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Christian Pfeiffer/Peter Wetzels
Integrationsprobleme junger Spätaussiedler und die Folgen für ihre Kriminalitätsbelastung


In der Bundesrepublik stellen junge Aussiedler in mehrfacher Hinsicht eine besondere Gruppe unter den jungen Migranten dar. So ist für sie die BRD rechtlich wie tatsächlich vom ersten Tag der Zuwanderung ein Einwanderungsland. Kontroversen um die Bewertung dieser Zuwanderung als permanente Einwanderung bestehen, anders als bei anderen Migrantengruppen, in der politischen Debatte im Grunde hier nicht. Der rechtliche Status unterscheidet Aussiedler grundlegend von Flüchtlingen und Asylbewerbern, den beiden anderen Migrantengruppen, von denen in den letzten Jahren eine größere Zahl in die BRD gekommen ist. „Gastarbeiter" – bzw. mit einem anderen Begriff bezeichnet „Arbeitsmigranten" – wiederum, die abgesehen von denjenigen aus EU-Staaten kaum noch neu zu uns gelangen (es sei denn im Rahmen des rechtlich ebenfalls begrenzten Familiennachzuges), haben zumeist ebenfalls keine deutsche Staatsbürgerschaft erworben. Sie halten sich in der Mehrzahl jedoch schon relativ lange in der BRD auf, während die Spätaussiedler im Kontrast dazu zu einem wesentlichen Anteil erst relativ kurz in der BRD leben, aber rechtlich den Status deutscher Staatsbürger haben. Diese Besonderheiten machen Aussiedler sowohl für allgemeinere sozialwissenschaftliche Analysen von Migration als auch für Fragestellungen im Kontext von Migration und Kriminalität zu einer besonders interessanten Gruppe. Sie legen nahe, die hier zu diskutierende Problematik vergleichend zu analysieren.

Mit der bereits angesprochenen Aufenthaltsdauer ist auch eine wesentliche Binnendifferenzierung bei Aussiedlern benannt, die unter sozialwissenschaftlicher Perspektive zu beachten ist. Ab 1992 wurde die rechtliche Situation immigrierender junger Aussiedler in wichtigen Aspekten verändert. Ohne im Detail darauf einzugehen kann man sagen, daß es sich um gesetzliche Veränderungen handelt, welche u.a. auch Integrationsprozesse erschweren. Schon insofern ist die Beachtung des Zuwanderungszeitpunktes

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bzw. der Aufenthaltsdauer unter der gegebenen Fragestellung wissenschaftlich wie auch praktisch relevant.

Die Zuwanderung von Aussiedlern erfolgte in Wellen verschiedener Gruppierungen. Insgesamt wanderten zwischen 1988 und 1998 ca. 2,4 Millionen Spätaussiedler in die BRD ein.

Abbildung 1: Einwanderung von deutschen Aussiedlern von 1950 bis 1997

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Quelle: Info-Dienst Deutsche Ausländer Nr. 99, September 1998: Bonn

Während zu Beginn Aussiedler aus Polen und Rumänien einen großen Anteil bildeten, sind unter den Aussiedlern in jüngster Zeit mehrheitlich Familien aus der früheren Sowjetunion, insbesondere aus Russland und Kasachstan zu finden. Ursache sind nicht zuletzt Veränderungen gesetzlicher Vorgaben, bspw. im Hinblick auf die Annahme eines Vertreibungsdrucks als Voraussetzung der Einwanderung (vgl. Silbereisen, Rodermund & Lantermann, 1999).

Aus der Praxis von Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichten sowie aus den Erfahrungen im Strafvollzug scheinen sich nun Anhaltspunkte dafür zu

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ergeben, daß junge Aussiedler in besonderem Maße strafrechtlich auffällig werden. Die Möglichkeiten, dies anhand von aggregierten Statistiken der Polizei oder der Staatsanwaltschaften, Gerichte sowie des Justizvollzuges zu analysieren, stoßen jedoch auf die Schwierigkeit, daß in den vorhandenen Statistiken die jungen Aussiedler in der Regel als deutsche Staatsbürger geführt sind, die von einheimischen Deutschen, die nicht aus Osteuropa zugewandert sind, nicht mehr unterschieden werden können. Von daher ist ein Zugang im Grunde nur über Primärerhebungen möglich.

In diesem Sinne wurde 1998 von Pfeiffer und Dworschak eine bundesweite Abfrage bei Justizvollzugsanstalten durchgeführt, um zu ermitteln, in welchem Maße sich unter den Inhaftierten auch junge Aussiedler befinden (vgl. Pfeiffer & Dworschak 1999). Es wurden 21 westdeutsche Anstalten, die für männliche Jugendliche und Heranwachsende zuständig sind, angeschrieben. Davon haben 19 geantwortet. Gefragt wurde, welchen Anteil die jungen Aussiedler und Nichtdeutschen unter den Gefangenen des Jahres 1998 erreicht haben. Die Daten der 19 westdeutschen Jugendstrafanstalten, die die erbetenen Angaben übermitteln konnten, zeigen, daß die Quote der Aussiedler zwischen 4,1% und 21,6% lag. Im Durchschnitt über alle Anstalten betrug sie 10,0%. Damit lag der Anteil junger Aussiedler im Strafvollzug im Mai 1998 etwa doppelt so hoch als ihr von Pfeiffer und Dworschak für die gesamte BRD geschätzter Anteil an der Bevölkerung in der Altersgruppe der 14- bis unter 21-jährigen von ca. 5 %. [Da die ca. 2,3 Millionen zugewanderten Aussiedler ihren Wohnsitz vor allem in den alten Bundesländern haben, errechnet sich für diese ein Bevölkerungsanteil in Westdeutschland von ca. 3,4 %. Wir gehen davon aus, daß der Anteil der Jugendlichen und Heranwachsenden in den Familien der Aussiedler um 30 bis 50 % höher liegt als in der sonstigen westdeutschen Bevölkerung. Daraus ergibt sich eine geschätzte Quote der 14- bis unter 21jährigen Aussiedler an der gleichaltrigen Wohnbevölkerung von ca. 4,5 bis 5,2 %.]
Allerdings kann dies nicht ohne weiteres als ein Beleg für eine tatsächlich höhere Kriminalitätsbelastung junger Aussiedler herangezogen werden, da sowohl eine höhere Anzeigeneigung gegenüber Aussiedlern als auch eine selektive Sanktionspraxis speziell gegenüber dieser Gruppe nicht grundsätzlich auszuschließen ist. Der Bezug zur Wohnbevölkerung beruht zudem nur auf geschätzten Werten. Weiter ist nicht auszuschließen, daß junge Aussiedler in bestimmten Gebieten besonders konzentriert leben, die möglicherweise a priori in höherem Maße problembehaftet sind. Gleichwohl ist nicht hin-

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weg zu diskutieren, daß im Bereich des Strafvollzuges junge Aussiedler eine relevante Teilgruppe darstellen, die dort überproportional vertreten ist.

