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3. Problemfelder islamischer Religionsausübung in Deutschland

3.1 Religionsfreiheit und ihre Grenzen

Das Grundgesetz bestimmt den Rahmen, innerhalb dessen sich alle in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Menschen religiös zu betätigen vermögen. Dieser Rahmen ist allen Menschen unabhängig vom Geschlecht oder Alter, von Herkunft oder Staatsangehörigkeit und von der konkreten Religionszugehörigkeit als Grund- und Menschenrecht gemeinsam. Dabei schützt das Grundgesetz nicht nur die Freiheit des religiösen Bekenntnisses (Art. 4 Abs. 1), sondern auch der Religionsausübung (Art. 4 Abs. 2). [Wörtlich lauten die beiden Artikel: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet."]
Somit erstreckt sich sein Schutz sowohl auf die Zugehörigkeit zu einer Religion, als auch auf deren Ausübung. Die Religionsfreiheit ist demnach als ein Grundrecht mit umfassender Bedeutung zu verstehen. Nach Stefan Muckel herrscht weithin Einigkeit darüber, in den beiden Artikeln „ein einheitliches Grundrecht der ‚Glaubens- und Gewissensfreiheit’ zu sehen, welches ein weitreichendes Recht auf ein glaubensgeleitetes Leben gewährleisten soll. Dem Selbstverständnis des einzelnen oder einer Gemeinschaft wird entscheidende Bedeutung für die Frage beigemessen, ob ein bestimmtes Verhalten als Ausübung von Religion oder Weltanschauung dem Schutzbereich der Religionsfreiheit unterfällt." [Muckel 1999, S. 241f.]

Dennoch ist die Religionsfreiheit kein Recht von grenzenloser Reichweite und absolutem Rang. Ihre Grenzen vermag man vielmehr in zweierlei Hinsicht abzustecken. Unumstritten ist die Auffassung, daß ihre Schranken dort gesetzt sind, wo sie auf „mit Verfassungsrang ausgestattete Gemeinschaftsinteressen oder Grundrechte Dritter" [Zitiert nach: Ebd.] trifft. Die durch das Grundgesetz ebenfalls geschützten Rechte anderer Personen oder die Interessen der Gemeinschaft von gleichem Rang begrenzen somit die Religionsfreiheit.

In Rechtsprechung und Literatur ist hingegen umstritten, ob darüber hinaus die allgemeinen Gesetze eine Einschränkung der Religionsfreiheit rechtfertigen. [Die Diskussion hierüber kann in diesem Zusammenhang nicht geführt werden. Darum wissend hat der Verfasser entschieden, sich der Auffassung von Stefan Muckel zu dieser Frage anzuschließen (Ebd., S. 253-256).]
Diese Auffassung erschließt sich aus der Anwendung von Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 WRV, wonach die „bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten … durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt" werden. Da zu den staatsbürgerlichen Pflichten auch die Befolgung von Gesetzen gehört, hat die Religionsausübung demnach in deren Rahmen zu geschehen. Folgt man dieser Position, ergibt sich daraus eine Begrenzung der Religionsfreiheit durch die allgemeinen Gesetze. Mit den allgemeinen Gesetzen sind dabei diejenigen staatlichen Normen gemeint, „die sich nicht gegen Glauben, Bekenntnis und Religionsausübung als solche wenden, die also kein ‚Sonderrecht’ gegen die Religionsfreiheit enthalten und deshalb ‚allgemein’ sind." [Ebd., S. 254.] Der aus der Weimarer Reichsverfassung in das Grundgesetz übernommene Artikel begründet damit einen Vorbehalt zugunsten der allgemeinen Gesetze. Die in ihnen geschützten Belange hebt dieser Gesetzesvorbehalt auf die verfassungsrechtliche Ebene des Grundrechtes, was folgerichtig eine Einschränkung der Religionsfreiheit zur Konsequenz haben kann. Demnach liegen Konflikte zwischen dem Anspruch auf Religionsfreiheit und der Geltung der durch einfaches Recht geschützten Belange auf einer vergleichbaren Ebene. Sie sind dabei nicht durch den Vorrang des Grundrechts gegenüber dem allgemeinen

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Recht zu lösen. Vielmehr ist auf der Grundlage der sogenannten „praktischen Konkordanz" [„Die Maxime der praktischen Konkordanz verlangt nach einer Lösung, die beiden Belangen, dem Grundrecht und dem gegenläufigen, im einschränkenden Gesetz zum Ausdruck kommenden Interesse, in größtmöglichem Umfang Rechnung trägt. Beide Belange sollen sich möglichst weitgehend durchsetzen, beide müssen aber auch Einschränkungen hinnehmen" (Ebd., S. 255f.).] nach einem Ausgleich zwischen den miteinander streitenden Ansprüchen zu suchen.

Dieser Ansatz beruht im wesentlichen darauf, dem Art. 4 Abs. 1 und 2 GG keinen Vorrang gegenüber Art. 136 Abs. 1 WRV einzuräumen, sondern beide Regelungen in einem sich ergänzenden Zusammenhang zu verstehen. Für dieses Verständnis spricht die Tatsache, daß die inkorporierten Artikel der Weimarer Reichsverfassung zusammen mit dem Grundgesetz eine Einheit bilden. Der Gesetzesvorbehalt aus Art. 136 Abs. 1 WRV ist daher als korrespondierende Regelung zum Grundrecht der Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zu betrachten. Die Religionsausübung findet daher im Rahmen der öffentlichen Ordnung ihre Verwirklichung. [Stefan Muckel zitiert in diesem Zusammenhang Joseph Listl, der darüber einen Konsens sieht, „daß die beiden staatskirchenrechtlich relevanten Normen des Art. 4 und des Art. 140 GG ungeachtet ihrer räumlichen Trennung so zu lesen sind, als ob sie auch äußerlich, und zwar im Rahmen des 1. Abschnitts, ineinandergefügt wären" (Ebd., S. 254 Anm. 78).]

Die bisherigen Überlegungen sind abschließend auf die grundsätzlichen Fragen im Zusammenhang islamischer Religionsausübung zu übertragen. Außerhalb jeder Diskussion steht zunächst die Tatsache, daß es sich beim Islam um eine Religion im Sinne von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG handelt. Die aus seinem Selbstverständnis hervorgehenden Ausdrucksformen der Religionsausübung stehen daher prinzipiell unter dem Schutz des Grundgesetzes. Dabei ist unerheblich, ob die sich darauf berufenden Muslime ausländischer oder deutscher Staatsangehörigkeit sind. Die Geltung der Religionsfreiheit als Grundrecht ist unabhängig vom Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft. Nicht zulässig ist in diesem Zusammenhang der Vergleich mit der rechtlichen Situation christlicher Minderheiten in islamischen Ländern. Man kann die Gewährung der Religionsfreiheit nicht von einer gegenseitigen Anerkennung dieses Rechts abhängig machen. Die Grundlage islamischer Religionsausübung in Deutschland kann allein das Grundgesetz und nicht die als ungerecht empfundene Rechtsordnung eines anderen Staates sein. [Über die Situation christlicher Minderheiten u.a. in islamischen Ländern informiert eine entsprechende Bundestagsdrucksache (Deutscher Bundestag 1999).]
Dieser Grundsatz hat umgekehrt zur Konsequenz, daß Muslime sich in Fragen ihrer Religionsausübung nicht auf das Recht eines anderen Staates, sondern allein auf das Grundgesetz berufen können. Für sie kann daher nicht rechtlich maßgeblich sein, was im Heimatland erlaubt und möglich, sondern allein, was im Rahmen des Grundgesetzes zulässig ist.

Eine erste Einschränkung der prinzipiell weitreichenden Religionsfreiheit kann sich durch Gemeinschaftsinteressen oder Grundrechte Dritter ergeben. Dabei ist sowohl an die im Grundgesetz vorgegebene Trennung von Religion und Staat als auch an die anderen ausdrücklich genannten Grundrechte zu denken. Eine Berufung auf religiöse Motive vermag eine Veränderung der bestehenden Grundordnung der Bundesrepublik nicht zu rechtfertigen. Neben dieser grundsätzlichen Frage spielen vor allem Einzelfragen der Religionsausübung eine Rolle: Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG), die negative Religionsfreiheit [Zur Religionsfreiheit gehört auch die Freiheit von der Religion und deren Ausübung.] (Art. 4 Abs. 1 GG) oder der staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag (Art. 7 Abs. 1 GG) können die Religionsfreiheit grundsätzlich einschränken. In den in Frage kommenden Angelegenheiten, wie beispielsweise der Beschneidung von Kindern, dem Tragen des Kopftuchs im Unterricht oder der Befreiung vom Sportunterricht, sind daher die Grundrechte der einen gegen die der anderen sorgfältig abzuwägen, um zu einer Entscheidung zu gelangen.

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Die Anwendung des genannten Gesetzesvorbehalts kann schließlich eine zusätzliche und weiterreichende Einschränkung der Religionsfreiheit bewirken. Der Verweis auf den Vorrang des Grundrechts gegenüber den allgemeinen Gesetzen führt unweigerlich dazu, daß die durch einfaches Recht geschützten Belange regelmäßig hinter dem Anspruch auf Religionsfreiheit zurückstehen müssen. Dadurch werden in Fragen der Religionsausübung regelmäßig Ausnahmezustände geschaffen, die auf Dauer schwerlich eine gesellschaftliche Akzeptanz finden können. [Stefan Muckel macht mit Recht darauf aufmerksam, daß Bemühungen um eine Integration der bisweilen mehrheitlich ausländischen Muslime beeinträchtigt werden können, wenn der Eindruck eines „Sonderrechts" in ihren religiösen Anliegen entsteht (Ders. 1999, S. 256f.).]
Eine Berücksichtigung der durch allgemeine Gesetze geregelten Belange erlaubt hingegen eine umfassende Betrachtung der in Frage stehenden religiösen Angelegenheiten. Um die Religionsfreiheit jedoch nicht von vornherein zu begrenzen, ist allerdings in jedem Fall sehr sorgfältig danach zu fragen, ob und in welchem Umfang das einfache Recht eine Begrenzung des religiösen Handelns erlaubt. Im Sinne der „praktischen Konkordanz" ist dabei nach einem Ausgleich zwischen den gegensätzlichen Interessen zu suchen. Auf Angelegenheiten islamischer Religionsausübung angewandt bedeutet dies, daß beispielsweise in der Frage des Gebetsrufes die Immissionsschutzgesetze und in der des Schächtens das Tierschutzgesetz eine einschränkende Wirkung zeigen können. Auf dem Hintergrund ihres Schutzanspruchs ist zu fragen, ob eine Einschränkung der Religionsfreiheit zulässig und in welcher Weise eine Lösung des Interessenkonflikts möglich ist.

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3.2 Moscheebau

3.2.1 Trägerschaft

Die Gesamtzahl der gegenwärtig in Deutschland bestehenden islamischen Gebetsstätten liegt schätzungsweise bei 2.200. [Vgl. Zentralinstitut Islam-Archiv-Deutschland e.V. 2000, S. 116. Zur Bedeutung und zur Funktion einer Moschee: Lemmen 2000a, S. 21-25.]
Die meisten von ihnen sind nach wie vor der Kategorie der sogenannten „Hinterhofmoscheen" zuzuordnen. Damit sind die unscheinbaren Gebetsstätten gemeint, die ihre Benutzer in gemieteten und umgebauten Häusern oder Hallen eingerichtet haben und die oftmals von außen nicht als religiöse Einrichtungen zu erkennen sind. Sie befinden sich in Hinterhöfen oder Gewerbegebieten und fallen nur durch die zahlreichen Besucher am Freitagmittag oder an den Abenden der Fastenzeit auf. Moscheen im klassisch orientalischen Stil gab es in Deutschland lange Zeit nur sehr wenige. Zu ihnen gehören die Wilmersdorfer Moschee (1924), die Imam Ali Moschee in Hamburg (1961), die Bilal Moschee in Aachen (1964) und das Islamische Zentrum in München (1967). Dieses Bild hat sich jedoch in den letzten Jahren erheblich verändert, seitdem Muslime mit dem Bau repräsentativer Moscheen in Deutschland begonnen haben. Seit etwa Ende der achtziger Jahre werden zunehmend neue Moscheen mit Kuppeln und Minaretten gebaut. Derzeit soll es insgesamt 66 solcher Bauwerke geben. [Vgl. Zentralinstitut Islam-Archiv-Deutschland e.V. 2000, S. 116. Dem Verfasser sind Neubauten in den folgenden Städten bekannt: Augsburg, Baesweiler, Bergheim, Berlin, Böbingen, Dillenburg, Dortmund, Duisburg, Frankfurt am Main, Hamburg, Hamm, Hilden, Iserlohn, Karlstadt, Köln, Lauingen, Mannheim, Marl, Mosbach, Neuss, Pforzheim, Siegen, Werl, Wesseling. Diese Aufzählung erhebt jedoch in keiner Weise den Anspruch auf Vollständigkeit.]
Gleichzeitig sind schon bestehende Gebetsstätten umgebaut worden, indem man auf das Dach eine Kuppel gesetzt oder dem Gebäude ein Minarett hinzugefügt hat. [In Alsdorf befindet sich seit einigen Jahren eine Moschee in einem ehemaligen Bahnhofsgebäude, dessen Dach man nunmehr um eine kleine Kuppel erweitert. Die Moschee in Grevenbroich ist in einer ehemaligen Werkshalle eingerichtet, vor die ein kleines Minarett gebaut wurde. Kuppel und Minarett der Moschee in Troisdorf sind schon von weitem zu erkennen. Bei näherem Hinsehen kann man feststellen, daß beide lediglich auf ein relativ kleines Haus aufgesetzt sind.]
Diese fortschreitende Bautätigkeit macht einen Wandel im Bewußtsein der Muslime

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deutlich. Hatten ihre Gebetsstätten bislang einen provisorischen Charakter, so versinnbildlichen die Neu- und Umbauten den Willen, in dieser Gesellschaft im wahrsten Sinne des Wortes heimisch zu werden.

