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TEILDOKUMENT:
[Seite der Druckausg.:9] Zusammenfassung Mit dem Anwerbestopp im Jahre 1973 verbindet sich ein entscheidender Impuls zur Veränderung der religiösen Landkarte Deutschlands. Muslimische Arbeitskräfte, die sich entscheiden, in Deutschland zu bleiben, holen ihre Ehepartner und Kinder nach. Aus Individuen werden Familien, und in den Familien drängt sich die Frage auf, wie religiöses Selbstverständnis an die nachfolgenden Generationen weitergegeben werden kann. Die Tatsache, daß Muslime hierzulande Wege und Mittel fanden, ihren Lebensweg in Einklang mit religiöser Weltsicht zu bringen, stellt Nichtmuslime vor die Aufgabe, diesen deutschen islamischen Alltag zu verstehen, wenn aus dem Nebeneinander ein konstruktives Miteinander der Religionen und Weltanschauungen werden soll. Dazu gilt es zunächst, die aktuelle muslimische Präsenz in Deutschland in den Blick zu nehmen. Gegenwärtig leben hier etwa drei Millionen Muslime, worunter diejenigen mit etwas mehr als zwei Millionen den größten Anteil ausmachen, die entweder selbst aus der Türkei stammen oder deren Eltern von dort hierher gekommen sind. Da aber auch arabische und andere Herkunftsländer das Spektrum bestimmen, reicht der Fokus allein auf die Türkei nicht aus. Vielmehr ist in einer grundsätzlichen Fragestellung nach den Charakteristika muslimischer Religionsausübung zu fragen. Diese konstituieren sich zunächst in Glaubensbekenntnis, Gebet, Fasten, Almosen und Wallfahrt, die jedoch nur bedingt mit dem vergleichbar sind, was die jüdisch-christliche Tradition darunter subsumiert. Des weiteren lassen sich die islamischen Feste, hier besonders Opferfest und Fest des Fastenbrechens, als Wegmarken im islamischen Jahreslauf begreifen. Das individuelle Leben wird an seinen Grenzmarken Geburt und Tod aber auch in Riten anläßlich der Beschneidung und Hochzeit vom Islam geprägt. Besonderheiten der Speisevorschriften und islamische Gebote der Bekleidung sind sichtbare Begleiter durch den islamischen Alltag. Übertragen auf die Situation in Deutschland ergeben sich fast hinsichtlich jedes der genannten Felder Probleme der kollektiven, teils auch individuellen Religionsausübung. Nahezu in allen Bereichen, angefangen beim Bau und Betrieb von Moscheen, über Beten und Fasten am Arbeitsplatz, dem Tragen des Kopftuchs im öffentlichen Dienst, dem Schlachten nach islamischem Ritus, bis hin zur Frage, ob und wie muslimische Seelsorge in öffentlichen Einrichtungen aussehen kann und soll, ergeben sich Konflikte. Mit dem Verweis auf das in Deutschland für alle Menschen geltende Grundrecht der Religionsfreiheit ist zu deren Lösung oft noch nichts gewonnen. Dieses Grundrecht stellt zwar ein hohes Verfassungsgut dar, muß sich aber stets am Gesamtzusammenhang des Grundgesetzes messen lassen. Die Artikulation von Lebensfragen muslimischerseits läuft oft geltendem Recht zuwider, und mehr als genug Gerichte sind damit befaßt, diese Fragen zu behandeln, die eigentlich nicht im Sinne juristischer Auseinandersetzungen, sondern im Rahmen einer breiten gesellschaftlichen Debatte zu klären wären. Letztlich kann es nicht die Aufgabe von Juristen sein, zu bestimmen, was islamisch ist und wie der Islam in dieser Gesellschaft lebbar und für diese Gesellschaft bereichernd und fruchtbar werden kann. Um den Anspruch der Religionsfreiheit im Konflikt mit anderen Interessen abwägen zu können, sind Muslime ihrerseits gefragt, die Sinnzusammenhänge einer religiösen Handlung darzulegen. Um so vertrackter wird die Lage dadurch, daß in Details islamischer Religionsausübung keine allgemein verbindliche Verfügung seitens einer islamischen Lehrautorität getroffen werden kann. Im Einzelfall können Muslime sich so oder so verhalten, ohne daß dies eine Rückwirkung auf die islamische community in ihrer [Seite der Druckausg.:10] Gänze besäße. Gleichzeitig versuchen aber immer mehr Gruppierungen, einen solchen allgemeinen Einfluß zu erlangen. Von nicht wenigen Seiten wird die Erlangung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechtes angestrebt und geradezu als Allheilmittel gepriesen. Aber dieser Status scheint zum gegebenen Zeitpunkt in weiter Ferne zu sein. Keine Organisation erfüllt bis dato die notwendigen Voraussetzungen, und nicht wenige Muslime halten sogar die Bemühung um solche Rechte für unislamisch und letztlich kontraproduktiv. Selbst wenn in vielen Fragen islamischer Religionsausübung die Körperschaftsrechte nicht zwingend notwendig sind, steht häufig in Frage, ob die betreffenden islamischen Organisationen den Charakter einer Religionsgemeinschaft im Sinne des Grundgesetzes tragen. In dieser Pattsituation scheint eine allgemeine Paralysierung eingetreten zu sein, die die Handlungsfähigkeit in Fragen der Religionsausübung nachhaltig hemmt. Solange diese Lähmung andauert, sind jedoch weiter die Gerichte beschäftigt, und Muslime befinden sich in der kaum akzeptablen Lage, ihre Religionsfreiheit ebendort mit jeweils ungewissem Ausgang durch die Instanzen klagen zu müssen. Solange keine grundsätzliche Entscheidung über den gesellschaftlichen Status islamischer Organisationen vorliegt, bleibt deshalb nur, die bestehende Rechtsordnung auf ihre Möglichkeiten hin zu prüfen, um vor Ort für die Menschen tätig zu werden. Wo etwa keine reguläre Anstaltsseelsorge möglich ist, müssen sonstige Wege gesucht werden, die Bedürfnisse von Muslimen in Anstalten zu berücksichtigen. Wo etwa der Widerstand der lokalen Bevölkerung gegen den lautsprecherverstärkten Gebetsruf zu stark ist, müssen muslimische Gemeinden sich fragen, ob sie im Sinne des öffentlichen Friedens nicht lieber zunächst darauf verzichten können oder zumindest eine verträgliche Lösung aushandeln können. Die Fragestellungen unterliegen jeweils den besonderen Bedingungen vor Ort, und im allgemeinen Interesse sollte es Priorität haben, sie vor Ort zu lösen. Es kann nicht darum gehen, generell alles zu verbieten oder alles zu erlauben, sondern indem vor Ort Lösungen ausgearbeitet werden, die alle gesellschaftlichen Gruppen in Kompromissbereitschaft mittragen, wird sich langfristig das soziale Klima dahingehend verbessern, daß Offenheit und Vertrauen stark und gegenseitig genug werden, um islamische Religionsausübung zu etwas ebenso Selbstverständlichem werden zu lassen wie christliche. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2001 |