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Ute Kotter
Interkulturelle Orientierung und Vernetzung der Maßnahmen zur beruflichen Integration
Das Beispiel: Lüneburg


Vorbemerkung

Seit 1989 ist die Lüneburger AWO in der Beratung und Betreuung junger deutscher Aussiedler aus osteuropäischen Ländern tätig. Auf die ständig steigenden Zuwandererzahlen reagierend baute der Kreisverband in den Folgejahren die Eingliederungsdienste personell und inhaltlich dem Bedarf entsprechend aus.

Schon 1993 bildeten alle Sozialdienste, deren Zielgruppen Zuwanderer waren, eine gemeinsame Abteilung Migration. Die Individualberatung der einzelnen Zuwanderergruppen blieb erhalten, übergreifende Angebote der Qualifizierung und sozialpädagogische Gruppenarbeit waren die Reaktion auf die Anforderung der stetigen Zuwanderung . Pädagogische Methoden und Konzepte mußten den Anforderungen der Ausländer, Aussiedler und Flüchtlinge begegnen.

Zunehmend verknüpft wurden auch die AWO-eigenen Beratungs- und Betreuungseinrichtungen. Verbandsinterne Fortbildungen schulten die interkulturelle Kompetenz der Sozialarbeiter, um alle Angebote und Dienste der AWO auch besonders Migranten zugänglich zu machen.

Ich will nicht verheimlichen, daß die Kürzungen der Eingliederungsleistungen für Zuwanderer und für Beratungsstellen in den neunziger Jahren immer wieder zur Fluktuation der Stelleninhaber, zum Abbruch von Beratungsbeziehungen, zur Einstellung von Beratungsangeboten und zu immerwährenden Finanzierungskämpfen führte. Dies führte zu Situationen, die nicht mehr förderlich für die Beratung von Zuwanderern waren. Positiv schälte sich die Pflicht zur Qualitätsentwicklung und -sicherung heraus, um weiterhin Mittel für die Arbeit zu erhalten.

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Die Entwicklung der kooperativen Zusammenarbeit mit anderen AWO-Diensten bewirkte Erfolge in der Individualberatung. Sie führte 1996 dazu, daß die AWO sich aufgrund der gesellschaftlichen Situation und der Bedarfe von Migranten für eine BBE-Maßnahme des Arbeitsamtes Lüneburg bewarb. Hiermit begann der Aufbau der Abteilung Berufshilfe mit seiner besonderen Kompetenz für die Förderung von zugewanderten jungen Menschen. Die Abteilung Berufshilfe wurde 1999 in die AWOCADO Service gGmbH ausgegliedert.

Die AWO, Kreisverband Lüneburg/Lüchow-Dannenberg e. V. beschäftigte 1989 drei hauptamtliche Mitarbeiter. 1999 arbeiteten hauptamtlich ca. 125 Mitarbeiter in den Beratungs- und Betreuungsbereichen. Die Arbeit des Jugendgemeinschaftswerkes hat maßgeblich zum Aufbau des Beratungs- und Berufshilfebereiches beigetragen und die Arbeitsschwerpunkte der Betreuungseinrichtungen geprägt.

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1. Zum Verständnis der sozialen Arbeit mit Zuwanderern

Zuwanderer in Deutschland können unabhängig vom jeweiligen Herkunftsland einen sehr unterschiedlichen Rechtsstatus haben. Der Status bestimmt die Ansprüche, Chancen und Hilfeleistungen der einzelnen Zuwanderer, so daß davon ihre Lebenssituation geprägt ist.

1.1 Die multikulturelle Gesellschaft

Einwanderung als eine gesellschaftliche Realität anzuerkennen, ist mein Auftrag für die Politik der Bundesregierung. Zuwanderung ist als Fakt anzuerkennen, damit ist Integration auch als Ziel anerkannt. Einwanderung benötigt ein klares und allgemein akzeptiertes Konzept zur Integration. Integration ist ein gesellschaftlicher Prozess, der nicht irgendwann abgeschlossen ist, sondern immer wieder neu gefördert werden muß. Integration fordert von allen, daß sie sich aufeinander zu bewegen. Integration fordert von Stadtentwicklung die Bereitstellung von „Räumen", um die Kultur und das Miteinander leben zu können.