Erkenntnisse aus der polizeilichen Statistik sind zu diesem Problem nur mit Vorbehalten zu gewinnen. So wurden tatverdächtige Aussiedler bisher in den meisten Bundesländern nicht gesondert registriert. Und auch dort, wo das neuerdings geschieht (z.B. in Bayern), wurden noch keine gesonderten Tabellen für Aussiedler im Vergleich zu anderen Deutschen veröffentlicht. Um dennoch Aussagen über die Kriminalitätsbelastung von Aussiedlern treffen zu können, haben Pfeiffer, Brettfeld und Delzer 1996 für Niedersachsen eine Analyse von Aggregatdaten durchgeführt (vgl. Pfeiffer, Brettfeld & Delzer 1996). Diese Untersuchung wurde 1997 wiederholt. Für jeden Landkreis und für jede kreisfreie Stadt Niedersachsens wurden hierzu die Zuwanderungszahlen von Aussiedlern ermittelt. Auf Grundlage dieser Informationen wurden Landkreise mit besonders hohen Zuwanderungsraten verglichen mit Landkreisen, wo diese Zuwanderung besonders niedrig war. Von diesen beiden Landkreisgruppen wurden mit Unterstützung des Landeskriminalamtes Niedersachsen regionale Sonderauswertungen der Polizeilichen Kriminalstatistik durchgeführt.

Eine vergleichende Auswertung der Kriminalitätsentwicklung in den beiden Landkreisgruppen ergab, daß die Häufigkeitsziffern (Anzahl der registrierten Delikte relativiert auf die Bevölkerungszahl) in der Landkreisgruppe A (hoher Aussiedlerzuzug) stark angestiegen sind, während in der Landkreisgruppe B (geringer Aussiedlerzuzug) sowie in Gesamt-Niedersachsen weniger starke Anstiege oder sogar ein Rückgang der Kriminalitätsbelastung zu verzeichnen war. Die nachfolgende Abbildung zeigt die zwischen 1990 und 1997 eingetretenen Veränderungen der Häufigkeitsziffern (d.h. Anzahl der Delikte relativiert auf 100.000 der Bevölkerung) im Vergleich der Landkreise. Die Gesamtanalyse enthält die Zahlen der registrierten Vorfälle, sie differenziert noch nicht nach der Nationalität der Tatverdächtigen.

Während die Anzahl der polizeilich registrierten Straftaten (ohne Verkehrsdelikte) pro 100.000 Einwohner in der Landkreisgruppe A um 13,2 % angestiegen ist, war in der Landkreisgruppe B im Vergleich der Jahre 1990 und 1997 ein Rückgang um 2,6 % zu verzeichnen. Diese Unterschiede beruhen auf der gegenläufigen Entwicklung im Bereich der Diebstahlsdelik-

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te, die in den A-Landkreisen – entgegen dem landesweiten Trend – angestiegen sind, während in den B-Landkreisen ein Rückgang zu verzeichnen war. Bei den Gewaltdelikten zeigen sich hingegen in beiden Landkreisgruppen Anstiege in der Häufigkeitsziffer - diese fallen allerdings in der Landkreisgruppe A um das 5,7fache stärker aus als in den B-Landkreisen.

Abbildung 2: Registrierte Straftaten pro 100.000 Einwohner in den Landkreisgruppen A und B sowie in Gesamt-Niedersachsen; Veränderungsquoten 1990-1997.

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Diese Ergebnisse alleine erlauben aus einer Reihe von Gründen keine Aussage dazu, ob ganz bestimmte Personengruppen, insbesondere Aussiedler, vermehrt als Täter in Erscheinung treten. Beispielsweise wäre ein Anstieg der Kriminalität in Landkreisen mit hoher Zuwanderung sowohl damit zu vereinbaren, daß junge Aussiedler vermehrt Opfer werden, als auch damit, daß sie besonders oft Täter sind. Zudem enthalten die obigen Daten auch die Ereignisse, welche auf Ausländer zurückzuführen sind.

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Eine weitere Analyse der Tatverdächtigenziffern (d.h. Anzahl der Tatverdächtigen je 100.000 der Bevölkerung), und zwar begrenzt auf die deutschen Jugendlichen und Heranwachsenden im Alter von 14- bis unter 21 Jahren (also begrenzt auf die Gruppe, in der sich die jungen Aussiedler finden), ergab jedoch immer noch deutliche Unterschiede zwischen den beiden Landkreisgruppen. Diese sind also nicht auf die Tatverdächtigenziffern der Ausländer zurückzuführen.

Abbildung 3: 14- bis unter 21jährige deutsche Tatverdächtige pro 100.000 Einwohner in den Landkreisgruppen A und B; verschiedene Delikte; Veränderungsquoten 1990-1997

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Am deutlichsten fallen die Unterschiede im Bereich des Ladendiebstahles aus. Hier steht ein Anstieg um 151,2 % in der Landkreisgruppe A einem Anstieg um 17,0 % in der Landkreisgruppe B gegenüber. Auch bei den Gewaltdelikten (Raub, gefährliche/schwere Körperverletzung sowie Gewaltdelikte insgesamt) fallen die Anstiegsquoten der Tatverdächtigenziffern der deutschen Jugendlichen und Heranwachsenden in den Landkreisen mit hohem Aussiedlerzuzug etwa doppelt so hoch aus wie in den Vergleichslandkreisen.