Die Bauherrn oder Träger der Moscheen sind in der Regel islamische Gemeinden in der Rechtsform eines eingetragenen Vereins. Seit Anfang der siebziger Jahre haben die nach Deutschland eingewanderten Muslime begonnen, sich zur Erfüllung ihrer religiösen Verpflichtungen zusammenzuschließen. [Zum islamischen Organisationswesen insgesamt: Lemmen 2000a.]
Die meisten der mittlerweile entstandenen islamischen Vereine existieren jedoch nicht für sich alleine, sondern gehören zu in ganz Deutschland und Europa verbreiteten Verbänden. Die Verbände selbst lassen sich auf entsprechende Organisationen in den Heimatländern zurückführen, zu denen nach wie vor Verbindungen bestehen. Der Bau einer Moschee ist daher über die einzelne islamische Gemeinde hinaus im Zusammenhang mit dem Verband zu betrachten, dem sie angehört. Dabei sind allerdings signifikante Unterschiede in den Organisationsstrukturen der Verbände zu berücksichtigen. Der Verband der Islamischen Kulturzentren e.V. (VIKZ) ist beispielsweise zentralistisch strukturiert. Seine mehr als 300 Niederlassungen im Bundesgebiet sind allesamt Zweigstellen des Verbandes, der nur an seinem Hauptsitz in Köln als eingetragener Verein existiert. Bei Bauvorhaben des VIKZ tritt daher rechtlich gesehen der Verband als Bauherr in Erscheinung und nicht die Ortsgemeinde. Demgegenüber ist die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V. (DITIB) dezentralistisch aufgebaut. Ihre mehr als 770 Ortsvereine sind alle rechtlich selbständig und haben eine Mitgliedschaft im Verband mit Sitz in Köln erworben. Demnach sind auch die jeweiligen DITIB-Vereine stets Träger ihrer örtlichen Bauvorhaben. Das Verhältnis des Ortsvereins zum Verband, wie es in den Satzungen zum Ausdruck kommt, ermöglicht der DITIB jedoch die Mitwirkung bei Bauvorhaben. Ihre Aufgabe besteht nämlich unter anderem darin, ihre Mitgliedsvereine bei der Schaffung religiöser Einrichtungen zu unterstützen. [Vgl. § 2 Abs. 1+2 der Vereinssatzung.]
Umgekehrt können die Mitgliedsvereine ihre Grundstücke dem Verband überschreiben, dem außerdem im Auflösungsfall das Vereinsvermögen zufällt. [Vgl. §§ 5+18 der Mustersatzung der DITIB-Vereine.]
Ungeachtet der Eigenständigkeit der Ortsvereine hat der Verband - und damit der türkische Staat - weitreichende Kompetenzen in ihren Angelegenheiten. Schwieriger sind die Verhältnisse hingegen beim zweitgrößten islamischen Verband in Deutschland, der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs e.V. (IGMG), zu beschreiben. Die Struktur der IGMG läßt sich als eine Kombination zentralistischer, dezentralistischer und föderativer Elemente beschreiben. Neben abhängigen Ortsvereinen gehören eigenständige Vereine und Föderationen auf Landesebene zur IGMG mit offiziellem Sitz in Bonn. Seit der Neuorganisation des Verbandes in den Jahren 1994/95 ist zudem die Europäische Moscheebau und -unterstützungs Gemeinschaft e.V. (EMUG) mit Sitz in Köln für die Verwaltung seiner zahlreichen Immobilien zuständig. Der insgesamt gesehen sehr komplizierte Aufbau der IGMG erlaubt daher keine grundsätzlichen Aussagen über die Zuständigkeit bei bestimmten Bauprojekten. Feststellen läßt sich allerdings eine direkte Zuständigkeit der Zentrale in Köln/Bonn bei allen Vereinen, die in ihrem Namen die Bezeichnung AMGT/IGMG-Ortsverein führen. [Die IGMG trug bis zur Neuorganisation von 1994/95 den Namen Vereinigung der neuen Weltsicht in Europa e.V. (AMGT). Die AMGT/IGMG-Ortsvereine sind in ihrer Eigenständigkeit erheblich eingeschränkt. So können ihre vom Vorstand des Verbands berufenen Vorstände bestimmte Rechtsgeschäfte nur mit dessen Zustimmung vornehmen. Vgl. § 11 der Mustersatzung der Ortsvereine.]

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Mittlerweile gibt es mancherorts Vereine, die keinem der großen islamischen Verbände angehören, sondern mit dem Anspruch auftreten, unabhängig zu sein. Dabei handelt es sich um Vereine, die sich entweder aus Angehörigen verschiedener Nationalitäten zusammensetzen oder die sich zur Verwirklichung ihrer Aufgaben bewußt außerhalb der Verbände stellen, um sich dadurch der Einflußnahme von Organisationen aus den Heimatländern zu entziehen. [Ein Beispiel dafür ist der 1997 gegründete Multinationale Bildungs- und Kulturverein e.V. (MBK), der sich um die Schaffung einer Moschee für die Muslime in Köln-Chorweiler bemüht. Der MBK ist durch eine eigene Website im Internet vertreten (http://members.aol.com/MBKeV/welcome.html).]
Diese Versuche haben nur dann Bestand, wenn es den Verantwortlichen gelingt, die religiösen Interessen der Mitglieder gegen die Konkurrenz der Verbände zu verwirklichen.

3.2.2 Standort und Genehmigungsverfahren

Das Bekanntwerden des Vorhabens, eine Moschee zu bauen, löst regelmäßig in der deutschen Öffentlichkeit einen Sturm des Protestes aus. Kaum eines der großen oder kleinen Moscheebauprojekte der letzten Jahre konnte ohne Auseinandersetzungen mit den unmittelbaren Nachbarn oder den zuständigen Stadtverwaltungen verwirklicht werden. [Dies zeigt sich sowohl bei den bereits verwirklichten Projekten in Pforzheim, Mannheim und Neuss als auch bei den Planungen in Köln-Chorweiler und Pulheim. Zu diesen Diskussionen: Huber-Rudolf 1996, S. 111-114.]
Das Hauptproblem ist dabei stets die Frage nach dem Standort des Projektes. Da bisher keine der islamischen Gemeinschaften in Deutschland den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erwerben konnte, besteht rechtlich kein Anspruch auf Errichtung von „heiligen Stätten". [„Rechtlich ist die Errichtung der ,heiligen Stätten’ Teil der Ausübung der Hoheitsgewalt der als Körperschaften anerkannten Religionsgemeinschaften" (Ebd., S. 111).]
Umgekehrt hat dies zur Folge, daß in den Bauleitplänen der Kommunen keine Flächen für die religiösen Bedürfnisse der Muslime ausgewiesen sind. [Nach § 1 Abs. 5 S. 2 Nr. 6 BauGB sind bei der Aufstellung der Bauleitpläne die Erfordernisse der Religionsgemeinschaften mit Körperschaftsrechten für Gottesdienst und Seelsorge zu berücksichtigen.]
Ungeachtet ihres Anteils an der Bevölkerung können die Bauleitpläne daher keine Standorte für Moscheen vorsehen. Dies hat unweigerlich zur Folge, daß sie meistens dort entstehen, wo sie eigentlich nicht vorgesehen sind, in Gewerbe- oder in Mischgebieten. Als Argumente gegen den Moscheebau dienen neben den baurechtlichen Bestimmungen vor allem befürchtete Verkehrsbehinderungen und Lärmimmissionen. [In Neuss-Derikum hatte sich die Auseinandersetzung um die dortige DITIB-Moschee an der Höhe des Minaretts zugespitzt. Anstelle der beantragten 24 Meter hatte das Bauamt der Stadt Neuss nur 16 Meter genehmigt, da ansonsten die Eintragung einer Baulast auf das Nachbargrundstück erforderlich gewesen wäre. Der Nachbar - Eigentümer eines Baumarkts - hatte dem jedoch nicht zugestimmt. Nachdem das Minarett dann doch in einer Höhe von 24 Metern ausgeführt worden war, mußte es auf Drängen der Stadtverwaltung abgebaut und an einer anderen Seite der Moschee wieder aufgebaut werden. Verkehrsbehinderungen können sich vor allem durch den Besucherstrom an Freitagen und während der Fastenzeit ergeben, für den oftmals nicht ausreichend Parkplätze zur Verfügung stehen. Bei den Lärmimmissionen ist nicht allein an die Störungen zu denken, die von der Moschee ausgehen, sondern auch an die, die sie von außen erreichen. So befürchten Betreiber von Handwerksbetrieben eine Einschränkung ihrer Tätigkeit im Hinblick auf die Störungen, die von ihren Betrieben für die Betenden ausgehen können.]
Diese Argumente treffen jedoch auch auf den Bau von Moscheen in reinen Wohngebieten zu, wo sich die Frage der Verkehrsbehinderungen und der Lärmimmissionen in noch viel größerem Umfang stellt.

Der Rückgriff auf das Grundrecht der freien Religionsausübung kann sich jedoch im Einzelfall begründet gegen diese Interessen durchsetzen. Das Bundesverwaltungsgericht hat mit einem Urteil vom 27. Februar 1992 eine Klage gegen den Bau einer Moschee in einem Wohn-

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gebiet beziehungsweise Mischgebiet abgewiesen. [Vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Februar 1992 - 4 C 50/89.] Gegen die Erteilung einer Baugenehmigung für eine Moschee mit einer Koranschule hatte der Eigentümer eines gegenüberliegenden Wohnhauses geklagt und sich dabei auf für ihn unzumutbare Belästigungen und Störungen berufen. In seiner Bewertung des Sachverhalts kam das Gericht zunächst zu dem Schluß, daß die zur Diskussion stehende religiöse Einrichtung in dem betreffenden Gebiet grundsätzlich zulässig ist. Hinsichtlich der befürchteten Beeinträchtigungen stellte es fest: „Nach der gesetzlichen Wertung haben die Nachbarn der in dem Baugebiet allgemein zulässigen kirchlichen Anlage die mit deren Benutzung üblicherweise verbundenen Beeinträchtigungen grundsätzlich hinzunehmen." [Ebd., S. 2171.] Die tatsächlich zu erwartenden Beeinträchtigungen - eine Störung der morgendlichen Ruhezeit vor 6.00 Uhr durch anfahrende Teilnehmer am islamischen Morgengebet - sind nach Auffassung des Gerichtes so geringfügig, daß eine Beschränkung der Religionsausübung durch das Versagen der Baugenehmigung demgegenüber unverhältnismäßig ist. Die Gewährleistung der Religionsfreiheit überwog demnach die geltend gemachten Interessen des Grundstücksnachbarn.

3.2.3 Minarett und öffentlicher Gebetsruf

Innerhalb des Problemfeldes des Moscheebaus stellt der vom Minarett öffentlich zu verkündende Gebetsruf eine besondere Frage dar, die in den letzten Jahren in verschiedenen Städten zu lebhaften Auseinandersetzungen geführt hat. Die Frage stellt sich immer wieder dann, wenn das zum Erscheinungsbild einer klassischen Moschee gehörende Minarett seiner eigentlichen Bestimmung zugeführt werden soll. [In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß zwar die meisten Moscheeneubauten mit einem Minarett ausgeführt werden, dieses aber in sehr vielen Fällen nicht genutzt wird, weil entweder keine Muslime in der Umgebung der Moschee wohnen oder man aus Rücksicht auf die Nachbarn auf den Gebetsruf verzichtet. Manche Träger erklären dies ausdrücklich bei Baubeginn oder bei der Inbetriebnahme der Moschee.]

Im Laufe des Jahres 1995 beantragten zwei islamische Gemeinden bei der Duisburger Stadtverwaltung die Genehmigung, den Gebetsruf verstärkt mit einer Lautsprecheranlage zu verkünden. Nachdem die Stadtverwaltung zunächst die Entscheidung hinausgezögert hatte und der Ausländerbeirat ein Jahr später das Begehren der Muslime unterstützte, kam es darüber zu einer heftigen öffentlichen Auseinandersetzung. Den Höhepunkt bildete eine Stellungnahme der Evangelischen Kirchengemeinde Duisburg-Laar vom 28. Oktober 1996, in der sie unter dem Titel Kein islamischer Gebetsruf über Lautsprecher! in einer hauptsächlich theologisch geführten Argumentation die Ablehnung des öffentlichen Gebetsrufes forderte. [Die Stellungnahme ist am 15. November 1996 als ganzseitige Anzeige in den lokalen Tageszeitungen erschienen.]
Auch wenn die Synode des zuständigen Kirchenkreises und einige Zeit später die beiden Landeskirchen im Rheinland und von Westfalen sich in aller Deutlichkeit von dieser Aktion distanzierten, [Vgl. Evangelische Kirche im Rheinland / Evangelische Kirche von Westfalen 1997.] so war die Auseinandersetzung darüber längst über Duisburg hinaus gegangen und der islamische Gebetsruf zum Gegenstand einer landesweiten Diskussion geworden. Selbst der Landtag von Nordrhein-Westfalen befaßte sich im Rahmen einer Kleinen Anfrage am 13. März 1997 mit der Angelegenheit. [Vgl. Landtag Nordrhein-Westfalen 1997.]

So bedauerlich die Auseinandersetzung als solche im einzelnen gewesen sein mag, hat sie doch letztlich wichtige Beiträge zur Diskussion und teilweisen Klärung des Sachverhalts lie-

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fern können. [Abgesehen von zahllosen Artikeln in der lokalen und überregionalen Presse seien allein die folgenden grundlegenden Beiträge genannt: Muckel 1997; Otting 1997; Völpel 1997; Kayser 1997. CIBEDO 4/1997 ist dem Thema gewidmet und enthält eine wertvolle Sammlung von Stellungnahmen und Materialien dazu.]
Vertreter der islamischen Spitzenverbände in Deutschland, Islamrat und Zen-tralrat, machten beispielsweise in ihren Stellungnahmen deutlich, daß der Gebetsruf wesentlich zum Ablauf des Gebetes dazu gehört. [In den Stellungnahmen heißt es wörtlich: „Für uns Muslime ist es selbstverständlich, daß der Gebetsruf des Muezzins unverzichtbarer Bestandteil unseres täglichen religiösen Lebens ist. ... Der Gebetsruf ist eine religiös verbindliche Aufforderung, an dem unmittelbar folgenden Gebet für Männer in der Moschee, für Frauen in ihren Häusern, teilzunehmen oder es selbst zu verrichten. Der Gebetsruf ist unverzichtbarer Bestandteil des Gebetes im Islam. Der Gebetsruf wird von einem Teil der religiösen Gelehrten als ,Sunna’ eingestuft" (Özdogan 1997). „Der Gebetsruf ist ein wichtiger Bestandteil der islamischen Gottesdienstlehre. ... In den islamischen Rechtsschulen gilt der Gebetsruf als ,obligatorische Pflicht’ oder zumindest als ,Bestandteil der prophetischen Tradition’" (Elyas 1998).]
Aufschlußreich ist auch eine Feststellung Amir Zaidans, wonach der Gebetsruf „eine ‚Sunna muakkada’, sowohl für den einzelnen Betenden, als auch beim Gebet in der Gemeinschaft" ist. Damit „wird eine Handlung bezeichnet, die der Gesandte Muhammad … meistens praktizierte, obwohl sie nicht vorgeschrieben ist. Wer sie nicht befolgt, sündigt nicht, wer sie aber praktiziert, wird dafür von Allah … belohnt." [Zaidan 1996, S. 54.]