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Deutschland besteht aus einer multikulturellen Gesellschaft. Das heißt, zugewanderte Menschen, hier geborene Menschen unterschiedlicher Staatsangehörigkeit leben in dieser Gesellschaft miteinander. Schaubild 1 verdeutlicht die verschiedenen Migrantengruppen, die auch einen unterschiedlichen Rechtsstatus, daraus resultierende Leistungen, Grundfragen und Probleme und daraus resultierende Integrationschancen haben.

Schaubild 1: Rechtsstatus von MigrantInnen

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Das in 1997 veröffentlichte Schaubild ist heute noch weiter zu differenzieren, da besonders die Gruppe der Spätaussiedler inzwischen in Menschen mit Anerkennung der Aussiedlereigenschaft, Angehörige von Aussiedlern oder wiederum in Ausländer differenziert wird.

Aufgabe der Politik ist es, allen Menschen in der mulitkulturellen Gesellschaft eine Rechts- und Chancengleichheit zu garantieren, den Abbau von Diskriminierung zu unterstützen und die Rahmenbedingungen für die gesellschaftliche und persönliche Integration zu schaffen.

1.2 Interkulturelle Orientierung

Interkulturelle Orientierung ist nicht das Synonym für Assimilation und Vereinheitlichung von Zuwanderern in die aufnehmende Gesellschaft. Interkulturelle Kompetenz ist Prozess. Sie betrachtet Migranten als Teil der hiesigen Gesellschaft mit dem Ziel der gleichberechtigten Teilhabe. Die Offenheit gegenüber dem Fremden ist gefordert, obwohl andere Lebensformen anders und fremd erscheinen. Die Kommunikation mit zugewanderten Menschen ist erlernbar, obwohl Deutsch eher die „Amtssprache" ist.

Die interkulturelle Orientierung in der sozialen Arbeit soll eine Verbesserung des Zusammenlebens bewirken, präventiv sein und Konflikten begegnen. Die interkulturelle Orientierung aller Dienste dieser Gesellschaft und nicht nur der speziellen Sozialdienste für Migranten verlangt von den Fachkräften die Bereitschaft zum Dialog. Kenntnisse über den kulturellen sozialen Hintergrund („mentales Gepäck") sind erforderlich. Die psychosozialen Folgen einer Migration müssen erkannt und anerkannt werden. Wir wissen inzwischen, daß Migration Langzeitfolgen über Generationen bewirkt.

Interkulturell arbeitende Dienste müssen die Kenntnis des Gesellschafts- und Wertesystems Deutschlands wie auch der sozioökonomischen und kulturellen Lebensbedingungen zugewanderter Bevölkerungsgruppen beachten. In der Beratung ist die Fähigkeit gefordert, die aus diesen Kenntnissen resultierenden Erfahrungen umzusetzen, herkunftsbedingte Probleme des Zuwanderers zu erkennen und Lösungsansätze im Rahmen des hiesigen Gesellschaftssystems zu erarbeiten. Die Kenntnis der Erstsprache des Zu-

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wanderers und des spezifischen kulturellen Hintergrundes erhöht die interkulturelle Kompetenz der Berater ebenso wie ihre nonverbale Kommunikationsfähigkeit. Ich werde an anderer Stelle noch einmal differenzierter auf die interkulturell notwendigen Fähigkeiten von Sozialarbeitern in Jugendgemeinschaftswerken eingehen.

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2. Vernetzung mit dem Ziel der interkulturellen Öffnung

Vernetzung als Arbeitsauftrag für Migrationssozialdienste muß die interkulturelle Öffnung aller Angebote zum Ziel haben. Quantitativ ist sicherzustellen, daß junge Zuwanderer ihrem Bevölkerungsanteil und ihren Bedürfnissen entsprechend an den Leistungen der sozialen Regelversorgung partizipieren. Qualitativ relevant ist für sie Beratung und Betreuung, die ihre spezifischen sprachlichen, rechtlichen, kulturellen und psychosozialen Fragen und Problemlagen berücksichtigt. Unter qualitativen Gesichtspunkten ist aber auch besonders die Berücksichtigung ihrer Kompetenzen, Erfahrungen im Herkunftsland und ihrer Stärken durch die Sozialisation erforderlich.