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Aber auch diese Daten sind sehr zurückhaltend zu interpretieren. So ist es eine offene Frage, ob die Anzeigebereitschaft gegenüber verschiedenen Nationalitäten bzw. ethnischen Gruppen nicht systematische Unterschiede aufweist. Die Tatverdächtigenstatistik enthält nur jenen Teil der Vorfälle, die polizeilich aufgeklärt werden konnten. Es ist fraglich, inwiefern sich die Aufklärungsquoten der Polizei zwischen verschiedenen Tätergruppen systematisch unterscheiden. Und schließlich kann aus dem Umstand, daß zwei Ereignisse (Zuwanderung und Kriminalitätsanstieg) sich gleichzeitig ereignen, nicht ohne weiteres auf einen kausalen Zusammenhang geschlossen werden, dies wäre ein sogenannter ökologischer Fehlschluss. So wäre durchaus denkbar, daß eine dritte Variable (etwa soziale Rahmenbedingungen für Jugendliche und deren Familien) sich zwischen den Landkreisen unterscheidet und für dieses Ergebnis ursächlich ist. Wenn das so wäre, würde man jedoch erwarten, daß sich auch die Tatverdächtigenziffern der Nichtdeutschen zwischen diesen Landkreisen unterscheiden. Eine Analyse dieser Tatverdächtigenziffern der Nichtdeutschen ergibt jedoch keine derartigen Unterschiede. Dies ist, allerdings nur ein indirekter, Hinweis darauf, daß es vermutlich nicht systematische Veränderungen der sozialen Rahmenbedingungen der Landkreise sind, die den oben dargestellten Befund erklären. Auszuschließen ist dies jedoch nicht, da im Falle eines besonders hohen Zuzuges von jungen Aussiedlern sich durchaus die sozialen Lebensbedingungen speziell für sie und speziell in den fraglichen Landkreisen nachhaltig verschlechtert haben könnten, bspw. weil die entsprechenden Budgets der Kommunen überfordert gewesen sein könnten, dieses Ausmaß von Zuzug aufzufangen. In jedem Fall ist es aber gerechtfertigt festzustellen, daß im Falle eines hohen Aussiedlerzuzuges in den untersuchten Landkreisen vermehrt Probleme im Hellfeld der untersuchten Landkreise registriert wurden. Inwieweit es sich um ein für niedersächsische Landkreise regional spezifisches Phänomen handelt, ist mit diesen Daten jedoch nicht zu beantworten. Insgesamt beschreiben die Daten insoweit ein Hellfeldphänomen, welches die Grundlage für Eindrucksbildungen bei Praktikern sein kann, ohne daß wir daraus gesicherte Erkenntnisse zur Kriminalitätsbelastung von jungen Aussiedlern ableiten können. Die Daten sind lediglich als deutliches Indiz für die Integrationsprobleme der jungen Aussiedler zu bewerten. Zur Abrundung des Gesamtbildes benötigen wir jedoch Erkenntnisse aus dem Dunkelfeld der nicht angezeigten Straftaten. Erste Teilein-

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blicke ermöglicht insoweit eine vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen im Jahr 1998 durchgeführte Schülerbefragung, die sich allerdings vor allem auf Großstädte konzentriert hat. Im Hinblick auf die Frage der Kriminalitätsbelastung von jungen Aussiedlern ist dies deshalb ein Nachteil, weil Probleme mit dieser Gruppe von jungen Migranten bisher vor allem aus ländlichen Regionen gemeldet werden, wenn es dort zu einer starken Ansiedlungskonzentration von Aussiedlern gekommen ist. Trotzdem versprechen auch die in den Städten durchgeführten Schülerbefragungen wichtige Erkenntnisse. Die Tabelle 1 zeigt die Verteilung der ethnischen Zugehörigkeit der befragten Jugendlichen in diesen Städten.

Unter den 16.190 befragten Schülern waren auch 1049 junge Aussiedler, etwa je zur Hälfte aus GUS-Staaten und anderen osteuropäischen Ländern. Sie haben einen Anteil von 6,6% an der Gesamtstichprobe über alle Städte hinweg. Es fällt allerdings auf, daß die ethnische Zusammensetzung der Jugendlichen in den verschiedenen Städten recht heterogen ist.

In dieser Befragung wurden umfangreiche Informationen zur sozialen Lage, zu Opfererfahrungen, Anzeigeverhalten, zu Merkmalen der Täter (von denen ein Opfer betroffen war) sowie zur selbstberichteten Delinquenz erhoben. Es handelt sich um Daten, die aus unterschiedlichen Perspektiven (Opfer, Zeuge, Täter) Informationen dazu enthalten, ob Aussiedler durch eine erhöhte Delinquenzbelastung (hier bezogen auf Gewaltdelikte) charakterisiert sind und wie sich das womöglich im Hellfeld darstellen könnte. Die Erhebung von familiären Erfahrungen und von Indikatoren der sozialen Lage erlaubt zudem in einigen Bereichen eine Prüfung von Erklärungsansätzen für die zu beobachtenden Phänomene.

Die soziale Lage der Familien der jungen Aussiedler erweist sich dabei im Vergleich zur Lage der einheimischen Deutschen als bedeutend schlechter. 25% der Aussiedlerfamilien aus GUS-Staaten waren von Arbeitslosigkeit betroffen oder von Sozialhilfe abhängig, von den einheimischen Deutschen hingegen nur 9,1%. Interessant ist nun aber, daß die Rate der von Arbeitslosigkeit und/oder Sozialhilfeabhängigkeit betroffenen Familien bei den jungen Aussiedlern mit zunehmender Aufenthaltsdauer drastisch absinkt. Bei den Familien der Ausländer ist das nicht so stark ausgeprägt. So weisen Jugendliche aus Aussiedlerfamilien, die bereits in der BRD geboren wurden,

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Tabelle 1: Jugendliche nach ethnischer Zugehörigkeit im Städtevergleich


Kiel
%
Ham-
burg
%
Hannover
%
Wunstorf
%
Lilien-
thal
%
Leipzig
%
Stutt-
gart
%
Schw.
Gmünd
%
Mün-
chen
%
%
total
deutsch, einheimisch 83,5 67,8 65,6 87,9 94,4 99,0 57,6 66,0 63,5 71,5
Aussiedler aus GUS 1,1 4,8 7,0 1,0 0,6 0,1 2,6 9,1 0,6 3,3
Aussiedler, andere 4,0 4,2 4,9 1,3 1,1 0,1 4,2 4,8 2,1 3,3
eingebürgert, Türkei 1,2 1,0 1,4 - - - 1,1 0,4 0,9 0,8
eingebürgert, andere 1,8 3,6 3,2 1,5 1,7 0,4 3,5 1,7 5,5 3,1
Ausländer, türkisch 5,5 7,5 7,3 4,1 1,1 0,1 8,3 8,9 8,7 6,6
Ausländer, ehem. Jugosl. 0,6 2,7 2,4 0,3 0,6 - 11,1 4,4 9,7 4,6
Ausländer, Südeuropa 0,2 1,7 2,0 2,3 - 0,1 8,4 2,9 2,6 2,4
Ausländer, sonstige 2,1 6,7 6,1 1,5 0,6 0,3 3,2 1,8 6,5 4,4
N 1257 3462 2248 390 178 2136 1791 1264 3293 16019*
* In 171 Fällen war eine eindeutige Feststellung der ethnischen Herkunft der Jugendlichen nicht möglich.


