziels verpflichtet" [Ebd.] , woraus sich ein

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Rechtsverhältnis besonderer Art ergibt. Der Anstaltsseelsorger steht in der Verantwortung sowohl gegenüber der Anstaltsleitung als auch gegenüber der Kirchenleitung und hat darüber hinaus seelsorgliche Verpflichtungen gegenüber den Strafgefangenen.

Im Hinblick auf muslimische Strafgefangene ist festzustellen, daß sich auf der Grundlage der Bestimmungen des Strafvollzugsgesetzes viele Fragen der Religionsausübung durch entsprechende Maßnahmen in Absprache mit der Anstaltsleitung klären lassen. Die Gewährung einer ordentlichen Gefängnisseelsorge erscheint aufgrund der fehlenden Voraussetzungen hingegen unbegründet. Erwähnenswert ist allerdings, daß das Strafvollzugsgesetz den Seelsorgern die Hinzuziehung von freien Seelsorgehelfern vorbehaltlich der Zustimmung der Anstaltsleitung ermöglicht. Auf dieser Grundlage ist eine Mitwirkung muslimischer „Seelsorger" zur Betreuung muslimischer Gefangener in Abstimmung mit den Gefängnisseelsorgern und der Anstaltsleitung denkbar. [Im Rahmen von sogenannten „Kontaktgruppen" sind Mitarbeiter des VIKZ in den Justizvollzugsanstalten für Jugendliche in Siegburg und Heinsberg sowie in der für Frauen in Willich tätig.]

5. Krankenhäuser

Zu den in Art. 140 GG i.V.m. Art. 141 WRV genannten Anstalten gehören ausdrücklich auch Krankenhäuser. Darüber hinaus hatte bereits das Reichskonkordat die Zulässigkeit der Krankenhausseelsorge festgeschrieben. Die Organisation erfolgt durch entsprechende Vereinbarungen zwischen den Kirchen und den einzelnen Bundesländern. Anders als in den vorher genannten Bereichen ist die Krankenhausseelsorge wesentlich eine Angelegenheit der Kirchen in den einzelnen Krankenhäusern. [Allein die Länder Bayern und Niedersachsen haben sich durch Vereinbarungen verpflichtet, in ihren Kranken-, Pflege- und Erziehungsanstalten die entsprechende Seelsorge auf eigene Kosten einzurichten.]
Das Recht auf die Zulassung ergibt sich aus der Mindestgarantie des Grundgesetzes, während die Gestaltung der Seelsorge eine Angelegenheit der jeweiligen Vereinbarungen darstellt.

Hinsichtlich Patienten und Personal islamischen Glaubens bleibt festzuhalten, daß der Anspruch auf ungestörte Religionsausübung auch im Krankenhaus unmittelbar aus dem Grundrecht der Religionsfreiheit folgt. Für die Einrichtung einer ordentlichen Krankenhausseelsorge fehlen jedoch auch in diesem Bereich die Voraussetzungen. Dagegen spricht nichts gegen Formen einer außerordentlichen Seelsorge im Einvernehmen mit der Krankenhausleitung. Zu denken ist etwa an die Einrichtung von Gebetsräumen und die Heranziehung muslimischer „Seelsorger" in besonderen Situationen des Krankenhausalltages. [Verschiedene Krankenhäuser haben bereits Gebetsräume für Muslime eingerichtet, genauso wie sie Imame zur Begleitung Sterbender oder zur Vorbereitung Verstorbener auf die Bestattung heranziehen.]

Zu wünschen ist abschließend, daß nicht nur in den verschiedenen Bereichen der Anstaltsseelsorge ein Umdenken im Hinblick auf die Ermöglichung besonderer Formen der außerordentlichen Seelsorge an Muslimen stattfindet, sondern die Verantwortlichen der islamischen Gemeinden ihrerseits diese Chance wahrnehmen, indem sie sich in die Verpflichtung nehmen lassen und die angestrebte Betreuung der Muslime tatsächlich übernehmen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2001

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