Die Beantwortung der Kleinen Anfrage im Düsseldorfer Landtag offenbarte schließlich, daß bereits in verschiedenen Städten Nordrhein-Westfalens öffentlich zum Gebet gerufen werden kann. [Vgl. Landtag Nordrhein-Westfalen 1997, S. 3-5.]
Die jeweils mit den Stadtverwaltungen vereinbarten Regelungen wie auch die Reaktionen der Anwohner sind dabei sehr unterschiedlich. In Düren darf der Gebetsruf fünfmal täglich erschallen, in Bochum einmal täglich und in Bergkamen einmal wöchentlich. Während in Düren keine Proteste bekannt waren, lag der Stadtverwaltung von Bergkamen bereits eine Beschwerde vor.

Für eine einvernehmliche Regelung in der Angelegenheit sind die konkreten Verhältnisse im Umfeld der betreffenden Moschee maßgeblich. Der Standort der Moschee, die Häufigkeit des Gebetsrufes, seine Lautstärke und seine Akzeptanz durch die Anwohner sind Faktoren, die von Fall zu Fall zu bedenken sind und die an unterschiedlichen Orten zu verschiedenen Lösungen führen können.

In der rechtlichen Analyse der Frage spielt vor allem die Vergleichbarkeit des Gebetsrufes mit dem Glockenläuten eine wichtige Rolle. Martin Völpel fordert in seinem Gutachten für die Ausländerbeauftragte des Bundes, beides rechtlich gleich zu behandeln. [„Insgesamt ist eine weitgehende Gleichbehandlung des Gebetsrufes mit sakralem Glockengeläut angesagt" (Völpel 1997, S. 30).]
Stefan Muckel macht demgegenüber auf Unterschiede aufmerksam, die zu einer differenzierten Bewertung des Sachverhalts führen. [Vgl. Muckel 1997, S. 132-134.] Anders als Kirchenglocken fallen die Lautsprecheranlagen nicht unter die Kategorie der „res sacrae", sondern haben als technische Geräte einen anderen Charakter. [Diese Auffassung findet sich in einem Urteil des Verwaltungsgerichts Bayreuth bestätigt, das die Nutzung einer Lautsprecheranlage an einem Kirchturm zur Verkündigung religiöser Anlässe grundsätzlich anders bewertete als das Glockenläuten. Die in Frage stehende Lautsprecheranlage, die von der zuständigen Verwaltungsbehörde nicht genehmigt worden war, sei nur dann genehmigungsfähig, „wenn ihre Benutzung im konkreten Fall zur freien Religionsausübung unerläßlich ist" (VG Bayreuth, Urteil vom 20. Juli 1982 - B 3 K 81 A/467, S. 90).]
Während das Läuten selbst keinen Informationsgehalt besitzt, besteht der Gebetsruf in der Verkündigung des islamischen Glaubensbekenntnisses. Wesentlich ist jedoch, daß der Gebetsruf gegenüber dem Läuten immer und ausschließlich als Bestandteil des islamischen

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Pflichtgebetes eine religiöse Bedeutung hat, was für das Läuten nicht in dieser Ausschließlichkeit gilt. [„Das Glockenläuten ist also im Gegensatz zum Ruf des Muezzin ein an sich neutrales Geräusch, das verschiedene Funktionen haben kann. Wenn ihm auch meist religiöse Bedeutung zukommt, so darf doch nicht übersehen werden, daß es im Einzelfall eine andere, rein weltliche Bedeutung haben kann. Der muslimische Gebetsruf mag neben seiner religiösen Funktion zugleich anderen Zwecken dienen, etwa der Erhaltung einer muslimischen Identität, der Vermittlung eines Heimatgefühls für die Muslime. Der Gebetsruf kann aber ... nicht völlig von seiner spezifisch religiösen Funktion gelöst werden" (Muckel 1997, S. 133).]
Demnach sind beide Handlungen nur zu einem bestimmten Teil miteinander zu vergleichen. Die festgestellten Unterschiede lassen nach Muckel nur den folgenden Schluß zu: „Der muslimische Gebetsruf muß einer eigenständigen, vom kirchlichen Glockenläuten losgelösten rechtlichen Prüfung unterzogen werden." [Ebd., S. 134.]

Diese Prüfung hat dabei zunächst davon auszugehen, daß der islamische Gebetsruf als religiöse Handlung vom Schutz der Religionsfreiheit umfaßt ist. Seine Einschränkung läßt sich nur damit rechtfertigen, daß durch ihn andere Personen in ihren Grundrechten beeinträchtigt werden. Als konkurrierende Grundrechte kommen in diesem Fall die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG), die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 GG), das Eigentumsrecht (Art. 14 Abs. 1 GG) und die negative Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) in Frage. Darüber hinaus sind die möglichen Einschränkungen in Betracht zu ziehen, die sich aufgrund des Gesetzesvorbehalts aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 WRV im Hinblick auf das einfache Recht ergeben können. Da die Betreiber der Moscheen den Gebetsruf mittels einer Lautsprecheranlage verstärkt wiedergeben wollen, ist dabei an das Immissionsschutzrecht zu denken. Nach § 3 Abs. 1 BImSchG sind Behörden ermächtigt, den Betrieb von Anlagen zu regeln oder zu untersagen, „die nach Art, Ausmaß oder Dauer geeignet sind, Gefahren, erhebliche Nachteile oder erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft herbeizuführen". Die Richtwerte dafür unterscheiden sich nach der Art des betreffenden Gebietes, der Tageszeit und der Art des Geräusches. Ergänzend sind hierbei die landesrechtlichen Gesetze zum Immissionsschutz zu beachten. In Nordrhein-Westfalen sind beispielsweise in der Zeit von 22.00 bis 6.00 Uhr Störungen der Nachtruhe nach § 9 Abs. 1 LImSchG ver-boten. Geräte zur Schallerzeugung oder -wiedergabe dürfen außerdem nach § 10 Abs. 1 LImSchG in ihrer Lautstärke andere Personen nicht erheblich belästigen. Aber auch das Straßenverkehrsrecht ist geeignet, die Art und Weise des Gebetsrufes einzuschränken. So sieht § 33 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StVO ein Verbot von Lautsprecheranlagen vor, wenn sie zu einer Gefährdung oder Ablenkung von Verkehrsteilnehmern führen können. Dies könnte bei Moscheen der Fall sein, die in unmittelbarer Nähe einer dicht befahrenen Straße liegen. [In Dillenburg hatte das zuständige Landratsamt den Gebetsruf unter Berufung auf diese Regelung nicht gestattet.]
Die sich aus dem einfachen Recht ergebenden Behinderungen des Gebetsrufes sind auf ihre Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf das Grundrecht der Religionsfreiheit zu überprüfen. Im Einzelfall wird immer zu fragen sein, ob die konkreten Belange des Immissionsschutzes und des Straßenverkehrs so schwerwiegend sind, daß sie eine Beschränkung der Religionsfreiheit rechtfertigen. Diese Prüfung wird zu dem Ergebnis gelangen, daß es weder ein grundsätzliches Verbot noch eine prinzipielle Erlaubnis des Gebetsrufes geben kann. Über den Gebetsruf kann vielmehr nur im Einzelfall und unter Berücksichtigung aller Umstände und Voraussetzungen entschieden werden. Stefan Muckel kommt in seiner Bewertung der Frage zu folgendem Ergebnis: „Wenn der Gebetsruf niemanden in einem Maße stört, das immissionsschutzrechtlich relevant ist, und wenn zugleich der Straßenverkehr nicht gefährdet wird, haben die Behörden keine Handhabe, um gegen den Ruf vorzugehen. Das gleiche gilt, wenn der Gebetsruf zu bestimmten Tageszeiten, etwa vor dem Mittagsgebet, keinen einfach-rechtlichen Beschränkungen unterliegt. Allein seine fremdländische Herkunft und das damit verbundene

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Unbehagen mancher Zeitgenossen bieten keine zureichenden Gründe, um die Grundrechte der Muslime aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG einzuschränken." [Muckel 1997, S. 141.]

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3.3 Beten und Fasten an der Ausbildungs- oder Arbeitsstätte

Weit weniger spektakulär lassen sich Angelegenheiten individueller Religionsausübung ge-stalten, wozu vor allem das Pflichtgebet und das Fasten gehören. Das islamische Recht setzt zwar für den Vollzug dieser beiden religiösen Grundpflichten präzise Bedingungen voraus, läßt aber gleichzeitig eine gewisse Flexibilität zu und erlaubt bestimmte Ausnahmen. Das tägliche Pflichtgebet hat innerhalb bestimmter Zeitabschnitte stattzufinden, was dem einzelnen Muslim einen flexiblen Umgang erlaubt. Wenn man sich auf Reisen befindet, darf man die Gebete verkürzen, und wenn man keine Gelegenheit hat, kann man zwei Pflichtgebete zusammenlegen. [Amir Zaidan sieht die Möglichkeit des Zusammenlegens von Pflichtgebeten (Dscham’) besonders für Muslime im Ausland gegeben: „In nichtislamischen Ländern kann Dscham’ erlaubt werden, wenn keine Möglichkeit zum rechtzeitigen Verrichten des Gebets am Arbeitsplatz, Studienplatz usw. besteht. Voraussetzung ist jedoch, daß man sich ernsthaft bemüht hat, eine Möglichkeit zum Beten zu finden" (Ders. 1996, S. 93).]
Schließlich darf man versäumte Gebete nachholen. Wie beim Beten gibt es auch beim Fasten eine Reihe von Erleichterungen oder die Möglichkeit, versäumtes Fasten nachzuholen. Diese Regelungen des islamischen Rechts gestatten dem einzelnen Muslim, sich in diesen wichtigen Aspekten seiner Religionsausübung in erheblichem Umfang auch in Deutschland zurecht zu finden. Hinzu kommt, daß man Muslimen in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen auch Erleichterungen eingeräumt hat, damit sie ihren religiösen Verpflichtungen besser nachkommen können. Wie die Bundesbahndirektion Hannover bereits in den sechziger Jahren sogenannte „rollende Moscheen" für türkische Bahnarbeiter in Eisenbahnwagen einrichtete, [Vgl. Abdullah 1981, S. 74.] so haben einige große Industriebetriebe für ihre türkischen Arbeitnehmer Gebetsräume auf dem Werksgelände zur Verfügung gestellt. Die Muslime haben ihrerseits viele Anstrengungen unternommen, um die Bedingungen ihrer Religionsausübung zu verbessern. An vielen Hochschulen und Universitäten beispielsweise setzten sich islamische Studentengruppen erfolgreich für die Schaffung von Gebetsstätten ein.

Trotz der gut gemeinten Bemühungen von beiden Seiten lassen sich nicht immer alle Fragen individueller Religionsausübung einvernehmlich lösen. Der Ernstfall tritt immer dann ein, wenn die Regelungen des islamischen Rechts nicht ausreichen, um die Erfüllung der religiösen Verpflichtungen an der Arbeits- oder Ausbildungsstätte zu gewährleisten. Dies kann dann sein, wenn der einzelne Muslim die Anwendung der Erleichterungen des islamischen Rechts in seiner Situation für nicht gegeben sieht oder wenn die Arbeitsbedingungen ihm trotz allem keine Möglichkeit zum Beten oder Fasten lassen. Dies führt entweder zum Gewissenskonflikt oder zur Auseinandersetzung mit dem Arbeitgeber.

Aus der Rechtsprechung ist bisher ein einziger Fall bekannt geworden, in dem das Landesarbeitsgericht Düsseldorf sich mit der Frage zu befassen hatte. [Vgl. LAG Düsseldorf, Urteil vom 9. August 1985 – 4 Sa 654/85.]
Ein Arbeitgeber hatte seinem Mitarbeiter gekündigt, weil dieser trotz mehrmaliger Abmahnung während der Arbeitszeit seinen Arbeitsplatz zum Beten verlassen hatte. Als Grund hatte er die entstehenden Arbeitsausfälle geltend gemacht und ferner erklärt, daß eine individuelle Ausnahmeregelung eine Signalwirkung auf die anderen muslimischen Arbeitskräfte ausüben werde. Der muslimische Arbeitnehmer hatte demgegenüber an seiner Verpflichtung zum Beten während der vorgeschriebenen Zeiten festgehalten. Durch Urteil vom 9. August 1985 gab das Gericht der Klage

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des Muslims statt und verpflichtete den Beklagten zu dessen Weiterbeschäftigung. [„Der Kläger ist berechtigt, während der allgemeinen Arbeitszeit die ihm nach seinem Glauben obliegenden Gebete zu verrichten" (Ebd., S. 7 des Urteilsumdrucks).]
In seiner Bewertung des Zusammenhangs gelangte es zu der Auffassung, daß durch die Vereinbarung besonderer Arbeitszeiten eine innerbetriebliche Regelung zur Lösung des Gewissenskonflikts gefunden werden könne. Da das Verhalten des klagenden Muslims keine Nachahmung durch andere muslimische Arbeitnehmer gefunden hatte, seien zudem keine erheblichen Arbeitsausfälle zu erwarten. Somit rechtfertige das Grundrecht der Religionsfreiheit in diesem Fall eine Einschränkung der Arbeitspflicht.