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eine Rate für Arbeitslosigkeit/Sozialhilfebezug von 4,5% auf. Junge Ausländer der zweiten Generation, die in der BRD geboren wurden, sind hingegen mit 12,3% nahezu dreimal so oft in dieser Weise mitbetroffen.

Abbildung 4: Raten der Familien Jugendlicher, die von Arbeitslosigkeit/Sozialhilfeabhängigkeit betroffen sind für Aussiedler und Ausländer nach Aufenthaltsdauer (Gesamtstichprobe neun Städte)

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Weiter fanden wir, daß junge Migranten generell ein geringeres Bildungsniveau aufweisen als einheimische Deutsche, wobei diese signifikant niedrigere Bildung der Jugendlichen bei jungen Ausländern besonders stark ausgeprägt ist. Das zeigt sich deutlich an den Unterschieden, die im Vergleich der verschiedenen Gruppen zur Rate der Gymnasiasten auftreten.

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Abbildung 5: Anteile der Jugendlichen an verschiedenen Schulformen nach nationalem Status (Gesamtstichprobe neun Städte)

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Betrachtet man die Aussiedler auf der einen und die Ausländer auf der anderen Seite nun jedoch in Abhängigkeit von ihrer Aufenthaltsdauer, so differenziert sich dieses Bild deutlich.

Abbildung 6: Rate der Gymnasiasten für Aussiedler und Ausländer nach Aufenthaltsdauer (Gesamtstichprobe neun Städte)

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Je länger die Aufenthaltsdauer der in Deutschland lebenden Aussiedler, desto höher ist auch ihre Rate an Gymnasiasten (bzw. generell, desto höher ist ihr Bildungsniveau). Bei den jungen Ausländern ist dies so nicht anzutreffen. Nun handelt es sich hier allerdings um Querschnittdaten. Der Befund könnte demzufolge auch daraus resultieren, daß in früheren Jahren insbesondere Familien mit hohem Bildungsaspirationsniveau aus Osteuropa in die BRD zugewandert sind, während das heute so nicht mehr der Fall ist. Dies wäre dann kein Indikator für einen Integrations-, sondern ein Hinweis auf einen zeitlich gestaffelten Selektionsprozess. Es könnte aber auch bedeuten, daß mit zunehmender Dauer des Aufenthaltes junge Aussiedler sich auch schulisch besser integrieren, während bei Ausländern dies nicht zu beobachten ist.

Es spricht einiges dafür, daß auch hier Selektionsprozesse relevant sind. Vergleicht man beispielsweise den beruflichen Bildungsabschluss des Vaters für Aussiedler und Ausländer nach der Aufenthaltsdauer, so zeigt sich ein interessanter gegenläufiger Befund. Während die Väter der Aussiedler, die vor längerer Zeit in die BRD immigrierten, weitaus höhere Raten an Universitäts- oder Fachschulabschlüssen aufweisen als die Väter der erst kürzlich eingewanderten, ist dies bei den jungen Ausländern tendenziell umgekehrt. Letzteres könnte das Resultat davon sein, daß die 1993 erfolgte Veränderung des Asylrechts die Zuwanderung von verarmten sozialen Randgruppen aus den osteuropäischen Nachbarländern stark reduziert hat, während andererseits qualifizierten Fachkräften aus dem Ausland zunehmend die Möglichkeit geboten wurde, eine zeitlich befristete Arbeitserlaubnis zu erhalten. Bei den Aussiedlern dagegen spielt möglicherweise eine Rolle, daß in der zweiten Hälfte der 80-er Jahre zunächst diejenigen die Ausreise nach Deutschland gewagt haben, die sich aufgrund eines hohen Ausbildungsstandards zutrauten, in Deutschland Fuß zu fassen. Nachdem sich abzeichnete, daß ihnen dies überraschend gut gelungen war, folgte Anfang der 90er Jahre eine massenhafte Auswanderung nach Deutschland, an der sich nun auch viele beteiligten, die von ihrer Berufsausbildung her weniger gut qualifiziert waren. Die Tatsache, daß der Anteil der Väter mit Fachschul- oder Hochschulabschluss in den letzten Jahren wieder deutlich angestiegen ist, hängt möglicherweise mit den Sprachprüfungen zusammen, die neuerdings vor einer Anerkennung als Spätaussiedler absolviert werden müssen.

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Abbildung 7: Rate der Väter mit Fachschul- oder Hochschulabschluss bei Ausländern und Aussiedlern nach Aufenthaltsdauer

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Beide Indikatoren, also sowohl die sozioökonomische Lage der Familien als auch die Bildungsniveaus der Jugendlichen weisen also einen deutlichen Zusammenhang mit der Aufenthaltsdauer auf, und zwar bei Aussiedlern einen anderen als bei Ausländern. Lange in der BRD lebende Aussiedler sind in diesem Sinne deutlich besser gestellt als lange in der BRD lebende Ausländer. Ferner ist das durchschnittliche berufliche Ausbildungsniveau der Väter junger Aussiedler bei den länger in der BRD lebenden Familien deutlich höher als das bei den Vätern junger Ausländer der Fall ist.

Im Rahmen unserer Erhebung wurden die Jugendlichen gebeten, Angaben dazu zu machen, ob sie im letzten Jahr Opfer eines Gewaltdeliktes waren. Es wurden dazu fünf Delikte erfragt (Raub, Erpressung, sexuelle Gewalt, Körperverletzung mit einer Waffe sowie eine relevante Körperverletzung ohne Waffenanwendung). [ Um bagatellhafte Vorkommnisse nicht in die Zählung aufzunehmen, waren die Jugendlichen instruiert worden, daß Rangeleien unter Gleichaltrigen hier nicht gemeint seien, insbesondere nicht solche, die unter Gleichaltrigen im Spaß geschehen. Ferner waren Körperverletzungen ohne Waffen eingeschränkt worden auf Vorfälle, aus denen eine relevante Verletzung resultierte. Als Beispiel war hier eine blutende Wunde genannt worden.]
In der folgenden Grafik sind, getrennt für die verschiedenen ethnischen Gruppen, die Raten der Personen angegeben,

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welche im Jahr 1997 mindestens einmal Opfer eines Gewaltdeliktes gewesen sind. Danach waren junge Ausländer signifikant seltener Opfer als einheimische Deutsche, Eingebürgerte oder Aussiedler. Innerhalb der Aussiedlergruppe weisen dabei die Aussiedler aus den ehemaligen GUS-Staaten eine niedrigere Opferrate auf als Aussiedler aus anderen osteuropäischen Ländern.