Jugendgemeinschaftswerken und Migrationssozialdiensten kommt die Brückenfunktion zu, den Prozess der interkulturellen Öffnung zu initiieren, zu begleiten und zu moderieren. (Vergleiche W. Barth, Vernetzung als interkulturelles Stadtteilmanagement, in: Fachwerk, 2/99, AWO, Bonn)

Eine Vernetzung der Jugendgemeinschaftswerke und Sozialdienste für Migranten hat primär mit folgenden Partnern zu erfolgen:

  • Beratungs- und Betreuungsdienste für die individuelle Unterstützung;

  • Zusammenarbeit im Sozialraum/Stadtentwicklung. Hier besonders Arbeitsverwaltung, Jugendhilfe, Sozialhilfe;

  • Netzwerke, um Fachdisziplinen einzubeziehen und damit eine Erweiterung des methodischen Handwerkszeuges des Fachwissens (Sozialarbeit, Psychologie, Pädagogik, etc.) zu bewirken;

  • Netzwerke zur umfassenden Information der Akteure;

  • Unterstützung der „Mikronetzwerke", d. h. Unterstützung von Selbsthilfe in der Familie, der Verwandtschaft, dem sozialen Umfeld.

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Praktizierte Netzwerke sollen Kontinuität haben, aber veränderbar sein und sich den Bedürfnissen anpassen. Basis aller Netzwerke ist der Austausch und Arbeitsteilung (Kooperation). Netzwerke bewirken, daß Sozialdienste für Migranten keine Exoten in der Landschaft der Sozialarbeit sind, sondern sich alle Regeldienste interkulturell öffnen und sich Zuwanderern anbieten.

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3. Migranten als Zielgruppen der Vernetzung in der Berufshilfe

Die zunehmende Jugendarbeitslosigkeit, Kürzungen bei den Eingliederungsleistungen sowie zunehmend geringere Deutschkenntnisse führten seit 1993 dazu, daß die Chancen auf berufliche Eingliederung für Aussiedler und andere Migranten beträchtlich sanken. Junge Aussiedler der ersten Einwanderungswelle seit 1988 hatten den Einstieg in Ausbildung und Arbeit noch relativ problemlos bewältigt. Lehrbetriebe hatten ihre ersten positiven, aber auch negativen Erfahrungen mit dieser Zuwanderergruppe gemacht und schwenkten von den ersten Begeisterungsstürmen zur Normalität in der Bewerberauswahl über.

Die sprachliche Qualifizierung junger Aussiedler wurde immer wichtiger, da Deutsch nur noch selten in der Herkunftsfamilie gesprochen wurde und die Deutschkenntnisse geringer wurden. Einher ging die Einschränkung der Eingliederungsleistungen, die auch zu Kürzungen bei den Sprachkursen führten. Die interkulturelle Methodik-Didaktik und ihre Ausrichtung auf die Zielgruppe junger Menschen wurde auch zum damaligen Zeitpunkt nicht praktiziert. Auf eine diesbezügliche Besserung sollte zukünftig mit politischem Konzept hingewirkt werden.

Die Orientierung an der Bewältigung der drängendsten Aufgabe - dauerhafte Eingliederung in den Arbeitsmarkt - führte in Lüneburg 1996 zur Gründung der Abteilung Berufshilfe, die 1999 in die AWOCADO Service gGmbH verselbstständigt wurde.

Die Kooperation mit dem Arbeitsamt Lüneburg führte dazu, daß Maßnahmen, in denen besonders Migranten als Zielgruppe zu erwarten waren, an die AWO als erfahrenen Träger (eines JGWs) vergeben wurden.