Eine noch weitergehende Einschränkung ihrer religiösen Verpflichtungen droht den Muslimen, die zur Bundeswehr eingezogen werden, sofern diese nicht besondere Vorkehrungen ergreift. Die Tatsache, daß es immer mehr Muslime mit deutscher Staatsangehörigkeit gibt, wird eine Zunahme muslimischer Wehrpflichtiger in der Bundeswehr zur Folge haben. Da ihre Zahl bisher noch zu gering ist, liegen weder auswertbare Daten noch Konzepte zur Verbesserung ihrer religiösen Situation vor. [Nach Angaben des Bundesinnenministeriums hatte die Bundeswehr 1999 ungefähr 1.100 Soldaten muslimischen Glaubens.]
Die Forderung nach einer regulären Militärseelsorge läßt sich aus diesen wie aus formellen Gründen derzeit nicht realisieren. [Vgl. Wagner 1994; Der Spiegel 27/1998.] Mit einem Urteil des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 26. Januar 1994, das sich mit dem Antrag eines muslimischen Wehrpflichtigen auf Zurückstellung vom Wehrdienst wegen islamischer Glaubenszugehörigkeit zu befassen hatte, liegt ein wichtiger Beitrag zur Klärung des Sachverhalts vor. [Vgl. VG Hamburg, Urteil vom 26. Januar 1994 – 3 W 2411/93.]
Der Muslim hatte seine Klage unter anderem mit der drohenden Nichterfüllung seiner religiösen Verpflichtungen durch den Wehrdienst begründet. Das Gericht sah diese Gefahr nur dann gegeben, wenn er gezwungen wäre, „aufgrund der Struktur des Wehrdienstes seinen religiösen Verpflichtungen notwendigerweise zuwiderzuhandeln" [Ebd., S. 817.].
Wenn die Bundeswehr ihm jedoch durch organisatorische Maßnahmen hilft, seinen religiösen Verpflichtungen nachzukommen, und er diese umgekehrt den Bedingungen des Wehrdienstes im Rahmen des Möglichen anpassen kann, läßt sich der drohende Konflikt lösen, ohne daß eine Zurückstellung vom Wehrdienst in Frage kommt. Das Gericht hat sich nicht mit dieser allgemeinen Bewertung begnügt, sondern vielmehr seinen Ansatz auf verschiedene Fragen islamischer Religionsausübung übertragen und kam zu dem Ergebnis, daß seiner Auffassung nach die Einhaltung der Speise- und Reinheitsvorschriften sowie der Verpflichtung zum Beten und Fasten in der Bundeswehr möglich sei. Wichtig war dabei die Feststellung, daß die Bundeswehr ihrerseits verpflichtet ist, dem muslimischen Soldaten durch organisatorische Maßnahmen die ungestörte Religionsausübung zu ermöglichen.

Im Zusammenhang des Fastens taucht alljährlich die Frage nach Beginn und Ende der Fastenzeit auf. Das Problem entsteht durch unterschiedliche Verfahren zur genauen Feststellung des entsprechenden Mondmonats, was zu voneinander abweichenden Terminen führt. [Vgl. Say 1993.] Zur Klärung dieser Frage hat der Zentralrat der Muslime in Deutschland e.V. (ZMD) vor einigen Jahren den Deutschen Islamwissenschaftlichen Ausschuß der Neumonde (DIWAN) ins Leben gerufen. Hierbei handelt es sich um ein Gremium islamischer Gelehrter verschiedener Organisationen, die alljährlich die Daten der islamische Feiertage ermitteln und bekannt machen. Die Veröffentlichung dieser Angaben dient einerseits der Vereinheitlichung der religiösen Praxis unter den Muslimen und andererseits der Information der nichtislamischen Öffentlichkeit dar-

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über, womit ein wichtiger Beitrag zum Verständnis dieser Frage islamischer Religionsausübung geleistet werden kann.

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3.4 Islamische Feste als gesetzlich anerkannte Feiertage?

In den Zusammenhang der Religionsausübung gehören auch die beiden großen islamischen Feste – das Fest des Fastenbrechens (Id-ul-Fitr) und das Opferfest (Id-ul-Adha) – sowie die sonstigen festlichen Anläße im Verlauf des Jahres. Während die beiden bedeutenden islamischen Feste beispielsweise in Spanien gesetzlich anerkannt sind, [Die Grundlage dafür bietet ein Kooperationsabkommen zwischen dem spanischen Staat und der Islamischen Kommission Spaniens vom 28. April 1992.] ist dies in Deutschland nicht der Fall. Wenn Muslime diese Tage durch die Teilnahme an den Festtagsgebeten – wozu sie verpflichtet sind – oder den Besuch von Verwandten und Freunden feierlich begehen möchten, müssen sie sich in ihrem Arbeitsalltag entsprechend einrichten. Das hat zur Folge, daß viele von ihnen sich zum Fest des Fastenbrechens und zum Opferfest einen oder mehrere Urlaubstage nehmen oder durch das Abfeiern von Überstunden Freizeit zum Feiern gewinnen. Probleme können dort entstehen, wo die Arbeitsbedingungen dies nicht zulassen oder wo eine Befreiung nur schwer möglich ist. Nach § 616 BGB hat ein Arbeitnehmer einen Anspruch auf bezahlte Freistellung von der Arbeit, wenn ihm nicht zuzumuten ist, seine Arbeitsleistung zu erbringen, weil er seine religiösen Pflichten nur während der Arbeitszeit erfüllen kann. Dabei sind jedoch auch die Belange des Arbeitgebers zu berücksichtigen, der die Störung des Betriebsablaufs zu seinen Gunsten geltend machen kann. Diese Abwägung kann zu dem Ergebnis gelangen, daß kein Anspruch auf Freistellung besteht, wenn dies eine unzumutbare Beeinträchtigung des Betriebsablaufs mit sich bringt. In diesem Fall kann jedoch eine unbezahlte Freistellung von der Arbeit zur Wahrnehmung der religiösen Verpflichtung in Betracht kommen. Daneben ist auch an eine innerbetriebliche Regelung der Frage zu denken. Damit sind einem islamischen Arbeitnehmer oder Angestellten Möglichkeiten zur Teilnahme an den für ihn verpflichtenden Festtagsgebeten gegeben. [Nach Amir Zaidan bestehen folgende Regelungen hinsichtlich der Gebetszeiten: „Am Id-ul-Fitr beginnt die Zeit des Festgebets … wenn die Sonne sechs Meter über dem Horizont steht und dauert bis zum Mittag. Am Id-ul-Adha beginnt die Zeit des Festgebets, wenn die Sonne drei Meter über dem Horizont steht und dauert bis zum Mittag" (Ders. 1996, S. 85).]

Im Bereich der öffentlichen Schulen sind in den alten Bundesländern Regelungen getroffen, die islamischen Schülern grundsätzlich oder auf Antrag der Eltern eine Befreiung vom Unterricht für einen oder zwei Tage bei beiden Festen gewähren. [Laut Mitteilung des Bundesministeriums des Innern haben die Kultusministerien aller alten Bundesländer entsprechende Regelungen erlassen. Die Daten der islamischen Festtage werden mitunter in den Amtsblättern veröffentlicht.]

Wenn gegenwärtig auch keine gesetzliche Anerkennung der islamischen Feste in Sicht ist, so läßt sich doch durch eine Reihe von Maßnahmen deren gesellschaftliche Akzeptanz erreichen. Hierzu gehören unter anderem die Grußworte politischer, gesellschaftlicher oder kirchlicher Spitzenvertreter an Muslime und ihre Gemeinschaften anläßlich der Feste. So wendet sich beispielsweise der Päpstliche Rat für den Interreligiösen Dialog in Rom seit 1968 jährlich mit einer Botschaft zum Ramadanende an die Muslime. [Vgl. Michel 1994.] Dieses Beispiel hat nicht nur Nachahmung durch die Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland gefunden, sondern seit 1997 auch durch den Bundespräsidenten. Während der Fastenzeit sprechen zudem zahlreiche Moscheen Einladungen zum gemeinsa-

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men Fastenbrechen aus, die üblicherweise auch an die politischen und kirchlichen Vertreter im Umfeld der Moschee ergehen. Jedoch auch die Medien können durch eine positive Berichterstattung einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des religiösen Lebens der Muslime leisten. Als Beispiel sei nur erwähnt, daß der amerikanische Fernsehsender CNN während des Pilgermonats live von den verschiedenen Stationen der Pilgerfahrt berichtet und dadurch einen authentischen Eindruck des Geschehens vermittelt.

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3.5 Namensgebung und Namensänderung beim Übertritt zum Islam

Der Name einer Person ist in der islamischen Welt von großer Bedeutung, wie sich aus dem folgenden Ausspruch des Propheten Muhammad erschließen läßt: „Am Tag des Jüngsten Gerichts werdet ihr bei euren Namen gerufen werden und bei denen eurer Väter. Wählt daher schöne Namen aus." [Zum Thema: Heine 1994, S. 67-81; Schimmel 1993.]
Viele der Namen, die Muslime ihren Kindern geben, haben einen direkten religiösen Bezug, indem sie sich auf Personen aus der Frühzeit des Islams beziehen oder in Verbindung mit dem Gottesnamen stehen. Die Namensgebung eines Kindes erfolgt in der Regel sechs oder sieben Tage nach der Geburt. Dabei ergeben sich in Deutschland kaum Probleme bei der Eintragung der Vornamen ins Stammbuch. [Peter Heine berichtet hingegen vom Fall eines Muslims, der seinen beiden Töchtern zusätzlich zu ihren Vornamen – entsprechend einer verbreiteten Praxis – seinen eigenen Vornamen geben wollte. Das zuständige Standesamt lehnte dieses Ansinnen damit ab, daß sich der Vorname eindeutig auf das Geschlecht des Kindes beziehen muß (Ders. 1994, S. 80f).]

Die Frage des Namens wird dann zu einem Problem, wenn es sich um eine Namensänderung beim Übertritt zum Islam handelt. Viele zum Islam konvertierte Deutsche möchten ihre neue religiöse Identität durch einen islamischen Namen unterstreichen, den sie zusätzlich zu ihrem bürgerlichen Vornamen oder an dessen Stelle führen möchten. Eine Namensänderung ist nach § 3 Abs. 1 NÄG dann gerechtfertigt, wenn die Belange, einen Namen zu ändern, schwerer wiegen als diejenigen, die für seine Beibehaltung sprechen. In der Bewertung liegt jedoch ein erheblicher Unterschied zwischen der Frage des Vor- und des Nachnamens, insofern das öffentliche Interesse an der Beibehaltung eines Nachnamens zum Zwecke der Identifikation höher ist als beim Vornamen. Bei Namensänderungen ist ferner zu unterscheiden, ob man dem bisherigen Namen einen weiteren hinzufügen möchte oder ob man ihn durch einen anderen zu ersetzen gedenkt. Diese gesetzlichen Voraussetzungen sind im Falle der Namensänderung einer Person nach dem erfolgten Übertritt zum Islam zu berücksichtigen. Das Interesse des Konvertiten an einem religiös begründeten Namen muß sich daher mit dem öffentlichen Interesse an der Beibehaltung des Namens messen. In der Frage sind mittlerweile zwei richterliche Entscheidungen bekannt geworden.

Das Verwaltungsgericht Koblenz hat mit Urteil vom 27. Oktober 1992 die Klage eines deutschen Muslims abgewiesen, seinen bisherigen Vornamen „Dirk Olaf" durch „Abdul-Faruk Cetin" zu ersetzen. [Vgl. VG Koblenz, Urteil vom 27. Oktober 1992 – 2 K 2499/91 Ko.]
Im Hinblick auf die Identifizierung des Klägers, gelangte es zu der Überzeugung, daß das öffentliche Interesse an der Beibehaltung seines Vornamens mehr Gewicht hat als der religiös motivierte Wunsch der Namensänderung. Da der Kläger durch den Fortbestand seines alten Namens nicht erkennbar in seiner Religionsfreiheit beeinträchtigt sei, sah das Gericht keinen Anspruch auf Namensänderung gegeben.

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Demgegenüber hat der Verwaltungsgerichtshof München durch Urteil vom 3. Juni 1992 der Klage eines deutschen Muslims auf Hinzufügung des Vornamens „Abdulhamid" zum bisherigen Vornamen „Andreas" stattgegeben. [Vgl. VGH München, Urteil vom 3. Juni 1992 – 5 B 92/162.]
In diesem Fall überwog das persönliche Interesse an der Namensänderung das öffentliche Interesse, weil infolge der Hinzufügung eines Vornamens die Identifizierung des Klägers nicht in Frage stand. Neben dem Übertritt zum Islam war für das Gericht ferner ausschlaggebend, daß der Kläger sein Begehren mit einer entsprechenden Lebensführung zusätzlich glaubhaft gemacht hatte. Der Rückgriff auf das Grundrecht der Religionsfreiheit rechtfertige daher eine Namensänderung.

Die Frage der Namensänderung ist vollkommen anders zu bewerten, wenn es darum geht, die bisherigen Namen formell zu behalten und islamische Namensbestandteile im Umgang mit Muslimen oder lediglich im privaten Bereich zu verwenden. Viele deutsche Muslime machen von dieser Möglichkeit Gebrauch, indem sie im religiösen Leben unter ihrem islamischen Namen bekannt sind und offiziell weiter ihren bürgerlichen Namen führen. In Dokumenten, die einen amtlichen Charakter haben, schreiben sie ihren Zweitnamen unter Hinzufügung des Kürzels „gen." zusätzlich zu ihrem eigentlichen Namen. [Der stellvertretende Vorsitzende des Zentralrates der Muslime in Deutschland, Mohammed Aman Hobohm, heißt mit bürgerlichem Namen Herbert Hobohm. Der Name des Leiters des Zentralinstituts Islam-Archiv-Deutschland e.V., Muhammad Salim Abdullah, soll Herbert Krahwinkel lauten.]

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3.6 Fragen der Beschneidung von Kindern

Die Beschneidung männlicher Kinder ist ein in der gesamten islamischen Welt verbreiteter Brauch, den auch die in Deutschland lebenden Muslime an ihren Söhnen vornehmen lassen. [Zum Thema: Clotter 1983; Aldeeb Abu-Sahlieh 1994.]
Gerade bei türkischen Muslimen kommt es häufig vor, daß sie zu diesem Zweck zu ihren Familienangehörigen in die Türkei reisen, um dort die Beschneidung des Sohnes im Kreis der Familie feierlich zu begehen. Aber auch in Deutschland lassen Muslime zunehmend Beschneidungen durchführen. Hierbei wenden sie sich weniger an entsprechende Spezialisten aus dem Umfeld der Landsleute, als mittlerweile vielmehr an fachkundige Chirurgen. Mancher türkische Arzt hat sich in Kenntnis dieser Praxis auf die Beschneidung von Jungen in Deutschland spezialisiert. In der Kostenfrage ist festzustellen, daß manche Krankenkassen dazu übergegangen sind, die Kosten für diesen medizinischen Eingriff auf Antrag zu übernehmen. Die Beschneidung ist auch im Fall der Konversion eines erwachsenen Mannes nach seinem Übertritt zum Islam vorzunehmen.