Abbildung 8: Rate der Befragten, die 1997 Opfer mindestens eines Gewaltdeliktes war, nach ethnischer Gruppe (Gesamtstichprobe aus allen Städten)

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Interessant sind nun die Angaben der Jugendlichen dazu, ob sie die Vorfälle, denen sie zum Opfer fielen, bei der Polizei angezeigt haben. Generell wird die weit überwiegende Mehrzahl der Vorfälle von jugendlichen Opfern der Polizei nicht mitgeteilt. Es finden sich jedoch bedeutsame Unterschiede zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen. Die Gruppe mit den höchsten Opferraten, die jungen Aussiedler aus Ländern außerhalb der GUS-Staaten, zeigen am seltensten an. Demgegenüber liegt die Anzeigequote der jugendlichen Türken mit 15,4% nahezu doppelt so hoch. An zweithöchster Stelle liegt die Anzeigequote für Vorfälle, welche den einheimischen Deutschen widerfahren sind.

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Abbildung 9: Anzeigequoten 1997 bei jugendlichen Opfern von Gewaltdelikten nach ethnischer Herkunft (Gesamtstichprobe aus neun Städten)

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Die Opfer der Gewaltdelikte wurden ferner genauer nach dem zeitlich allerletzten Gewaltdelikt befragt. Diese Fragen betrafen das Alter und die Anzahl der Täter (Gruppendelikt oder Tat eines einzelnen), das Geschlecht des/der Täter(s) sowie deren vermutete ethnische Zugehörigkeit. Angaben der Opfer zur ethnischen Zugehörigkeit der Täter erfolgen in vielen Fällen vermutlich aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes und der manchmal allerdings nur knappen sprachlichen Interaktion, die vor der Tat zwischen Täter und Opfer stattgefunden hat. Sie sind von daher mit Zurückhaltung zu betrachten, da sie vorurteilsbehaftet sein können und nicht in gleicher Exaktheit vorliegen, wie die ethnische Zugehörigkeit der Opfer selbst. Um dem gerecht zu werden, wurden die Angaben der Opfer zur Nationalität der Täter grob in vier Gruppen kategorisiert: Deutsche, Türken, Osteuropäer und andere Ausländer. Vergleicht man nun die Rate der Vorfälle, die von den Opfern angezeigt wurden, nach der von den Opfern angegebenen (oftmals nur vermuteten) ethnischen Zugehörigkeit der Täter, so zeigt sich, daß die als Osteuropäer eingeschätzten Täter am häufigsten angezeigt wurden. Ihre Anzeigequote liegt um ca. 4 Prozentpunkte höher als im Falle türkischer Täter oder von Tätern aus anderen Ethnien. Am geringsten ist die

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Anzeigequote in den Fällen, in denen das Opfer von einem einheimischen deutschen Täter betroffen war.

Abbildung 10: Anzeigeverhalten von Opfern in Abhängigkeit von der vermuteten ethnischen Herkunft der Täter

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In Kombination mit der Anzeigebereitschaft junger Aussiedler als Opfer lässt sich bis hier also festhalten: Junge Aussiedler werden häufiger Opfer als Ausländer und etwa genauso oft wie einheimische Deutsche. Wenn sie Opfer werden, zeigen sie seltener an als junge Ausländer und auch erheblich seltener als einheimische Deutsche. Wenn sie allerdings Täter sind, dann werden sie möglicherweise häufiger angezeigt. Dies ergibt sich zumindest aus ihrer Zugehörigkeit zu den osteuropäischen Jugendlichen. Dies wiederum könnte dazu beitragen, daß junge Aussiedler häufiger als Tatverdächtige bekannt werden, als es ihrem tatsächlichen Anteil an den Tätern entsprechen würde. Gesicherte Erkenntnisse vermitteln allerdings auch diese Daten noch nicht, weil wir bei den Angaben der Opfer nicht nach Aussiedlern und anderen jungen Osteuropäern unterscheiden können.

Eine weitere Frage, der wir nachgegangen sind, war die danach, wie sich die Kombinationen von Tätern und Opfern im Hinblick auf ihre ethnische Zugehörigkeit darstellen. In Tabelle 2 sind die Angaben von 2349 Opfern aus den neun Städten unserer Dunkelfeldstudie wiedergegeben, bei denen

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sowohl die eigene ethnische Herkunft eindeutig war als auch Angaben zur vermuteten ethnischen Herkunft der Täter vorlagen. Die Angaben beziehen sich auf 2848 Täter. Die ethnische Herkunft der Opfer wurde in gleicher Weise codiert wie die Angaben zur ethnischen Herkunft der Täter.

Es zeigt sich: 31,4% aller Täternennungen entfallen auf einheimische deutsche Täter. Angesichts der Tatsache, daß 71,5% aller Befragten einheimische Deutsche sind, ist dieser Anteil – auch wenn man davon ausgeht, daß es zu Fehleinschätzungen der ethnischen Zugehörigkeit gekommen sein kann – deutlich unter dem Erwartungswert. Interessant dabei ist, daß ausländische Opfer unterdurchschnittlich häufig deutsche Täter nennen. So tauchen zum Beispiel nur in 19,1% der Nennungen von türkischen Opfern Deutsche als Täter auf. Bemerkenswert ist weiter, daß mit Ausnahme der türkischen Opfer alle übrigen Opfergruppen häufiger, als die Randwahrscheinlichkeiten das erwarten ließen, von Angehörigen der eigenen Ethnie betroffen waren. So sind zum Beispiel 8,9% aller Täter Osteuropäer, aber 16,8% aller osteuropäischen Opfer benennen Täter aus Osteuropa. Für die Gruppe der Türken hingegen gilt, daß sie 28,9% aller Täternennungen ausmacht, von den türkischen Opfern hingegen werden nur 26% der Täternennungen auf Türken bezogen.

Betrachtet man alle Kombinationen, in denen Angaben zur Ethnie von Täter und Opfer vorliegen, so waren 57,8% Vorfälle zwischen verschiedenen Ethnien. Bewertet man eine fehlende Angabe dergestalt, daß die Täter zumindest nicht die gleiche ethnische Herkunft hatten wie die Opfer, so erhöht sich dieser Anteil sogar auf 68,7%.

Mit anderen Worten: In etwa zwei Drittel der Gewaltkonflikte, die uns von den Jugendlichen aus den neun Städten berichtet wurden, handelt es sich um Auseinandersetzungen zwischen den Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen. Daraus wird deutlich, in welchem Ausmaß die Zuwanderung aus den osteuropäischen Nachbarländern und das damit verbundene Anwachsen der sozialen Gegensätze das Konfliktpotential in den Großstädten erhöht hat.