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Diese Maßnahmen sind bis heute:

  • BBE-Lehrgang zur Verbesserung der beruflichen Bildungs- und Eingliederungschancen. Zielgruppe sind lernbeeinträchtigte Jugendliche. Für Migranten gibt es Module der Vermittlung von Alters- und Fachsprache in Kleingruppen und eine individuelle Förderung durch Erstellung eines ständig fortzuschreibenden Förderplanes;

  • Sofortprogramm: Qualifizierungs ABM für pädagogisches Personal (Erzieher);

  • Sofortprogramm: gewerblich-technische Qualifizierung (beendet 8/99);

  • Hauptschulabschlusskurse - Migranten erhalten besondere Unterstützung durch Förderunterricht und Kleingruppenarbeit. Kombinierbar mit BBE;

  • Deutsch-Intensivsprachkurs zur beruflichen Vorbereitung für junge Aussiedler und Ausländer;

  • Deutsch-Integrationssprachkurs mit Berufsorientierung in Kooperation mit der BBS II;

  • Deutsch-Sprachkurse für Migranten. Das Angebot umfaßt Alphabetisierungs- und Aufbaukurse und Integrationskurse für Frauen;

  • in Planung: Freiwilliges Soziales Trainingsjahr;

  • in Planung: zweiter Hauptschulabschlusskurs.

3.1 JGWs in ihrer Brückenfunktion zur Arbeitswelt

JGWs mit ihren interkulturellen Erfahrungen und Kontakten müssen in ihrer Brückenfunktion (auch) zur Arbeitswelt genutzt werden. Sozialarbeiter der Migrationssozialdienste kennen Kompetenzen und Defizite der Ausbildungssuchenden und zu qualifizierenden jungen Migranten. Sie begleiten die Migranten von der Erstberatung an, entwickeln mit ihnen die Ausbildungsplanung, begleiten sie während der Qualifizierung oder Lehre und sorgen für eine langfristige Perspektive, indem sie auch danach wieder zur

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Verfügung stehen. JGW Mitarbeiter wissen um die Besonderheiten der Zielgruppe.

Junge Aussiedler sind Zuwanderer,

  • die „Brüche" in der Sozialisation psychisch zu verarbeiten haben;

  • die baldmöglichst an der Konsumgesellschaft teilhaben möchten;

  • die (in der Regel) zur Armutsbevölkerung gehören;

  • die meist in den durch Segregation gekennzeichneten Sozialräumen von Städten leben;

  • die unterschiedliche Rechtsstatusse (Förderbasis) haben;

  • die unzureichende Informationen/Kenntnisse über den Arbeitsmarkt und dazugehörige Idealvisionen haben;

  • die Deutsch als Alltagssprache lernen müssen;

  • die Deutsch als Fachsprache lernen müssen;

  • die oft einen Schulabschluss und praktische Erfahrungen aus dem Herkunftsland haben;

  • die junge Erwachsene und Jugendliche in der jugend-spezifischen Orientierungsphase sind (Migration verschärft die biographischen Schlüsselthemen);

  • die alle Individuen sind;

  • die alle Männer oder Frauen sind.

Das Wissen um diese Faktoren bewirkt, daß keine unreflektierte Anwendung und Übertragung von Beratungskonzepten und Kommunikationsweisen aus der Arbeit mit einheimischen Menschen erfolgt. Interkulturelle Beratung und Begleitung muß diese Faktoren berücksichtigen und Inhalt und Struktur der Beratung darauf ausrichten.

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3.2 JGWs als Moderatoren interkultureller Angebote für Zuwanderer

Das bedeutet nicht, daß es Ziel der JGWs sein sollte, Aussiedler an sich zu binden. JGWs sollen aufnehmen, vermitteln, den Weg ebnen und überleiten, erneut aufnehmen und langfristig begleiten. Sie sollen bewirken, daß Zuwanderer nicht mehr weiterhin in Einrichtungen der Regelversorgung unterrepräsentiert sind, sondern sollen wichtige Kooperationspartner auf dem Weg zur Regelversorgung werden. JGWs sollen zukünftig Netzwerke zur Förderung der beruflichen Eingliederung und zum Zugang in Regeldienste schaffen.