Unter Berufung auf fragwürdige Überlieferungen ist die Beschneidung von Mädchen in bestimmten Regionen der islamischen Welt als ein Relikt vorislamischer Zeit erhalten geblieben. [Vgl. Aldeeb Abu-Sahlieh 1994, Spuler-Stegemann 1997.] Sowohl in der Methode der Beschneidung als auch in ihrer Bewertung durch die Rechtsschulen lassen sich erhebliche Unterschiede feststellen. Mit der Migration der Muslime nach Europa ist diese Praxis auch dorthin gelangt. Aufgrund der unterschiedlichen Auffassungen zu dieser Frage läßt sich kein genaues Bild von ihrer Verbreitung machen. Allem Anschein nach kommen Fälle von Frauenbeschneidungen in Europa bei Einwanderern aus bestimmten Regionen (Ägypten, Sudan, Äthiopien, Somalia, Westafrika) häufig vor, während andere Muslime (Türkei, Bosnien-Herzegowina, Iran, Afghanistan) diesen Brauch weder kennen noch praktizieren. Das Phänomen ist ernst zu nehmen, nachdem immer wieder gravierende Fälle bekannt geworden sind. Ein französisches Gericht verurteilte Anfang 1999 eine Beschneiderin aus Mali zu acht Jahren Haftstrafe, weil sie 45 junge Mädchen in Frankreich

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beschnitten hatte. Aber auch die Eltern der Mädchen hatten sich vor Gericht wegen Beihilfe zu gefährlicher Körperverletzung zu verantworten. [Vgl. Wiegel 1999.] Es soll ferner vorkommen, daß saudische Familien die Beschneidung ihrer Töchter in westlichen Privatkliniken vornehmen lassen. [Vgl. Jamila-Zahra 1997, S. 22 Anm. 3.] Beim Landratsamt Marburg-Biedenkopf haben ausländische Sozialhilfeempfänger die Übernahme der Kosten für die Beschneidungen von Mädchen beantragt, was man dort grundsätzlich abgelehnt hat. [Vgl. Spuler-Stegemann 1997, S. 208.] Diese Beispiele verdeutlichen die Problematik und lassen vermuten, daß die Dunkelziffer erheblich höher liegt. Verschiedene Staaten, wie Großbritannien, Schweden und die Schweiz, haben die Mädchenbeschneidung durch entsprechende Gesetze unter Strafe gestellt. In Deutschland stellt sie als gefährliche oder schwere Körperverletzung eindeutig einen Straftatbestand dar, der Gefängnisstrafen zur Folge hat.

Hierzulande ist es bisher nicht zu einer nennenswerten öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Problem gekommen. Allerdings haben verschiedene Muslime dazu Stellung bezogen. In einem Rundbrief der Deutschen Muslim-Liga e.V. in Hamburg aus dem Jahre 1993 findet sich unter der Überschrift Beschneidung von Mädchen – eine Unsitte und im Islam verboten eine deutliche Distanzierung. [Vgl. Borek 1997, S. 105.] Der Verfasser des Beitrages weist darauf hin, daß es sich bei der Mädchenbeschneidung um einen Brauch aus vorislamischer Zeit handele, der weder auf den Koran noch auf die prophetische Überlieferung zurückzuführen sei. Dies zeige sich daran, daß sie in vielen Teilen der arabischen Welt unbekannt sei, während man sie in afrikanischen Ländern an Muslimen und Nichtmuslimen vollziehe. Die Beschneidung sei daher weder empfehlens- noch wünschenswert. Während sie in der einfachen Form lediglich einen geringfügigen Eingriff darstelle, fällt das Urteil über die sogenannte pharaonische Beschneidung vernichtend aus: „Sie ist eine schwere Verstümmelung und stellt somit eine körperliche Veränderung dar, die schwerste gesundheitliche Folgen haben kann. … Die pharaonische Art der Beschneidung verändert Gottes Schöpfung und ist deshalb absolut verboten." [Ebd.] Diese Auffassung vertritt auch der Vorsitzende des Zentralrates der Muslime in Deutschland e.V., Nadeem Elyas, in einem Interview vom 20. September 1995. [Vgl. Elyas 1995a.] Auch er bewertet die Frauenbeschneidung als vorislamische Tradition, die keine ausreichende Begründung im Koran und der prophetischen Überlieferung finde. Sie sei daher keine Pflicht und nach der Auffassung vieler Gelehrter nicht wünschenswert. [„Sie wird von diesen als einen Angriff gegen den Körper angesehen und als eine Körperverletzung ohne Nutzen kritisiert" (Ebd.).]
Die Abschaffung des Brauchs in vielen Teilen der islamischen Welt sei darauf zurückzuführen, daß der Prophet seine vier Töchter nicht beschneiden ließ.

Diesen Aussagen zufolge läßt sich der Brauch der Mädchenbeschneidung eindeutig nicht religiös begründen. Auf dem Hintergrund des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) bietet die deutsche Rechtsordnung keinen Spielraum, derartige Praktiken zu dulden.

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3.7 Islamisches im Konflikt mit zivilem Eherecht

Gerade im Bereich des islamischen Eherechts können verschiedene Konfliktfelder in Auseinandersetzung mit der deutschen Rechtsordnung hervortreten. [Zum islamischen Ehe- und Familienrecht: Dilger 1990, S. 66-76; Walther 1990, S. 392-399.]
Hierbei ist in erster Linie an die dem muslimischen Mann grundsätzlich mögliche Ehe mit bis zu vier Frauen gleichzeitig zu denken. In Deutschland steht allein die Ehe eines Mannes mit einer Frau unter dem besonderen Schutz des Grundgesetzes (Art. 6 Abs. 1), während die Mehrehe demgegenüber verboten ist und nach § 171 StGB eine Straftat darstellt. Dennoch kommt es vor, daß Muslime entsprechend den Bestimmungen des islamischen Rechts und des zivilen Rechts ihres Heimatlandes gleichzeitig mit mehr als einer Frau verheiratet sind. [In der islamischen Welt ist die Mehrehe allein in der Türkei und Tunesien verboten.]
Wenngleich sie damit noch keinen Straftatbestand erfüllen, da die Ehe nach ausländischem Recht geschlossen wurde, bleibt die ihnen erlaubte Mehrehe ohne Auswirkungen im deutschen Recht. Diese Auffassung findet ihre Bestätigung in zwei Gerichtsurteilen zu unterschiedlichen Angelegenheiten.

Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg lehnte die Klage eines Ägypters auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung für seine Zweitfrau unter anderem damit ab, daß sich dafür kein Anspruch in Folge einer Familienzusammenführung ergebe. [Vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 7. Juli 1992 – 7 L 3634/91.]
Das Finanzgericht Münster wies die Klage eines Marokkaners zurück, der in seiner Steuererklärung eine zweite Ehefrau steuerlich geltend machen wollte. [Vgl. FG Münster, Urteil vom 29. Dezember 1986 – III 6440/84.]
Diese Beispiele machen deutlich, daß eine nach islamischem Recht gültige Mehrehe in Deutschland nur in den Beziehungen der Muslime untereinander von Bedeutung sein kann. Diese Situation hat jedoch eine weitgehende Schutz- und Recht-losigkeit der zweiten, dritten oder vierten Ehefrau vor dem deutschen Recht zur Folge. Wenn die Ehe allein nach den Regeln des islamischen Rechts geschlossen wird, dann finden auch dessen Bestimmungen im Falle einer Scheidung Anwendung. Die Ehefrau ist damit zwar dem Mann nicht schutzlos ausgeliefert, sie genießt aber keinen Schutz nach dem deutschen Scheidungsrecht, was Konsequenzen in Unterhalts- und Sorgerechtsfragen zur Folge haben kann. Daraus ergibt sich folgerichtig, daß die von Muslimen mitunter geforderte Rechtsautonomie in ihren Ehe- und Familienangelegenheiten nicht denkbar ist, insofern sie damit den Schutz des deutschen Rechts außer Kraft setzen würde.

Eine vergleichbare Problematik entsteht auch bei den Ehen, die zwischen einem deutschen und einem ausländischen Partner nach ausländischem Recht geschlossen werden, weil dieses auch im Falle einer Trennung oder Scheidung zur Anwendung kommt. Das Eherecht vieler Länder der islamischen Welt basiert in seinen wesentlichen Teilen auf den Regelungen des islamischen Rechts, die in den entsprechenden Bestimmungen des zivilen Rechts eine Konkretisierung gefunden haben. Somit entsprechen viele Aspekte des ausländischen Eherechts, wie die Voraussetzungen zur Eheschließung, die Auswirkungen einer Ehe oder die Bedingungen der Scheidung, mehr oder weniger den Maßgaben des islamischen Rechts und sind bei der Eheschließung zu berücksichtigen. Die Ehe kommt nach islamischem Verständnis durch den Abschluß eines Ehevertrages zwischen den Ehepartnern zustande, dessen Ausführung sich nach dem jeweiligen zivilen Recht richtet. [Vgl. Rieck 1991, der eine Übersicht der notwendigen Inhalte eines islamischen Ehevertrages in den verschiedenen Staaten bietet. Weitergehende Informationen finden sich in den Merkblättern des Bundesverwaltungsamtes für Auslandtätige und Auswanderer zu einzelnen Ländern.]
Gegenstand des Vertrages können auch vorher vereinbarte Regelungen hinsichtlich einer weiteren Eheschließung oder einer eventuellen Scheidung sein, sofern sie nicht im Widerspruch zum geltenden Recht stehen. Wenn es nicht

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zu einer Eheschließung nach deutschem Recht kommt, bieten die Regelungen des Ehevertrages dem deutschen Ehepartner eine begrenzte Möglichkeit, auf die Gestaltung einer nach ausländischem Recht geschlossenen Ehe Einfluß zu nehmen. Gegenüber solchen Unwägbarkeiten ist demnach der Abschluß einer Ehe nach deutschem Recht vorzuziehen.

Die Türkei ist das einzige Land der islamischen Welt, das dem islamischen Ehe- und Familienrecht ausdrücklich keine Geltung zuspricht. Seit der Reform des Familienrechts von 1926 gilt dort ausschließlich ziviles Eherecht. Daher sind die allein nach islamischem Recht geschlossenen Ehen – sogenannte Imamehen – in der Türkei ungültig. Für türkische Muslime entsteht damit die widersprüchliche Situation, nach islamischem Recht gültig verheiratet zu sein, während die Ehe hingegen nach türkischem Recht ungültig ist. [Der türkische Staat ermöglicht den betroffenen Personen allerdings immer wieder eine Legalisierung der Verhältnisse, indem sie die Ehe und die daraus hervorgegangenen Kinder bis zu einem bestimmten Stichtag nachträglich beim zuständigen Standesamt registrieren lassen.]
Dieses Problem kann sich auch bei türkischen Muslimen in Deutschland auswirken. Das Oberverwaltungsgericht Koblenz entschied beispielsweise durch Urteil vom 5. Juli 1993, daß eine solche Imamehe nicht die Voraussetzungen zur Gewährung von Familienasyl nach § 26 Abs. 1 AsylVfG bietet. [Vgl. OVG Koblenz, Urteil vom 5. Juli 1993 – 13 A 10564/92.]
Weil sich das Personalstatut eines Flüchtlings nach Art. 12 Abs. 1 der Genfer Konvention nach dem Recht des Heimatlandes richtet und eine Imamehe nach türkischem Recht nicht gültig ist, mußte das Gericht zu diesem Urteil gelangen. [Daß es dennoch zur Gewährung des Asylrechts kam, hatte die betreffende Asylbewerberin dem Rechtsschutz aus dem früheren Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG zu verdanken, wonach sie bei drohender Verfolgung im Heimatland nicht abgeschoben werden dürfe. Diese Gefahr sah das Gericht auch im Falle ihrer gesetzlich nicht anerkannten Ehe als gegeben an.]

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3.8 Islamische Bestattungen in Deutschland

Die Notwendigkeit, verstorbene Muslime in Deutschland beizusetzen, hat in den vergangenen Jahren zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema geführt. [Dies zeigt sich an den vergleichsweise zahlreichen Beiträgen zum Thema: Höpp / Jonker 1996; Blach 1996; Kayser 1996; Beauftragter für Islam- und Ausländerfragen im Amt für Gemeindedienst der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers (AfG) 1997; Lemmen 1999a; Ders. 2000b.]
Als ein Ergebnis dieser Diskussion haben zahlreiche deutsche Kommunen auf ihren Friedhöfen mittlerweile islamische Grabfelder eingerichtet und entsprechende Vereinbarungen mit Vertretern der Muslime zur Durchführung islamischer Bestattungen getroffen. [Dem Verfasser sind islamische Grabfelder auf den Friedhöfen folgender Städte bekannt: Aachen; Ahlen; Alsdorf; Aldenhoven; Augsburg; Baunatal; Berlin; Bielefeld; Bochum; Bonn; Braunschweig; Bremen; Darmstadt; Delmenhorst; Dormagen; Dortmund; Düsseldorf; Duisburg; Eschborn; Essen; Esslingen am Neckar; Forchheim in Oberfranken; Frankfurt am Main; Freiburg im Breisgau; Gelsenkirchen; Gießen; Gladbeck; Hamburg; Hamm; Hannover; Heidelberg; Herzogenrath; Ibbenbüren; Kamp-Lintfort; Karlsruhe; Kassel; Kiel; Köln; Krefeld; Leipzig; Lübeck; Marburg; Mönchengladbach; Mülheim an der Ruhr; München; Münster; Neuss; Neu-Ulm; Neuwied; Nürnberg; Oldenburg; Osnabrück; Paderborn; Reutlingen; Rüsselsheim; Saarbrücken; Sankt Augustin; Schwerte; Sindelfingen; Solingen; Soltau; Stuttgart; Velbert; Wiesbaden; Witten; Würselen; Wuppertal.]
Die Erfüllung der islamischen Bestattungsvorschriften setzt zum einen die Ausweisung eines eigenen Grabfeldes und zum anderen die Absprache ergänzender Regelungen der Friedhofssatzung voraus. Für die Anlage des Grabfeldes ist die Ausrichtung nach Mekka erforderlich. Die Gräber müssen so ausgerichtet sein, daß der Tote auf seiner rechten Körperseite liegend nach Mekka blickt. Eine Unterteilung des Grabfeldes nach verschiedenen islamischen Richtungen und Nationalitäten oder nach Geschlechtern ist nicht erforderlich. Aus Platzgründen ist es hingegen sinnvoll, getrennte Grabstätten für Kinder und Erwachsene auszuweisen. Die rituellen Waschungen

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können die Muslime entweder in einem Waschraum auf dem Friedhof oder an einem anderen Ort vornehmen. [Manche Moscheen haben bereits zu diesem Zweck eigene Waschräume eingerichtet. Ansonsten ist an Waschräume im Krankenhaus oder beim Bestattungsunternehmen zu denken.]
Das Totengebet kann auf einem freien Platz auf dem Gelände des Fried-hofes oder der Moschee stattfinden. [Auf dem Bonner Nordfriedhof gibt es dazu einen Steintisch zur Aufbahrung des Toten.]
Entsprechend ihren Vorschriften nehmen die anwesenden Muslime danach die Beisetzung vor. Vorzugsweise tragen sie den Sarg auf ihren Schultern und lassen ihn mit Seilen in das Grab hinab. Auch das anschließende Verfüllen des Grabes gehört zu den Aufgaben der Trauergemeinde. Wie die Bestattung selbst, soll man auch das Grab ohne großen Aufwand und Schmuck gestalten. Die meisten Muslime begnügen sich daher mit der Aufstellung einer Holzstele oder eines Grabsteines am Grab ihrer Angehörigen. Der bisweilen verwahrloste Zustand vieler islamischer Grabstätten ist denn auch nicht als Zeichen der Vernachlässigung der Toten, sondern vielmehr als Ausdruck des Respekts vor ihrer Ruhe zu verstehen.