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Tabelle 2: Täter-Opfer-Kombinationen nach ethnischer Herkunft
(letztes Delikt in neun Städten einschl. Leipzig, Basis sind die Nennungen durch Opfer)

Opfer deutsch osteuropäisch türkisch andere
Ausländer
gesamt

% n % n % n % n % N
Täter

%
%
%
%
%
deutsch % n
34.4 753 18.8 36 19.1 25 23.6 79 31.4 893


%
84.3
4.0
2.8
8.8
100
ost-
europäisch
% n
8.4 185 16.8 32 6.1 8 8.4 28 8.9 253


%
73.1
12.6
3.2
11.1
100
türkisch % n
28.7 628 29.8 57 26.0 34 30.7 103 28.9 822


%
76.4
6.9
4.1
12.5
100
andere
Ausländer
% n
13.3 292 18.3 35 25.2 33 22.4 75 15.3 435


%
67.1
8.0
7.6
17.2
100
unbekannte Herkunft % n
15.2 333 16.2 31 23.7 31 14.9 50 15.6 445


%
74.8
7.0
7.0
11.2
100
gesamt % n
100 2151 100 191 100 131 100 335 100 2848


%
76.9
6.7
4.6
11.8
100


[Seite der Druckausg.: 45 ]

Die Schülerinnen und Schüler wurden ferner um Angaben dazu gebeten, ob und wie oft sie in den letzten zwölf Monaten selbst aktiv gewalttätig waren. Die erfaßten Delikte waren Erpressung, Raub, Bedrohung mit Waffen und Körperverletzung. Auch hier war der Hinweis erfolgt, daß Vorfälle bei Rangeleien zwischen Gleichaltrigen nicht aufgeführt werden sollten, um den Anteil stark bagatellhafter Ereignisse zu reduzieren.

In der folgenden Darstellung sind die Raten aktiver Gewalttäter wiedergegeben. Dabei wird zwischen einmalig gewalttätigen, 2- bis 4mal gewalttätigen und Tätern mit 5 und mehr selbstberichteten Gewalthandlungen für die letzten 12 Monate unterschieden. Die Abbildung zeigt, daß die Täterraten der jungen Aussiedler aus GUS-Staaten in etwa denen der jungen Deutschen entsprechen. Die Täterraten der Aussiedler aus anderen Staaten fallen zwar etwas höher aus als bei den einheimischen Deutschen. Auch sie liegen jedoch noch deutlich unter den Raten der meisten anderen Gruppen von jungen Migranten.

Abbildung 11: Selbstberichtete Gewaltdelinquenz nach Intensitätsstufen in den letzten 12 Monaten für verschiedene ethnische Gruppen

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Die Schülerbefragung hat ferner einen aus den Hellfelddaten bekannten Befund bestätigt, wonach männliche Jugendliche in weit höherem Maße mit Gewaltaktivitäten in Erscheinung treten als weibliche Jugendliche. Dieser Unterschied der Geschlechter ist bei den jungen Ausländern besonders ausgeprägt, wie folgender Vergleich für Mehrfachtäter dokumentiert.

Abbildung 12: Mehrfachtäter (5 und mehr Delikte) nach ethnischer Herkunft und Geschlecht

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Multivariate Analysen, auf die hier nicht im Detail eingegangen werden soll (vgl. dazu Wetzels et al., im Druck), zeigen ferner, daß die in der Abbildung erkennbaren Unterschiede im Delinquenzverhalten der Mädchen dann entfallen, wenn man die soziale Lage der Familien und das Bildungsniveau der Jugendlichen konstant hält. Das Gleiche gilt im Hinblick auf die männlichen jungen Aussiedler im Vergleich zu ihren einheimischen deutschen Alterskollegen. Männliche türkische Befragte dagegen weisen auch dann eine signifikant höhere Rate von Mehrfachtätern auf, wenn man die sozialen Belastungsfaktoren konstant hält.

Auch die Mitgliedschaft in sehr devianten Cliquen, welche für einen überproportional großen Teil der Gewalttaten verantwortlich sind, findet sich bei männlichen jungen Aussiedlern signifikant seltener als bei jungen

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männlichen Ausländern. Der Unterschied zu einheimischen Deutschen ist nur sehr gering.

Abbildung 13: Mitgliedschaft in sehr devianten, gewaltbereiten Cliquen bei Jungen nach nationalem Status

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Sind damit junge Aussiedler entgegen dem, was sich zu Beginn dieses Referates abgezeichnet hatte, doch keine Problemgruppe? Auf den ersten Blick erscheint dies in der Tat so. Ihre selbstberichtete Gewalt ist niedriger als bei Ausländern; bei multivariater Kontrolle besteht kein Unterschied zu den einheimischen Deutschen mehr; der Anteil in devianten Cliquen ist niedriger als bei Ausländern und unterscheidet sich von der Rate bei den einheimischen Deutschen nur geringfügig; die Opfer berichten häufiger über Ausländer als Täter, Aussiedler werden nicht überproportional häufig genannt. Eine Reihe von Erkenntnissen scheint also in die Richtung zu weisen, daß die Eindrücke, wie sie insbesondere Polizeipraktiker aus Ballungsgebieten der Aussiedler schildern, verzerrt sein könnten. Dabei dürfen jedoch zwei Aspekte nicht übersehen werden. Zum einen hat sich unsere Schülerbefragung bisher vor allem auf Großstädte konzentriert. Insbesondere fehlen Erkenntnisse aus den ländlichen Regionen, in denen es zu einer starken Konzentration von Aussiedlern gekommen ist. Zum anderen haben wir bisher noch nicht nach der Aufenthaltsdauer der Jugendlichen differenziert.

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Dies soll nachfolgend zunächst im Hinblick auf junge Türken geschehen. Die Abbildung macht deutlich, daß die Rate aktiver junger türkischer Gewalttäter umso mehr anwächst, je länger die jungen Türken in Deutschland leben. Die höchste Quote selbstberichteter Gewaltdelinquenz ergibt sich für diejenigen, die in Deutschland geboren sind.