Das Schaubild 2 des JGW aus Nürnberg als Migrationsfachstelle zeigt den Wirkungskreis und Vernetzungsgrad im Bereich der Jugendsozialarbeit.

Das Schaubild 3 zeigt die Bereiche von Netzwerken zur beruflichen Integration von Migranten.

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Schaubild 2: Netzwerk des JGW Nürnberg

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Schaubild 3: Bereiche von Netzwerken zur beruflichen Integration

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4. Zuwanderer in Lüneburg

4.1 Lebenslagen

Im Vorwege eine kurze Analyse der Region Lüneburg: Lüneburg liegt in Niedersachsen und ist eine Stadt mit 68.500 Einwohnern. Die Stadt ist umgeben von einem weiträumigen und großflächigen Landkreis. In der Stadt Lüneburg gibt es den Stadtteil Kaltenmoor mit 9009 Einwohnern (31.12.99), der 1999 im Rahmen des Programms „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf" für eine vernetzte Förderung ausgesucht wurde. Andere Stadtteile und Landkreisgemeinden haben ihre besonderen strukturellen Probleme. In Stadt und Landkreis leben ca. 9500 Aussiedler, davon sind ca. 6000 der Altersgruppe 0 - 27 Jahre zugehörig. Stadt und Landkreis erleben weiterhin einen ungebremsten Zuzug an ca. 60 Personen pro Monat. Im Januar 2000 zeigte die Liste des Vertriebenenamtes, daß von 20 eingereisten Familien 18 Familien in die Altersgruppe der JGW-Klienten gehörte. Die Mehrheit der Aussiedler leben unauffällig.

Im Rahmen des Sofortprogrammes wurden im Arbeitsamtbereich Lüneburg in 1999 1124 Jugendliche „bedient". Weitere Jugendliche wurden durch ABM-Stellen und Lohnkostenzuschüsse in Arbeitsverhältnisse gebracht. An den Maßnahmen des Sofortprogrammes nahmen viele junge Aussiedler teil, dieses liegt auch an der besonderen Mitwirkung des JGWs, auf die ich nachfolgend zu sprechen komme. Liegt die Arbeitslosenquote landesweit in Niedersachsen bei 10,8 %, so ist sie in Stadt und Landkreis Lüneburg bei 12,4% (1/2000) angesiedelt. Im Dezember 1999 ist die Quote der jungen Arbeitslosen unter 25 Jahren auf 14,2 % in Stadt und Landkreis Lüneburg gestiegen. Besonders krass ist die Arbeitslosenquote unter den statistisch erfaßten Ausländern. Fast jeder dritte Ausländer in Stadt und Landkreis Lüneburg ist im Dezember 1999 arbeitslos gemeldet. Sie gehörten überdurchschnittlich den 35,2 % aller Langzeit-Arbeitslosen an. Überproportional viele Migranten sind an den Hauptschulen (Ausländer an Sonderschulen) vertreten und scheitern bei ihrem Einstieg in den Arbeitsmarkt auch an fehlenden Schulabschlüssen. Alle jungen Zuwanderer zählen damit zur Gruppe der besonders Benachteiligten des Arbeitsmarktes.

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5. Ausbilden statt Ausgrenzen! Praxisbeispiele

Die interkulturelle Erfahrung der JGWs und Sozialdienste für Migranten müssen genutzt werden, um Chancengleichheit zu entwickeln statt Marginalität zu fördern. Die JGWs mit ihren Instrumenten des niedrigschwelligen Zugangs („Aufgesucht werden statt suchen zu müssen"), ihrer interkulturellen Erfahrung und der sozialräumlichen Orientierung unterstützen die langfristige Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Die Verknüpfung der Arbeit von Haupt- und Ehrenamtlichen und der Initiierung von gemeinwesenorientierten Netzwerken zur Unterstützung (in Zusammenarbeit mit anderen Fachdiensten) ist die beste Voraussetzung für die Integration in den Arbeitsmarkt.