Diese Besonderheiten des islamischen Bestattungsrituals lassen sich weitgehend in Absprachen zwischen der Friedhofsverwaltung und Vertretern der Muslime einvernehmlich regeln und sollten Gegenstand einer gemeinsamen Vereinbarung werden. [Beispielhaft ist in dieser Hinsicht die Vereinbarung zwischen der Stadt Aachen und dem Islamischen Zentrum Aachen (Bilal-Moschee) e.V. vom 22. November 1979. In Alsdorf sind die abgesprochenen Richtlinien sogar Bestandteil der Friedhofssatzung geworden.]
Schwierigkeiten treten jedoch regelmäßig in zwei entscheidenden Einzelfragen auf.

Nach islamischer Vorstellung bestattet man einen verstorbenen Muslim nicht im Sarg, sondern in Leinentücher gewickelt. Die Stellungnahmen islamischer Gelehrter zur Frage lassen die Verwendung eines Sarges nur ausnahmsweise zu. [Vgl. Özcan 1994, S. 220; Elyas 1995b. In der Literatur taucht immer wieder die Behauptung auf, die Bestattung im Sarg sei durch eine Fatwa der Akademie für Islamisches Recht in Mekka sanktioniert worden (Jennerich 2000, S. 21). Diese Auffassung basiert im wesentlichen auf entsprechenden Angaben in verschiedenen Gutachten zum Thema (Abdullah 1992, S. 4; Ders. 1995, S. 3). Nach Aussage des Vorsitzenden des Zentralrates der Muslime in Deutschland e.V., Nadeem Elyas, besagt der arabische Originaltext der betreffenden Fatwa allerdings das genaue Gegenteil.]
Da die gesetzlichen Bestimmungen der Länder und die Friedhofssatzungen der Kommunen jedoch die Bestattung im Sarg vorschreiben, ist die Ausnahme in Deutschland zur Regel geworden. Nur einige wenige Städte sehen von dieser Vorschrift ab und lassen eine Bestattung ohne Sarg zu. [Dies ist gegenwärtig in Aachen, Aldenhoven, Bochum, Essen, Hamburg, Herzogenrath, Krefeld, Paderborn und Soltau der Fall.]

Noch schwieriger gestaltet sich die Lösung des Problems der Ruhefristen von Grabstätten. Während Muslime in der Regel von einer unbefristeten Grabruhe ausgehen, sind die Ruhezeiten in Deutschland grundsätzlich begrenzt. Nach Ablauf der Ruhefrist kann eine Grabstätte eingeebnet und wiederbelegt werden. Die 1995 angekündigte Einebnung von 277 Reihengräbern auf dem islamischen Grabfeld des Kölner Westfriedhofs machte die bislang nicht zur Kenntnis genommene Problematik offenkundig. Verschiedene Angehörige erreichten durch ihren Protest und die anschließende Klage beim Verwaltungsgericht Köln einen einstweiligen Verzicht der Stadt auf Durchführung der Maßnahme. [Vgl. Lemmen 1999a, S. 35f.] Das mit Spannung erwartete Urteil des Verwaltungsgerichts wird in der Bewertung der Angelegenheit auch für andere Kommunen richtungsweisend sein. Die bisherigen Stellungnahmen islamischer Gelehrter lassen eine wichtige Differenzierung in der Frage erkennen. [Vgl. Abdullah 1992, S. 4; Özcan 1994, S. 220; Abdullah 1995, S. 3; Elyas 1995b. Auch in dieser Frage begegnet uns unter Berufung auf die Gutachten Abdullahs in der Literatur die Auffassung, daß der „konservative islamische Anspruch auf ewiges Ruherecht … 1991 ebenfalls durch eine Fatwa liberalisiert" worden sei. „Sie besagt, daß Gräber nach einer Ruhefrist von 20 Jahren für eine Neubelegung eingeebnet werden dürfen" (Jennerich 2000, S. 21). Zu diesem Urteil kann man nur gelangen, wenn man verkennt, daß eine Fatwa eben kein reli giöses Dekret von allgemeiner Gültigkeit darstellt, sondern lediglich eine „Meinung zu einer Rechtsfrage" (Heine 1991a, S. 246). Sie gewinnt ihre Verbindlichkeit erst dadurch, daß der Fragesteller sie für sich akzeptiert. Wenn er jedoch nicht damit einverstanden ist, kann er sich mit der Frage an einen anderen Gelehrten (Mufti) seiner Wahl wenden. Nicht unerheblich sind in dem Zusammenhang die Gelehrsamkeit und Lebensführung des Muftis. Im Falle der besagten Fatwa aus Soest handelte es sich um den damaligen Shaikh ul-Islam des Islamrates für die Bundesrepublik Deutschland, Ali Yüksel, der von seinem Amt zurücktrat, um bei den türkischen Parlamentswahlen vom Dezember 1995 für die Wohlfahrtspartei zu kandidieren (Lemmen 1999b, S. 18 Anm. 36).]
Sie gehen davon aus, daß eine Einebnung

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und Wiederbelegung eines Grabes erfolgen darf, wenn sich keine sterblichen Überreste mehr darin befinden und die Notwendigkeit der Maßnahme gegeben ist. Die noch vorgefundenen Überreste sind tiefer oder an anderer Stelle zu bestatten, und das Grab darf nur der erneuten Bestattung eines Muslims dienen. Damit sind Voraussetzungen zur Lösung der Problematik im Rahmen des islamischen Rechts formuliert, die bei der Anlage islamischer Grabfelder Berücksichtigung finden können. Sowohl die Ausweisung von Wahlgräbern mit einer individuell verlängerbaren Ruhefrist, als auch die grundsätzliche Verlängerung der Ruhefrist von Reihengräbern kann diesen Erfordernissen genügen. [Vgl. Lemmen 2000b, S. 9.]

Da die vorgestellten Lösungen in der Frage der Bestattungsart und der Ruhefrist anscheinend jedoch nicht den religiösen Vorstellungen vieler Muslime entsprechen, verwundert es nicht, daß nach wie vor die meisten Verstorbenen ins Ausland überführt werden. Zu diesem Zweck haben die türkisch-islamischen Verbände in Deutschland Bestattungsfonds gegründet, die ihren Mitgliedern eine sowohl religiös ordnungsgemäße als auch kostengünstige Abwicklung der Angelegenheit anbieten. [Für die DITIB übernimmt die DITIB–Beerdigungs-Hilfe Köln e.V. diese Aufgabe und für die IGMG der Muslimische Sozialbund e.V. in Bonn. Über die Arbeitsweise der Bestattungsfonds informiert Karakasoglu 1996, S. 97-101.]

Im Zusammenhang islamischer Bestattungen in Deutschland liegen bereits einige Gerichtsurteile vor, die Rückschlüsse auf die Klärung anderer strittiger Punkte zulassen. So entschied das Verwaltungsgericht Berlin durch Urteil vom 3. November 1992, daß die Kosten der rituellen Waschung eines verstorbenen Sozialhilfeempfängers vom zuständigen Träger der Sozialhilfe zu übernehmen seien. [Vgl. VG Berlin, Urteil vom 3. November 1992 – 8 A 286/89.]
Nach Auffassung des Gerichts handele es sich dabei „um für die Bestattung gläubiger Muslime erforderliche Kosten" [Ebd. S. 617.], die das Sozialamt zu übernehmen habe, weil es auch entsprechende Gebühren bei christlichen Trauerfeiern bezahle. Die Erstattung von Überführungskosten verstorbener Muslime ist hingegen in zwei Fällen vor Gericht gescheitert. Das Oberverwaltungsgericht Münster lehnte eine darauf abzielende Klage mit Urteil vom 20. März 1991 ab, weil es im Fall einer Bestattung im Ausland keine örtliche Zuständigkeit des inländischen Trägers der Sozialhilfe anerkannte. [Vgl. OVG Münster, Urteil vom 20. März 1991 – 8 A 287/89.]
Dieser Auffassung hat sich das Oberverwaltungsgericht Hamburg nicht angeschlossen, indem es in seinem Urteil vom 21. Februar 1992 den Anspruch auf Erstattung von Überführungskosten eines verstorbenen Muslims nicht prinzipiell ablehnte. In dem betreffenden Fall sah es den Anspruch jedoch nicht gegeben, weil eine islamische Bestattung am Sterbeort möglich und auch nicht unüblich sei. [Vgl. OVG Hamburg, Urteil vom 21. Februar 1992 – Bf IV 44/90.]

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3.9 Probleme hinsichtlich der Speisevorschriften

3.9.1 Schlachten nach islamischem Ritus

Die Erfüllung der islamischen Schlachtvorschriften stellt in Deutschland regelmäßig ein Problem dar. Nach Auffassung aller Rechtsschulen hat das Schlachten durch Schächten zu erfolgen, wobei man dem Tier mit einem scharfen Gegenstand unter Anrufung des Namens Gottes die Kehle durchschneidet und das Blut auslaufen läßt. [Eine ausführliche Beschreibung des Vorgangs findet sich bei Karaman 1990, S. 38-42.]
Das Verfahren an sich ist zwar nicht verboten, doch verlangt § 4a Abs. 1 TierSchG eine vorherige Betäubung des Schlachttieres. Dies ist nach weit verbreiteter Meinung von Muslimen nicht zulässig, weil dabei ein vollständiges Ausbluten verhindert werde. Ferner befürchtet man, daß dadurch der Tod des Tieres bereits vor dem Schlachten eintrete. Beides – der Verzehr von Blut und von totem Fleisch – ist Muslimen jedoch strengstens untersagt. Die gesetzlichen Auflagen zum Schlachten stellen aus der Sicht vieler Muslime ein unüberwindbares Hindernis zur Erfüllung ihres Schlachtrituals dar, wie umgekehrt deren ständige Mißachtung ein beinahe öffentliches Ärgernis – nicht nur für Tierschützer – bedeutet. Seit langem sind daher vielfältige Anstrengungen zur Lösung des Problems festzustellen.

Bereits 1985 widmete Adel Thedor Khoury der Frage des Schlachtens in seinem Buch Islamische Minderheiten in der Diaspora eine ausführliche Darstellung. [Vgl. Khoury 1985, S. 90-98.]
Neben Stellungnahmen früherer Rechtsgelehrter, die sich mit den zu ihrer Zeit relevanten Einzelfragen auseinandersetzen, führt er auch Stellungnahmen zeitgenössischer Gelehrter auf, die moderne Methoden des Schlachtens und deren gesetzliche Grundlagen zum Gegenstand haben. Auch wenn sich keine vollkommen einhellige Meinung abzeichnet, so lassen einige Gutachten dennoch den Schluß zu, daß eine Betäubung vor dem Schlachten zulässig sei, wenn sie nicht zum Tod des Tieres führe.
[Die vier Gutachten (Ebd., S. 96-98) sind hinsichtlich der Betäubung folgenden Inhalts:

  1. Yusuf al-Qaradawi, dessen Werk über Erlaubtes und Verbotenes im Islam 1977 in der elften Auflage in Kairo erschienen ist, schreibt dazu: „Im Lichte dessen, was wir erwähnt haben, wissen wir, was wir vom Fleisch zu halten haben, das wir aus den Ländern der Schriftbesitzer importieren, wie die Geflügel und das Rindfleisch in Konserven. Es geht dabei um Tiere, die durch elektrischen Schock oder ähnliches geschlachtet werden. Solange sie dies als erlaubte Schlachtung ansehen, ist es uns, nach der allgemeinen Bestimmung des Koranverses (5,5) und nach der Meinung des Ibn al-`Arabi und der Rechtsgelehrten, die seine Meinung teilen, erlaubt" (S. 96).
  2. Differenzierter urteilt der Rektor der Al-Azhar in Kairo in einer Stellungnahme vom 25. Februar 1982. Demnach ist zu unterscheiden, ob das Schlachttier durch den Stromstoß getötet oder betäubt wird. Im erstem Fall sei der Verzehr des Fleisches verboten, da das Tier nach dem Eintritt des Todes geschlachtet wurde. Im zweiten Fall hingegen sei das Fleisch zum Verzehr erlaubt, wenn das Tier nach der Betäubung entsprechend geschlachtet wird (S. 97).
  3. Einem Artikel der in Islambad/Pakistan erscheinenden Zeitschrift Islamic Studies 21/Nr. 1 von 1982 zufolge, sei die Betäubung vor dem Schlachten nur in äußersten Notfällen erlaubt. Als Gründe dagegen führt der Verfasser an, daß die Elektrobetäubung die Verwesung beschleunige, den Geschmack beeinträchtige, Bluttropfen im Fleisch verursache und dem Tier zu großes Leiden zufüge. Die islamische Schlachtung hingegen sei der einzig wirksame Weg, daß das Blut dem Tier vollständig entzogen wird; und das ist wesentlich die Voraussetzung dafür, daß das Fleisch zum Essen verwendet werden kann (S. 97f.).
  4. Die Türkische Botschaft in Bonn hingegen hat einer Stellungnahme vom 29. Juli 1982 zufolge keine Bedenken gegen die Betäubung, wenn das Tier vor Eintritt des Todes geschlachtet wird. Zur Begründung heißt es: „Es ist auch eine Islamische Vorschrift, daß das Tier in schnellster und praktischer Art, ohne gequält zu werden, geschlachtet wird. Deswegen bestehen auch in religiöser Sicht keine Bedenken gegen Betäubung der Opfertiere durch Elektroschock" (S. 98).
Erschwerend kommt in der Diskussion hinzu, daß die Rechtsgelehrten zum Teil fälschlicherweise annehmen, die Schlachtungen der Christen entsprächen den eigenen rituellen Vorschriften.]
Ganz in diesem Sinne fand am 7. Mai 1993 auf einem Frankfurter Schlachthof

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die Vorführung eines Verfahrens zur Elektrokurzzeitbetäubung von Schlachttieren statt. In Anwesenheit von Vertretern islamischer Verbände wurden drei Versuchstiere betäubt, von denen sich zwei nach wenigen Minuten wieder aufrappelten, während man das dritte in betäubtem Zustand schächtete. [Vgl. Huber 1993.] Weder die Gutachten aus der islamischen Welt noch die Demonstration des Betäubungsverfahrens haben jedoch die Muslime in Deutschland gänzlich zu überzeugen vermocht. Vielmehr haben sie ihre abweichende Auffassung in der Angelegenheit um so deutlicher vorgetragen.