Abbildung 14: Raten aktiver junger türkischer Gewalttäter in den letzten 12 Monaten nach Aufenthaltsdauer in der BRD (nur nicht eingebürgerte türkische Jugendliche; Gesamtstichprobe neun Städte)

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Zu den jungen Aussiedlern zeigt die nachfolgende Abbildung einen vergleichbaren Befund. Er weicht nur in einem Punkt von dem der Türken deutlich ab. Die Gruppe der jungen Aussiedler, die seit ihrer Geburt in Deutschland leben, deren Familien also vor mehr als 14 Jahren zugewandert sind, reicht nur geringfügig von der Gewaltrate der einheimischen Deutschen (18,8 %) nach oben ab. Ansonsten aber gilt für die jungen Aussiedler, was sich bereits zu den jungen Türken gezeigt hat. Je länger sie in Deutschland leben, umso höher liegt der Anteil derjenigen, die nach eigenen Angaben Gewalttaten begangen haben. Die Rate der selbstberichteten Gewaltdelinquenz derjenigen, die zwischen neun und 14 Jahre in Deutschland leben, übersteigt die der einheimischen jungen Deutschen um etwa

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50 %. Zu beachten ist ferner, daß es sich bei dieser Gruppe von jungen Aussiedlern um solche handelt, deren Familien im Vergleich zu Ausländern mit derselben Aufenthaltsdauer sozial weit besser integriert sind und die auch im Durchschnitt ein höheres Ausbildungsniveau erreicht haben. Und noch etwas verdient in diesem Zusammenhang Beachtung. Ende der 80-er und Anfang der 90-er Jahre haben sich die Aussiedler vor allem in bestimmten ländlichen Regionen Deutschlands angesiedelt. Die Tatsache, daß in den letzten Jahren vor allem aus diesen Regionen über gravierende Kriminalitätsprobleme mit jungen Aussiedlern berichtet worden ist, wird also möglicherweise durch die hier berichteten Dunkelfeldbefunde bestätigt.

Abbildung 15: Raten selbstberichteter Gewaltdelinquenz unter Aussiedlern
in Abhängigkeit von ihrer Aufenthaltsdauer

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Was könnte nun diesen Befund erhöhter Delinquenzraten bei jungen Aussiedlern mit längerdauerndem Aufenthalt in der BRD erklären? Die Daten unserer Erhebung verweisen darauf, daß hier die familiäre Dynamik des Integrationsprozesses speziell bei Jugendlichen eine wichtige Größe sein könnte. In dem Prozess der Zuwanderung und Integration ereignen sich Veränderungen von Entwicklungsverläufen junger Menschen, welche die Familien vor Anpassungsprobleme stellen können. Wir haben zur familiären

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Situation, insbesondere dem subjektiv wahrgenommenen Familienklima, von den Jugendlichen mehrere Angaben erhoben, aus denen eine Skala der Wahrnehmung der Konflikthaftigkeit der Familiensituation gebildet wurde. Es zeigt sich, daß mit zunehmender Aufenthaltsdauer die von Jugendlichen wahrgenommene Konflikthaftigkeit des Familienklimas deutlich ansteigt. Dies veranschaulicht die folgende Abbildung des Mittelwertverlaufs in Abhängigkeit von der Aufenthaltsdauer.

Abbildung 16: Mittelwertverlauf der wahrgenommenen Konflikthaftigkeit des Familienklimas bei jungen Aussiedlern nach Geschlecht und Aufenthaltsdauer

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Wir deuten diese Befunde so, daß sich hier ein familieninterner Kulturkonflikt der Jugendlichen zeigt. Die jungen Zuwanderer kommen offenbar mit wachsender Aufenthaltsdauer immer stärker in Konflikte mit ihren Eltern. Während sie zunehmend die Normen und Werte aus dem Bereich der Gleichaltrigen in der deutschen Aufnahmegesellschaft adaptieren, finden sich in der eigenen Familie jedoch bei ihren Eltern vermutlich häufig noch normative Vorstellungen, die stärker dem Herkunftsland verpflichtet sind. Wie Schmitt-Rodermund und Silbereisen (1999) dazu anmerken, zeigen sich

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dazu deutliche Unterschiede der Entwicklungsfahrpläne zwischen jungen Deutschen auf der einen und Russlanddeutschen auf der anderen Seite. Das Alter, in dem Jugendliche zum ersten Mal von zu Hause fernbleiben oder ihre ersten sexuellen Erfahrungen machen, unterscheidet sich zwischen den Kulturen erheblich. Junge Russen in ihrem Heimatland weisen hier eine deutlich spätere Entwicklung auf. Wird dieser kulturspezifische Entwicklungsfahrplan im Falle der Migration verändert, kann das zu Anpassungsproblemen führen. Dies ist einer der möglichen Hintergründe für die Zunahme der wahrgenommenen Konflikthaftigkeit, wie sie in obiger Grafik illustriert wird. Die in der obigen Abbildung dargestellte Problematik der Migration schlägt sich auch direkt im Eltern-Kind-Verhältnis nieder. Das zeigt sich u.a. darin, daß die Rate der als Jugendliche von Eltern geschlagenen Kinder um so höher ist, je länger sich diese in Deutschland befinden. Insbesondere bei Jungen findet sich ein besonders deutlicher Zusammenhang (siehe Abbildung 17).

Während männliche Jugendliche, die sich erst seit zwei Jahren oder kürzer in der BRD aufhalten, nur zu 25,5% in den letzten 12 Monaten von ihren Eltern geschlagen wurden oder sonst physische Gewalt erlitten haben, sind dies in der Gruppe derer, die sich hier seit 7 und mehr Jahren aufhalten, über 40%. Bei den Mädchen zeigt sich auf einem höheren Niveau (was für hohe Konflikte spricht, wie sie sich auch schon beim Familienklima gezeigt haben), etwas tendenziell ähnliches.

Familiäre Konflikte, insbesondere innerfamiliäre Gewalt, stellen eine bedeutsame Lernerfahrung dar. Wie wir bereits zeigen konnten (vgl. Pfeiffer et al. 1998; Wetzels & Pfeiffer 1999) geht innerfamiliäre Gewalt mit einer Erhöhung der Gewaltbereitschaft und einem gesteigerten Risiko aktiven Gewalthandelns Jugendlicher einher. In Kombination mit geschlechtsspezifischen Normen, die dazu führen, daß vor allem bei Jungen Gewalt als Mittel der Konfliktlösung eher akzeptiert wird, trägt dies erheblich zur Erhöhung der Gewalt bei. Interessant ist hier nun, daß derartige innerfamiliäre Gewaltphänomene, insbesondere in ihren schweren Formen, bei jungen Aussiedlern seltener auftauchen als bei jungen Ausländern, was ein wichtiger Erklärungsansatz für die Unterschiede der Gewalttäterraten dieser Gruppen ist (siehe Abbildung 18).