JGWs kennen ihre Klienten. Sie wissen, wie Information diese erreicht, wie Hilfeangebote gläsern gemacht werden und wie Orientierung gegeben werden kann. Migrantenarbeit ist Beziehungsarbeit. Die personale Kompetenz der Berater berücksichtigt dies in der Struktur, dem Inhalt und der Präsentation des Angebotes. JGWs sind langfristig und verbindlich in der Beratung. Die interkulturelle Kompetenz der JGW-Mitarbeiter, die Kenntnisse über soziokulturelle Zusammenhänge im Herkunftsland wie auch über normative und kulturelle Riten, Regeln und Kommunikationsstrukturen unterstützten den Beratungsprozess, in dem zunehmend dem Selbsthilfe-
potential des Hilfesuchenden Raum gegeben wird. Sozialarbeiter, die Fachwissen vorhalten und muttersprachliche Beratung vorweisen können, sind allen anderen im Zugang zum Klientel überlegen. Ihre Erfahrung muß für die dauerhafte Eingliederung der jungen Migranten in den Arbeitsmarkt genutzt werden!

5.1 Entwicklung berufsvorbereitender Maßnahmen

Vernetzung ist die Voraussetzung zur Verbesserung der Arbeitsmarktchancen junger Migranten. Im Raum Lüneburg haben sich Kooperationspartner wie Arbeitsverwaltung, Beratungsstellen, Bildungsträger, Kammern und Betriebe in den vergangenen Jahren durch den qualitativen Nachweis und den direkten und konkreten Austausch bei der Planung von Maßnahmen

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und der Durchführung von Individualhilfen angenähert und zusammengeschlossen.

Im Bereich der JGWs wurde regelmäßig eine Bestandsanalyse der Ausbildungs- und Arbeitsangebote der Region erstellt, um Klienten umfassend zu beraten.

Hieraus ergibt sich eine Bedarfsanalyse, basierend auf

  • Sicht der Klienten;

  • Sicht von Handel/Handwerk/Industrie;

  • Sicht der Arbeitsverwaltung, (auch mit dem Blick auf die Finanzierbarkeit.)

Das Lüneburger Fachnetzwerk zur Förderung Benachteiligter nahm 1995 durch eine Einladung des JGW der AWO seinen Anfang. Der damals bestehende Arbeitskreis hieß „Berufliche Eingliederung von jungen Aussiedlern". Heute ist daraus ein Netzwerk aller beteiligten Bildungsträger und Schulen und der zuführenden und wiederaufnehmenden Beratungseinrichtungen geworden (siehe Schaubild 4). Das Arbeitsamt lädt die Bildungsträger vor der Ausschreibung neuer Maßnahmen zu Informationsgesprächen ein und beurteilt im Anschluss die Vergabe der Maßnahmen unter Berücksichtigung der bisherigen Kompetenzen der Träger.

Das JGW hat einen engen Kontakt zum Arbeitsamt und kann bei der Schaffung neuer Maßnahmen anregen, wie diese organisatorisch und inhaltlich migrantengerechter gestaltet werden können. Um einen ganzheitlichen Hilfeansatz (Mehrfach-Problematiken) zu sichern, ist es äußerst wichtig, Absprachen zwischen Beratungsstellen und Bildungsträgern/Schulen frühzeitig in allen Fällen herzustellen, in denen ein Zusammenwirken die Zielsetzung unterstützt.

Das Lüneburger Fachnetzwerk zur Förderung Benachteiligter ist qualitativ noch zu verbessern. Meine Idee für das Jahr 2000 ist die Installation von regionalen Internetseiten zur gegenseitigen Information der Träger und Beratungsstellen über die aktuellen Maßnahmeangebote, Bedarfe und Fortbildungen/Arbeitskreise. So kann eine ständig aktuelle Übersicht über

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Schaubild 4:Lüneburger Fachnetzwerk zur Förderung Benachteiligter

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Bildungs- und Beratungsangebote für Fachinstitutionen, aber auch für junge Migranten und andere Menschen, auf regionaler Basis geschaffen werden.