Der Zentralrat der Muslime in Deutschland e.V. (ZMD), als einer der beiden islamischen Spitzenorganisationen, ist 1994 aus einem Arbeitskreis hervorgegangen, zu dem sich 1988 Vertreter der wichtigsten islamischen Organisationen zusammengefunden hatten, um unter anderem in der Frage des Schlachtens nach islamischem Ritus eine gemeinsame Position gegenüber der Öffentlichkeit zu vertreten. [Vgl. Köhler 1996.] Dem Islamischen Arbeitskreis in Deutschland (IAK) gehörten neben den großen türkisch-islamischen Verbänden die Islamischen Zentren in Hamburg, Aachen und München sowie eine Reihe weiterer Organisationen an. In dieser Zusammensetzung konnte er mit Recht den Anspruch erheben, sowohl einen erheblichen Teil der in Deutschland lebenden Muslime als auch die Vielfalt der islamischen Gemeinschaften zu vertreten. Als Ergebnis der gemeinsamen Beratungen stellte er fest, „daß es die feste Glaubensüberzeugung der Muslime in Deutschland ist, daß das betäubungslose islamische Schlachten im Islam zwingend vorgeschrieben ist." [Ebd., S. 145.] Eine der Voraussetzungen sei es, die Schlachtung ohne vorherige Betäubung vorzunehmen. Im Hinblick auf anderslautende Rechtsgutachten heißt es, daß „die Muslime in Deutschland sich nicht an Gutachten oder Aussagen ausländischer Organisationen oder Institutionen gebunden fühlen" [Ebd., S. 146.]. Sofern andere islamische Organisationen sich ausdrücklich zur Frage geäußert haben, stimmen ihre Stellungnahmen weitgehend damit überein. [Die Darstellung der Grundlagen des Islam der Islamischen Religionsgemeinschaft Hessen e.V. (IRH) beispielsweise zählt „Fleisch, das nicht auf die rituell vorgeschriebene Art geschlachtet wurde", ausdrücklich zu den verbotenen Nahrungsmitteln (S. 23).]

Um nicht ständig gegen das Betäubungsgebot verstoßen zu müssen, haben die Muslime wiederholt eine Ausnahmegenehmigung beantragt und deren Erteilung gerichtlich einzuklagen versucht. [§ 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG sieht die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung vor, um „den Bedürfnissen von Angehörigen bestimmter Religionsgemeinschaften im Geltungsbereich des Tierschutzgesetzes zu entsprechen, denen zwingende Vorschriften ihrer Religionsgemeinschaft das Schächten vorschreiben oder den Genuß von Fleisch nicht geschächteter Tiere untersagen."]
Diese Bemühungen sind bisher jedoch weitgehend erfolglos geblieben. [Dem Verfasser sind folgende Entscheide bekannt: OLG Hamm, Beschluß vom 27. Februar 1992 - 1 Ss OWi 652/91; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 25. Mai 1992 - 7 K 5738/91; VG Koblenz, Urteil vom 16. März 1993 - 2 K 1874/92; VG Darmstadt, Urteil vom 9. September 1999 - 3 E 952/99; OVG Hamburg, Urteil vom 14. September 1992 - Bf III 42/90; OVG Münster, Urteil vom 21. Oktober 1993 - 20 A 3287/92; BVerwG, Urteil vom 15. Juni 1995 - 3 C 31/93.]
Selbst das Bundesverwaltungsgericht hat durch Urteil vom 15. Juni 1995 das Begehren eines klagenden Muslims abgewiesen. Wie auch andere Gerichte vor ihm, war es dabei der Auffassung, daß eine Ausnahme vom Betäubungsgebot nur dann statthaft sei, „wenn objektiv festgestellt wird, daß zwingende Vorschriften einer Religionsgemeinschaft den Genuß von Fleisch nicht geschächteter Tiere verbieten" [Ebd. S. 73.]. Eine zwingende Vorschrift dieser Art sah das Gericht

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in seiner Bewertung des Sachverhalts jedoch nicht gegeben. Die individuelle Überzeugung des Muslims selbst wiederum reiche dafür nicht aus. Ferner stellte das Gericht fest, daß das Betäubungsgebot den Kläger nicht in seiner Religionsfreiheit beeinträchtige, weil der Verzehr von Fleisch nicht geschächteter Tiere keinen Akt der Religionsausübung darstelle.

Im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht - wie auch an anderer Stelle - hatte sich der Kläger in seiner Begründung jeweils auf die zweite Alternative von § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG berufen, wonach der Genuß von Fleisch nicht geschächteter Tiere verboten sei. In einem Rechtsstreit vor dem Verwaltungsgericht Darmstadt stützte sich ein Kläger hingegen auf die erste Alternative zur Erteilung einer Ausnahmegenehmigung vom Betäubungsgebot. Er machte mit Erfolg geltend, daß seine Religion ihm das Schächten im Hinblick auf das bevorstehende Opferfest zwingend vorschreibe. [Vgl. VG Darmstadt, Urteil vom 9. September 1999 - 3 E 952/99. Diese Begründung war auch vor dem Bundesverwaltungsgericht nachträglich geltend gemacht worden. Während die ursprüngliche Begründung auf eine generelle Ausnahmegenehmigung gerichtet war, hatte das zusätzliche Argument eine Ausnahme für bestimmte Anlässe zum Ziel. Das Gericht sah darin eine Klageänderung und wies das Begehren auf Berücksichtigung der ersten Alternative für eine Ausnahmegenehmigung als unzulässig zurück.]
Durch Urteil vom 9. September 1999 stellte das Gericht fest, daß es sich bei der Islamischen Religionsgemeinschaft Hessen e.V. (IRH) um eine Religionsgemeinschaft im Sinne von § 4a TierSchG handele. Der Gutachterrat der IRH hatte in einem Gutachten vom Mai 1999 das Schächten eines Opfertieres anläßlich des Opferfestes für religiös vorgeschrieben erklärt. Da der Kläger sich als Mitglied der IRH diese Auffassung zu eigen machte, sah das Gericht die Voraussetzung zur Erteilung einer Ausnahmegenehmigung vom Betäubungsgebot für gegeben.

Die Freude über diesen einmaligen Erfolg vor Gericht währte allerdings nicht lange. Nachdem das Verwaltungsgericht Darmstadt im folgenden Jahr zunächst der Klage eines Muslims erneut stattgegeben hatte, widerrief der Verwaltungsgerichtshof Kassel diese Entscheidung. Zwar ging auch er davon aus, daß es sich bei der IRH um eine Religionsgemeinschaft handele, hatte jedoch Zweifel daran, daß das Schächten eine religiöse Pflicht sei. Gegen dieses Urteil hat die IRH mittlerweile Beschwerde eingelegt. [Vgl. Freitagsblatt 4/2000. Wie nach Abschluß des Manuskripts bekannt wurde, hat das Bundesverwaltungsgericht durch Urteil vom 23. November 2000 die Entscheidung des Verwaltungsgerichtes Darmstadt vom 9. September 1999 aufgehoben. Es befand, daß die Mitgliedschaft in der IRH nicht die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung in besagtem Fall rechtfertige (BVerwG, Urteil vom 23. November 2000 – 3 C 40/99).]
Bis zur endgültigen Entscheidung werden daher weiterhin unter teilweise bizarren Bedingungen Schlachtungen nach islamischem Ritus illegal durchgeführt werden.

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3.9.2 Sonstige Fragen

Die islamischen Speisevorschriften lassen sich jedoch nicht auf das Verfahren zur Fleischgewinnung beschränken, sondern beinhalten eine Reihe weiterer Regelungen. Als wichtigste sind das koranische Verbot von Schweinefleisch, Blut und Alkohol zu nennen, wobei diese Verbote in einem extensiven Sinne zu verstehen sind. Sie umfassen sowohl alle Nahrungsmittel, zu deren Herstellung vom Schwein stammende Bestandteile dienen, als auch alle alkoholhaltigen Getränke und Speisen. Darunter fallen auch Nahrungsmittel mit sehr geringen Alkoholzusätzen oder Zusatzstoffen, die vom Schwein gewonnen wurden. Unter manchen Muslimen sind daher Listen verbreitet, die genaue Auskunft darüber vermitteln, welche dieser unzulässigen Substanzen in welchen Nahrungsmitteln enthalten sind. In der Bewertung dieser Fragen sind jedoch durchaus unterschiedliche Standpunkte auszumachen. Während einige Muslime den Verzehr von mit Gelatine hergestellten Nahrungsmitteln prinzipiell ablehnen, halten andere sie für erlaubt, weil der ursprünglich verbotene Ausgangsstoff durch eine chemische

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Umwandlung zu einer neuen Substanz wurde. Ebenfalls halten sie Alkoholzusätze in Nahrungsmitteln dann für erlaubt, wenn diese nicht zu einer berauschenden Wirkung führen, sondern einen grundsätzlich anderen Zweck erfüllen. [Vgl. Borek 1997, S. 148-151.]

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3.10 Bekleidungsvorschriften in ihren Auswirkungen für Frauen

3.10.1. Befreiung muslimischer Mädchen vom koedukativ erteilten Sportunterricht

Das Verhältnis der Angehörigen beider Geschlechter zueinander hat sehr weitreichende Bekleidungsvorschriften im Islam hervorgebracht. Im Umgang untereinander oder im persönlichen Bereich können Muslime weitgehend diese Verhaltensvorschriften einhalten. Außerhalb von Familie und Moschee sind Probleme in den Bereichen vorprogrammiert, wo eine Begegnung von Männern und Frauen unvermeidbar ist. Für muslimische Mädchen und Frauen können dabei aufgrund ihrer spezifischen Bekleidungsvorschriften mehr Konfliktfelder entstehen, als das bei muslimischen Jungen und Männern der Fall ist. Ein besonderes Konfliktpotential besitzt dabei die Teilnahme am koedukativ erteilten Sportunterricht. Das Tragen des Kopftuchs verdeutlicht, daß ein Mädchen oder eine Frau die islamischen Maßgaben im Umgang der Geschlechter für verbindlich hält. Über das Kopftuch hinaus gehören dazu eine weitgeschnittene Bekleidung sowie das Vermeiden direkter körperlicher Kontakte mit Angehörigen des anderen Geschlechts. Während diese Vorschriften in der Schule weitestgehend Beachtung finden können, treten die Probleme im Sportunterricht besonders deutlich zum Vorschein. Wie die Teilnahme an diesem Fach eine besondere Sportkleidung und damit das Ablegen des Kopftuchs verlangt, so sind genauso körperliche Kontakte mit Jungen unvermeidbar. Beides aber kann für ein muslimisches Mädchen eine unzumutbare Belastung darstellen, weil es sie unweigerlich in Konflikt mit ihren religiös begründeten Verhaltensvorstellungen bringt. [Da die Bekleidungs- und Verhaltensvorschriften für Angehörige beider Geschlechter gelten, kann ein muslimischer Junge aus denselben Gründen durch seine Teilnahme am Sportunterricht in einen Konflikt geraten. Das Bestehen eines derartigen Problems wird aber faktisch nur bei muslimischen Schülerinnen geltend gemacht und nur vergleichsweise selten auch bei Schülern. Darin zeigt sich, daß die religiös begründeten Verhaltensvorschriften zum Teil von kulturellen Vorstellungen überlagert werden und das dargestellte Problem im Fall weiblicher Familienangehöriger deutlicher empfunden wird.]
In der Vergangenheit haben daher muslimische Schülerinnen oder deren Erziehungsberechtigte immer wieder eine Befreiung vom koedukativ erteilten Sportunterricht beantragt und vor Gericht eingeklagt. Ein solcher Anspruch ist beim Schwimmunterricht im Hinblick auf die Bekleidung offenkundiger gegeben als beim Sportunterricht. [Vgl. VG Köln, Urteil vom 26. Juni 1990 - 10 K 2307/89.] Die Gerichte haben das Begehren auf Befreiung vom Sportunterricht in der Vergangenheit daher sehr unterschiedlich bewertet, bis das Bundesverwaltungsgericht in der Sache eine Entscheidung fällte. [Vgl. VG Freiburg, Urteil vom 10. November 1993 - 2 K 1739/92; OVG Münster, Urteil vom 15. November 1991 - 19 A 2198/91; OVG Bremen, Urteil vom 24. März 1992 - 1 BA 17/91; BVerwG, Urteil vom 25. August 1993 - 6 C 8/91; BVerwG, Urteil vom 25. August 1993 - 6 C 30/92.]
Durch Urteil vom 25. August 1993 erkannte das Gericht den Anspruch auf vollständige Befreiung vom Sportunterricht an, wenn er nicht getrennt nach Geschlechtern angeboten werden kann. Nach Auffassung des Gerichts kann die Teilnahme am gemeinsamen Sportunterricht zu einem Gewissenskonflikt führen, der allein durch einen nach Mädchen und Jungen getrennten Unterricht gelöst werden kann. Sollte diese Maßnahme in der Schule aus organisatorischen Gründen nicht durchgeführt werden können, bestehe ein Rechtsanspruch auf Befreiung. Ein solcher Anspruch ergebe sich durch Berufung auf die Religions- und Gewissensfreiheit. Um ihn geltend

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zu machen, könne sich die betreffende Schülerin jedoch nicht allgemein auf die islamischen Bekleidungsvorschriften beziehen, sondern sie habe vielmehr darzulegen, daß deren Nichtbeachtung sie unweigerlich in einen Gewissenskonflikt führt. [Die Urteilsbegründung führt dazu aus, daß „erst die konkrete, substantiierte und objektiv nachvollziehbare Darlegung eines Gewissenskonfliktes als Konsequenz aus dem Zwang, der eigenen Glaubensüberzeugung zuwiderzuhandeln, geeignet ist, einen möglichen Anspruch auf Befreiung von einer konkret entgegenstehenden, grundsätzlich für alle geltenden Pflicht unter der Voraussetzung zu begründen, daß der Zwang zur Befolgung dieser Pflicht die Glaubensfreiheit verletzen würde" (Ebd., S. 61).]
Während sie sich dem in anderen Situationen ihres Lebens durch ein entsprechendes Verhalten entziehen kann, sei dies im Fall des Sportunterrichts im Hinblick sowohl auf die Bekleidung als auch auf Kontakte mit Jungen nicht möglich. Andere Lösungen, wie eine Befreiung von einzelnen Übungen, das Tragen einer weit geschnittenen Sportkleidung oder einen Schulwechsel, hält das Gericht zur Vermeidung des Konfliktes für unangemessen. Da der schulische Erziehungsauftrag nicht grundsätzlich in Frage gestellt und eine Ausweitung auf andere Schulfächer nicht anzunehmen ist, sei allein eine Befreiung vom koedukativ erteilten Sportunterricht zur Lösung des Problems angemessen.