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Abbildung 17: Physische Gewalt von Eltern gegenüber Jugendlichen in den letzten 12 Monaten bei jungen Aussiedlern nach Aufenthaltsdauer und Geschlecht

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Abbildung 18: Viktimisierung durch schwere elterliche Gewalt im letzten Jahr in verschiedenen ethnischen Gruppen (Gesamtstichprobe 9 Städte)

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Auf unterschiedlichen Gewaltniveaus bleibt gleichwohl die Feststellung zu treffen, daß innerfamiliäre Gewalt bei allen Migrantengruppen mit wach-sender Aufenthaltsdauer zunimmt. Gewalt und familiäre Konflikte gehen nicht nur mit erhöhter Delinquenz einher. Sie beeinträchtigen zudem ganz allgemein die Entwicklungschancen Jugendlicher. Ihre Schulnoten sind schlechter, ihre Bildungsabschlüsse sind niedriger. Sie erhöhen insofern auch langfristig Risiken sozialer Ausgrenzung und erzeugen Risikofaktoren, welche auch im Erwachsenenalter zu Delinquenz beitragen.

Wenn also innerfamiliäre Konflikte sowie das Risiko von Gewalt in Familien mit zunehmender Aufenthaltsdauer ansteigen, dann ist dies sowohl in einer kurz- als auch einer langfristigen Perspektive in kriminalpräventiver Hinsicht ein Alarmsignal, das die Richtung für nötige Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen andeutet.

Hinzu kommt ein anderer Aspekt, der für eine große Zahl von jungen Migranten Bedeutung haben dürfte. Je länger sie in Deutschland leben, umso mehr wachsen sie von ihren Konsumwünschen her in das Anspruchsniveau der deutschen Alterskollegen hinein. Dem steht jedoch nicht ein vergleichbarer Anstieg der sozialen Chancen gegenüber. Aus dieser wachsenden Diskrepanz zwischen den Wünschen auf der einen Seite und den legalen Realisierungsmöglichkeiten auf der anderen Seite ergibt sich für viele die frustrierende Situation des Zuschauers davon, daß sich die sozial Bessergestellten weit mehr leisten können. Daraus kann ebenfalls die Motivation erwachsen, sich mit Gewalt das zu holen, was man sonst nicht erreicht.

Insgesamt betrachtet zeigt sich damit, daß unsere Dunkelfeldstudie zu den Opfererfahrungen und der selbstberichteten Delinquenz die eingangs dargestellten Hellfeldbefunde zu den jungen Aussiedlern nur teilweise bestätigt. Eine im Vergleich zu einheimischen Deutschen erheblich höhere Rate der Jugendgewalt ergibt sich zu den jungen Aussiedlern nur im Hinblick auf jene, die seit mindestens neun Jahren und maximal 14 Jahren in Deutschland leben. Während der ersten beiden Jahre sind die jungen Aussiedler dagegen nach eigenen Angaben erheblich seltener gewalttätig als ihre einheimischen deutschen Alterskollegen. Bei der Interpretation dieser Befunde muß eines allerdings beachtet werden: Es handelt sich hier um Quer-

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schnittsdaten. Angesichts der Veränderungen, die sich zu den rechtlichen und sozialen Rahmenbedingungen der Integration junger Aussiedler abzeichnen, ist es eine offene Frage, ob die seit 1992 eingewanderten Neuankömmlinge in Zukunft eine vergleichbar günstige soziale Lage erreichen können, wie wir sie im Hinblick auf die vor 1992 in die BRD zugewanderten Aussiedlerfamilien feststellen können. Wir weisen insbesondere auf die Tatsache hin, daß wir beispielsweise im Hinblick auf den Ausbildungs- und Qualifikationsstand der Väter der jungen Aussiedler ein eher sinkendes Niveau feststellen können und daß die Unterstützungsleistungen des Staates seit 1992 abgesenkt wurden. Ferner ist zu beachten, daß wir die besonderen sozialen Problemlagen, die sich in ländlichen Zuwanderungsregionen der Aussiedler ergeben haben, mit der von uns durchgeführten Schülerbefragung bisher nicht erfassen konnten. Es erscheint durchaus denkbar, daß sich in diesen Gebieten im Vergleich zu den jungen einheimischen Deutschen und jungen Aussiedlern weit größere Diskrepanzen zur selbstberichteten Gewaltdelinquenz ergeben, als wir sie bisher in Mittel- und Großstädten gemessen haben. Und noch eines verdient Beachtung: Die eingangs dargestellten Hellfelddaten beziehen sich auf 14- bis unter 21-Jährige. Unsere Schülerbefragung dagegen konzentriert sich auf die 14- bis 16-Jährigen. Es erscheint denkbar, daß sich die Auswirkungen der hier dargestellten sozialen Belastungsfaktoren von jungen Aussiedlern erst mit wachsendem Alter stärker auswirken. Die vorgelegte Dunkelfeldforschung beleuchtet nur einen Ausschnitt der sozialen Wirklichkeit, die junge Aussiedler in Deutschland erleben und wie sie ihre Erfahrungen verarbeiten.

Literatur

Pfeiffer, C., Brettfeld, K. & Delzer, I. (1997a): Kriminalität in Niedersachsen 1985 bis 1996. Eine Analyse auf Basis der Polizeilichen Kriminalstatistik. KFN Forschungsberichte, Nr.60. Hannover: KFN.

Pfeiffer, C., Delzer, I., Enzmann, D. & Wetzels, P. (1998): Ausgrenzung, Gewalt und Kriminalität im Leben junger Menschen: Kinder und Jugendliche als Opfer und Täter. Sonderdruck der DVJJ zum 24. Deutschen Jugendgerichtstag. Hannover: DVJJ.

Pfeiffer, C. & Dworschak, B. (1999): Die ethnische Vielfalt in den Justizvollzugsanstalten. DVJJ-Journal, 10, 184-188.

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Silbereisen, R.K., Lantermann, E.D. & Schmitt-Rodermund, E. (Hrsg.) (1999): Aussiedler in Deutschland. Akkulturation von Persönlichkeit und Verhalten. Opladen: Leske & Budrich.

Wetzels, P. & Enzmann, D. (1999): Die Bedeutung der Zugehörigkeit zu devianten Cliquen und der Normen Gleichaltriger für die Erklärung jugendlichen Gewalthandelns. DVJJ-Journal, 10, 116-131.

Wetzels, P., Enzmann, D., Mecklenburg, E. & Pfeiffer, C. (2000): Jugend und Gewalt. Eine repräsentative Dunkelfeldanalyse in München und acht anderen deutschen Städten. Baden-Baden: Nomos.


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