5.2 Sofortprogramm der Bundesregierung

Das Sofortprogramm der Bundesregierung zum Abbau der Jugendarbeits-losigkeit wurde von den Sozialarbeitern des Bereichs Migration bis heute positiv beurteilt. Der statistische Anteil junger Migranten ohne abgeschlossene Berufsausbildung an der Arbeitslosigkeit ist besonders hoch. Dies ist die Folge sprachlicher und kultureller Faktoren, mangelnder Qualifikationsvoraussetzungen, unzureichender schulischer Bildung, fehlender Schulabschlüsse und auch kultureller Verhaltensmuster, die den Verzicht auf eine Ausbildung zur Folge haben.

Auch für Aussiedler, die erst wenige Jahre in Deutschland leben, ist es schwierig, einen Ausbildungsplatz zu erhalten oder durchzustehen. Ca. 36% der jungen Erwachsenen (also auch anteilig der Migranten) brechen ihre Erstausbildung ab. 20 % davon hatten die falsche Ausbildung gewählt. Dies zeigt, daß es einen hohen Bedarf an qualitativ guten migrantengerechten Angeboten in dieser Gesellschaft geben muß, um den jungen Migranten einen dauerhaften Einstieg in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen.

In Lüneburg begann es so: Das Arbeitsamt bzw. die Berufsberatung lud im Dezember 1998 alle Bildungsträger zu einer Informationsveranstaltung über das Sofortprogramm ein. Interessierte Träger reichten im Anschluss daran ihre Angebote für Maßnahmen ein.

Die AWO und das JGW konnten hier auf die regelmäßig erstellte Bedarfs-
lage zurückgreifen. Sie unterbreitete Konzepte für

  • die gewerblich-technische Qualifizierung,

  • Qualifizierungs-ABM für pädagogisches Personal (Erzieher),

  • Deutsch-Intensivsprachkurse und

  • Hauptschulabschlusskurse.

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Gleichzeitig aktivierten die Sozialdienste für Migranten ihre noch mit Ausbildung bzw. Qualifizierung unversorgten Klienten, damit sie sich beim Arbeitsamt als Interessierte meldeten. Dies erfolgte aufsuchend, telefonisch und auch in muttersprachlicher schriftlicher Form. Viele Migranten, die aus vielfältigen Gründen nicht gemeldet waren (z.B. Sozialhilfebezug, 630 DM-Jobs, Demotivierte) konnten aktiviert werden.

Förderplanzentrum der AWO/DAA

Eine Kooperation zwischen JGW, AWO Berufshilfe, Berufsberatung und DAA führte zur Durchführung einer vorgeschalteten Maßnahme, dem sogenannten „Förderplanzentrum". Alle inzwischen in der Berufsberatung gemeldeten jungen Menschen, aber auch Personen, die sich bei den Beraterinnen im Förderplanzentrum meldeten, wurden schriftlich zu einem Förderplangespräch (Dauer ca. 2 Stunden) in das Förderzentrum eingeladen. Alle Migranten erhielten vorrangig eine Beratung durch eine JGW-Sozialarbeiterin, die auch Beratung in der Erstsprache „Russisch" durchführen konnte. Sie konnte durch ihre fachliche Qualifikation, ihre eigene Migrationserfahrung, ihre Russisch-Kenntnisse und die enge Kooperation mit den JGW-Mitarbeiterinnen gezielte Unterstützung bei den Förderplangesprächen anbieten.

Die Qualifizierungsberatung im Förderplanzentrum basierte auf ganzheitlichem Ansatz. Für den einzelnen Migranten wurden Qualifizierungsmodule als Teil eines individuellen Ganzen festgelegt. Dieser Förderplan wurde im Laufe der späteren Maßnahme bei der AWO überprüft und fortgeschrieben. Hier wurde auch der Grundstein für die Vernetzung der Akteure in der Individualberatung gelegt. Gespräche mit den abgebenden Beratungseinrichtungen, die Übergabe von Aktenvermerken (Einverständnis des Klienten) erfolgte, um bisherige Beratung nicht im Sande verlaufen zu lassen. Während der Durchführung der Maßnahme im Sofortprogramm gab es immer wieder Kontakte zwischen den JGW Mitarbeitern und den Mitarbeitern der Bildungsträger über die Perspektive und Begleitumstände im Einzelfall.