Damit hat das Bundesverwaltungsgericht eine wichtige Entscheidung getroffen, die unter Klärung der entsprechenden Voraussetzungen die Möglichkeit zur Befreiung muslimischer Mädchen vom Sportunterricht bietet. Dabei ist festzuhalten, daß es sich nicht um einen grundsätzlichen Anspruch handelt, sondern die Betroffenheit vielmehr im Einzelfall darzulegen ist. [Nach Wissen des Verfassers verfahren Schulen in der Klärung der Angelegenheit nach der Maßgabe des Bundesverwaltungsgerichts.]

3.10.2 Tragen des Kopftuchs in der Öffentlichkeit und am Arbeitsplatz

Anders als in der Türkei ist in Deutschland das Tragen eines Kopftuchs in der Öffentlichkeit keinen Beschränkungen unterworfen. [Aufgrund der laizistischen Gesetzgebung der türkischen Republik ist das Kopftuch zumindest offiziell aus dem öffentlichen Leben verbannt. An Schulen, Hochschulen, Universitäten und anderen öffentlichen Einrichtungen ist es nicht erlaubt. Eine Abgeordnete der islamistischen Tugendpartei ist am 2. Mai 1999 wegen ihres Kopftuches aus dem Plenarsaal des türkischen Parlaments verwiesen worden (Der Spiegel 22/1999).]
Vielmehr gehören die Kopftücher muslimischer Mädchen und Frauen längst zum Erscheinungsbild vieler Klassenräume, Hörsäle, Supermärkte oder öffentlicher Verkehrsmittel. Dennoch kann es in verschiedenen Bereichen des privaten oder öffentlichen Lebens zu Schwierigkeiten mit dem Kopftuch kommen. Islamische Organisationen wissen regelmäßig davon zu berichten, daß viele muslimische Mädchen wegen ihres Kopftuches Beeinträchtigungen an der Ausbildungs- oder Arbeitsstätte zu erdulden haben. [Im Freitagsblatt 8/1999 sind verschiedene Beispiele unter Nennung der Arbeitsstätte aufgelistet. Die Redaktion des Freitagsblattes hat auf diese Fälle mit einem Aufruf zum Boykott reagiert und die betreffenden Supermarktketten ausdrücklich genannt.]
Abgesehen von Fällen persönlicher Benachteiligung im Berufsleben, kann das Tragen des Kopftuches auch zu einem öffentlichen Streitfall werden.

Ein sensibler Bereich sind in diesem Zusammenhang die Bestimmungen des Paßrechtes. Sie besagen dazu, „daß das Lichtbild die abgebildete Person ohne Kopfbedeckung und im Halbprofil zu zeigen hat, so daß ein Ohr zu sehen ist" [Zitiert nach: VG Wiesbaden, Urteil vom 10. Juli 1984 - VI/I E 596/82, S. 136.].
Als Ausnahmen von der Regel sind Kranken- und Ordensschwestern ausdrücklich genannt, aber eben nicht Musliminnen. Aus diesem Grund kommt es immer wieder vor, daß Behörden die Ausstellung eines Ausweises verweigern, weil das vorgelegte Lichtbild die betreffende Person mit einem Kopftuch zeigt. Durch Urteil vom 10. Juli 1984 hat das Verwaltungsgericht Wiesbaden jedoch befunden, daß

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diese Verweigerung nicht rechtens sei, sondern unter Berufung auf die Religionsfreiheit vielmehr ein Rechtsanspruch auf die Ausstellung der Dokumente besteht, selbst wenn das dafür vorgesehene Lichtbild die betreffende Person mit Kopftuch zeige. [Vgl. ebd.] Das Gericht bewertete das Tragen des Kopftuches als Bestandteil der vom Grundgesetz geschützten Religionsfreiheit. Da die gesetzlichen Bestimmungen gewisse Ausnahmen hinsichtlich der Kopfbedeckung zulassen und die Identifikation der betreffenden Person dennoch möglich ist, wurde dem Anspruch der Muslimin stattgegeben. [Nach Auffassung des Gerichts kann die Verwendung eines Lichtbildes, das die betreffende Person ohne Kopfbedeckung zeigt, zu einem späteren Zeitpunkt zu einem Gewissenskonflikt führen: „In eine solche Situation könnte die Klägerin, z.B. bei einer Personenkontrolle, geraten, sofern ihr Äußeres nicht mit den in ihren Ausweisen befindlichen Lichtbildern übereinstimmen würde. Sie wäre damit im Falle einer Identitätsfeststellung der ohne weiteres vermeidbaren Gefahr eines Handelns gegen ihre Glaubensüberzeugung ausgesetzt" (Ebd., S. 137).]

Dasselbe Problem ist jedoch wiederholt bei der Ausstellung von Führerscheinen aufgetreten. Unter Berufung auf eine dem Paßrecht vergleichbare Regelung der Fahrerlaubnisverordnung haben Behörden beim Vorliegen des Lichtbildes einer Muslimin mit Kopftuch die Erteilung der Fahrerlaubnis verweigert. Nachdem dieser Fall besonders häufig im Stadt- und Landkreis Ludwigshafen vorgekommen ist, hat das zuständige Ministerium des Landes Rheinland-Pfalz eine diesbezügliche Regelung erlassen. [Vgl. Ceylan 1999.] Darin wird festgestellt, daß entsprechende Lichtbilder für die Ausstellung des Führerscheins anzuerkennen sind, wenn die betreffenden Musliminnen das Tragen des Kopftuchs für sich als verbindlich erklären.

Wie differenziert die Frage des Kopftuchs jedoch zu beurteilen ist, zeigt sich in einer anderen Entscheidung. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat durch Beschluß vom 23. März 2000 die Beschwerde zweier Iranerinnen (Mutter und Tochter) gegen die Verpflichtung zum Tragen des Kopftuchs bei der Anfertigung von Lichtbildern abgewiesen. [Vgl. VGH München, Beschluß vom 23. März 2000 – 24 CS 00.12.]
Als rechtskräftig abgelehnte Asylbewerberinnen waren die beiden zur Ausreise in den Iran verpflichtet. Zu diesem Zweck sollten sie auf Anordnung der Ausländerbehörde bei der iranischen Botschaft die Ausstellung von Ausweisen beantragen und dafür Lichtbilder vorlegen, die sie mit Kopftuch zeigen. Für den Fall, daß sie diese Anordnung nicht befolgen würden, drohte die Ausländerbehörde „die zwangsweise Vorführung bei einem Fotografen" [Zitiert nach: Ebd., S. 3 des Beschlußumdrucks.] an. Dagegen legten die Betroffenen Klage ein, weil eine „Durchsetzung der ‚Kopftuchpflicht’ mittels unmittelbaren Zwangs einen Eingriff in das Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG darstelle" [Zitiert nach: Ebd., S. 4 des Beschlußumdrucks.]. Nachdem das Verwaltungsgericht Ansbach den Antrag, die aufschiebende Wirkung ihrer Klage gegen den Bescheid der Ausländerbehörde wiederherzustellen, abgelehnt hatte, legten sie beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof Beschwerde ein. Diese blieb jedoch ohne Erfolg, da das Gericht eine Beeinträchtigung der Beschwerdeführerinnen in ihrer Religionsfreiheit nicht gegeben sah. Es war vielmehr der Auffassung, daß „das Tragen eines Kopftuchs … weder in Deutschland noch im Iran ausschließlich religiöse Bedeutung" habe, „sondern ein auf der im iranischen Staat herrschenden sittlichen Betrachtungsweise beruhendes ordnungsrechtliches Regelwerk" [Ebd., S. 10 des Beschlußumdrucks.] darstelle, das unabhängig von Nationalität und Religionszugehörigkeit verpflichtet. Indem die Anordnung der Ausländerbehörde ausdrücklich keinen religiösen Inhalt habe und das Kopftuch nicht ausschließlich als religiöses Symbol zu verstehen sei, konnte das

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Gericht keine Verletzung des Grundrechts der Religionsfreiheit erkennen, zumal die Beschwerdeführerinnen dafür keine ausreichenden Gründe vorzutragen vermochten. [„Der Regelungsgehalt der angegriffenen Anordnung erschöpft sich darin, daß die Antragstellerinnen für den kurzen Moment der Anfertigung eines Passfotos das Kopftuch anlegen. Dagegen wird von ihnen nicht verlangt, daß sie ein Kopftuch in der Öffentlichkeit und als religiöses Symbol des islamischen Glaubens ‚tragen’ sollen. Die Anordnung ist nicht auf gewisse Dauer angelegt. Sie stellt daher – im Gegensatz zu der im Iran geltenden Vorschrift – überhaupt keine Bekleidungsvorschrift für das Leben in Deutschland dar" (Ebd., S. 13 des Be schluß umdrucks).]

Anders zu bewerten als in diesem Fall ist hingegen die Frage des Kopftuchs im Zusammenhang mit der Einstellung einer Muslimin in den öffentlichen Dienst. Das bekannteste Beispiel ist zweifellos der Fall der muslimischen Lehramtsanwärterin Fereshta Ludin, die sich nach erfolgreichem Abschluß von Studium und Referendariat um Einstellung in den Schuldienst des Landes Baden-Württemberg beworben hatte. Nachdem sie im Einstellungsgespräch bekundet hatte, aus religiösen Gründen nicht auf das Tragen des Kopftuchs im Unterricht verzichten zu können, lehnte das zuständige Oberschulamt ihre Bewerbung am 10. Juli 1998 ab. Da das Tragen des Kopftuchs nicht mit dem Neutralitätsgebot des Staates zu vereinbaren ist, sei Frau Ludin nicht für den öffentlichen Schuldienst geeignet. Die Kultusministerin des Landes Baden-Württemberg, Annette Schavan, bestätigte diese Entscheidung am 13. Juli 1998. [Vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 1998.]
Während für Frau Ludin das Tragen des Kopftuchs als Ausdruck ihrer religiösen Überzeugung zu ihrer Identität gehört, sah die Ministerin darin auch ein politisches Symbol mit einer hohen öffentlichen Signalwirkung, die der Staat sich nicht zu eigen machen dürfe. [Zur Abwägung des Sachverhalts „gehört auch die innerislamische Diskussion um die Bedeutung des Kopftuchs jenseits der persönlichen Motive von Frau Ludin. Das Tragen des Kopftuchs gehört nicht zu den religiösen Pflichten einer Muslimin. … Das Kopftuch wird vielmehr in der innerislamischen Diskussion auch als Symbol für kulturelle Abgrenzung und damit als politisches Symbol gewertet" (Ebd., S. 2).]
Nachdem das Oberschulamt einen Widerspruch gegen seine Entscheidung abgelehnt hatte, erhob Frau Ludin Klage mit der Absicht, ihre Einstellung in den Schuldienst gerichtlich zu erstreiten. Durch Urteil vom 24. März 2000 lehnte das Verwaltungsgericht Stuttgart die Klage jedoch ab. [Vgl. VG Stuttgart, Urteil vom 24. März 2000 – 15 K 532/99.]
Es stellte fest, daß die Entscheidung zur Einstellung in den Schuldienst ohne Rücksicht auf unter anderem das religiöse Bekenntnis der Bewerberin zu treffen sei. Ungeachtet der fachlichen Qualifikation, erfülle Frau Ludin „jedoch nicht die persönlichen Voraussetzungen, weil sie im Dienst ein religiös motiviertes Kopftuch tragen möchte und dadurch gegen ihre Dienstpflichten verstoßen würde." [Ebd., S. 4 des Urteilsumdrucks.] Die Ablehnung, sie in den Schuldienst einzustellen, sei daher rechtens gewesen. Zwar anerkannte das Gericht den Anspruch der Klägerin auf ungestörte Religionsausübung, doch sei eine Einschränkung im Hinblick auf ihre Neutralitätspflicht als Lehrerin gerechtfertigt. Zu diesem Ergebnis gelangte das Gericht angesichts einer extensiven Auslegung des Symbolgehalts des in Frage stehenden Kopftuchs: „Ein Kopftuch, wie es die Klägerin trägt, demonstriert auffallend und eindrucksvoll das religiöse islamische Bekenntnis" [Ebd., S. 6 des Urteilsumdrucks.]. Dem aber würden die betreffenden Schüler schutzlos ausgeliefert sein, die dadurch in ihrer Religionsfreiheit beeinträchtigt sein könnten. Die dem Staat aufgetragene Neutralitätspflicht lasse dies jedoch nicht zu.

In der Sache anders hat das Verwaltungsgericht Lüneburg durch Urteil vom 16. Oktober 2000 entschieden und die Bezirksregierung Lüneburg zur Übernahme einer muslimischen Lehr-

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amtsanwärterin mit Kopftuch verpflichtet. Das Kopftuch allein sei kein Grund, eine mangelnde Eignung für den Schuldienst anzunehmen, hierzu bedürfe es vielmehr weiterer substanzieller Anhaltspunkte. [Vgl. VG Lüneburg, Urteil vom 16. Oktober 2000 – 1 A 98/00. Da das Urteil zum Zeitpunkt der Abfassung der Studie noch nicht schriftlich mitgeteilt worden war, sind keine weiteren Ausführungen dazu möglich gewesen.]


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