Wichtig war vor allen Dingen auch die Initiierung der nachsorgenden Bera-tung und Begleitung, um letztendlich das anvisierte Ziel (oftmals eine be-

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triebliche oder schulische Ausbildung) zu unterstützen und tatsächlich erreichbar zu machen.

In der Qualifizierungsberatung im Förderplanzentrum erlebten viele Migranten zum ersten Mal Achtung statt Verurteilung ihrer Person, sie erhielten Beratung, in der besonders ihre Handlungskompetenz, ihre Erfahrungen (im Herkunftsland) berücksichtigt wurden, und es wurde festgeschrieben, was zu fördern ist anstelle von einer Festschreibung von Defizite. Module, wie die verstärkte Förderung der Fachsprache, lernen im Arbeitsprozess, Lernen lernen, die sozialpädagogische Begleitung mit dem Ziel des Erwerbs von Schlüsselqualifikationen und die ganzheitliche Sicherung der Lebensgrundlagen führten bei vielen Teilnehmern dazu, daß das Sofortprogramm tatsächlich ein Sprungbrett für die Integration in den Arbeitsmarkt wurde.

Wünsche zur Qualitätsentwicklung der beruflichen Integration sind:

  • langfristig angelegte Programme zur Reduzierung der (Jugend-)Arbeitslosigkeit);

  • ausreichende, unkomplizierte finanzielle Förderung der Maßnahmeteilnehmer schafft Motivation;

  • mehr betriebliche Ausbildungsplätze;

  • ersatzweise außerbetriebliche Ausbildungsplätze, in denen auch besondere Fördermodule berücksichtigt werden können;

  • didaktisch-methodische Konzepte für Standards in der interkulturellen Arbeit;

  • didaktisch-methodische Konzepte für Deutsch als Zweitsprache und Deutsch als Fachsprache (Finanzierung, Organisation, Zertifizierung und Fortbildung in einer Hand);

  • Integrationsmodule (grundlegende Förderung und individuell aufbauende Module) für alle Migranten;

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  • Quantitative und qualitative Verbesserung der Angebote von Regeldiensten, d. h. interkulturelle Orientierung und Partizipation von Zuwanderern;

  • Bundesförderung für Migranten aus „einer Hand";

  • Multikulturelle Nachbarschaften brauchen Räume zur Förderung von Begegnung, Kommunikation und Nachbarschaft! (Förderung von Vernetzung und Ressourcenbündelung in Sozialräumen);

  • Unterstützung der Präventions- und Qualifikationsarbeit in allgemein-bildenden Schulen;

  • Unterstützung der elterlichen Erziehung, um den familiären Halt und die Erziehungskompetenz zu erhalten;

  • Verbesserung des Übergangs von den allgemeinbildenden Schulen in den Arbeitsmarkt (Berufsschulen, Beratungsstellen, Arbeitsamt) durch Ausbildungskonferenzen;

  • Begleitender Stützunterricht für Berufsschüler im Berufsvorbereitungsjahr und Berufsgrundbildungsjahr (analog abH).

Wenn die Bundesregierung, die Länder und die Kommunen ihre Vorhaben zur beruflichen Integration von Migranten und anderen Benachteiligten des Arbeitsmarktes erfolgreich weiterführen wollen, müssen sie ihr Handeln auch vernetzen, die finanzielle Basis dafür schaffen und strukturelle Anforderungen für die Qualität der Angebote entwickeln und einfordern.

Literatur

  • Arbeiterwohlfahrt Bundesverband, Fachwerk, 2/99, Bonn

  • Stadt Göttingen Kommunaler Workshop, Interkulturelle Kompetenz in Kommunalverwaltung und Gemeinwesenarbeit 30.09. + 01.10.1999

  • BAG JAW, Jugend Beruf Gesellschaft, 37. Sozialanalyse, 9/99, Bonn

  • Jelloun, Tahar Ben, Papa, was ist ein Fremder? Berlin 1999

  • IZA, Zeitschrift für Migration und Soziale Arbeit, Heft 1/ 1997, Frankfurt

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