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[Seite der Druckausg.: 77 ]


7. Auswertung: Handlungsmöglichkeiten für Politik und Verwaltung

Was kann das bisher Gesagte für den Umgang mit Muslimen in Deutschland auf politischer Ebene bedeuten?

Es dürfte deutlich geworden sein, daß das Bild des Islams in Deutschland äußerst vielschichtig ist. Muslime haben sich hierzulande in Vereinen und Verbänden ganz unterschiedlicher Ausrichtung zusammengeschlossen, um ihre Interessen zu vertreten. Darüber darf jedoch nicht vergessen werden, daß die im Laufe der Jahre entstandenen Organisationen innerhalb der muslimischen Gemeinde in einem Legitimationsdilemma stehen. Einerseits hat diese Form der Organisation im Islam keine Tradition, andererseits besteht die Notwendigkeit, sich in den Gegebenheiten dieser Gesellschaft Gehör zu verschaffen.

Wenn vorsichtige Schätzungen davon ausgehen, daß nur etwa 15% der hier lebenden Muslime Mitglieder in Vereinen sind, dann bedarf diese Zahl einer behutsamen Bewertung. Sie besagt nämlich nicht, daß die überwältigende Mehrheit kein religiöses Interesse hätte, noch, daß die religiösen Einrichtungen und Dienste der Vereine nicht auch von einer, nicht weiter zu verifizierenden Anzahl von Nichtmitgliedern besucht und genutzt würden. Hinsichtlich der grundsätzlichen theologischen Positionen darf man annehmen, daß der von den Organisationen vertretene islamische Blickwinkel sicher von mehr Menschen, wenn auch gegebenenfalls in abgeschwächter Form, geteilt wird, als nur denen, die Vereinsmitgliedschaften erworben haben.

Mit dem Verweis darauf, daß 15% eine gering erscheinende Zahl ist, lassen sich die Interessen der Verbände daher sicher nicht zurückweisen. Auch wenn der Vergleich in mancher Hinsicht hinkt, sei darauf verwiesen, daß die durchschnittliche Zahl der sonntäglichen Gottesdienstbesucher in der Katholischen Kirche sich hierzulande auf etwa entsprechendem Niveau bewegt.

Die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft kann sicher nicht erschöpfend daran gemessen werden, wie hoch der Observanzgrad bei der Erfüllung religiöser Gebote ist.

Den Verbänden kommt daher sicher kein Alleinvertretungsanspruch hinsichtlich dessen zu, was die Vertretung und Formulierung religiöser Interessen hier lebender Muslime betrifft. Aber ebensowenig darf darüber hinweggesehen werden, daß diejenigen Muslime, die sich ihnen angeschlossen haben, sich sehr wohl von ihnen vertreten fühlen. Wenn auch keine Organisation für sich in Anspruch nehmen kann, die Gesamtheit der Muslime in Deutschland zu vertreten, so ist doch ernstzunehmen, daß jede Organisation die Interessen einer Anzahl von Menschen repräsentiert. Gleiches gilt für die zu beobachtenden Zusammenschlüsse von Organisationen, wenn es um die Vertretung vereinsübergreifender Anliegen geht.

Diesen Menschen die Wahrnehmung ihrer legitimen religiösen Belange zu verwehren, würde gegen das für alle hier lebenden Menschen geltende Grundrecht der Religionsfreiheit verstoßen. Mithin kann man sich also nicht auf den Standpunkt zurückziehen, die große Mehrheit der Muslime werde durch die Forderungen der Verbände nicht erfaßt, denn von Staats wegen kann niemand gezwungen werden, religiöses Interesse zu bekunden. Auch Muslime unterliegen den Regeln von Meinungsbildungsprozessen, wie sie das Zusammenleben hierzulande hervorgebracht hat. Die „schweigende Mehrheit" der Muslime kann somit nicht dazu herangezogen werden, berechtigte Ansprüche muslimischer Organisationen gleichsam im Ansatz auszuhebeln.

Daran schließt sich die Frage an, wie sich der Umgang mit den Organisationen gestalten kann. Die Darstellung hat gezeigt, daß die Akzente, die von den unterschiedlichen Organisationen gesetzt werden, ein sehr breites Spektrum abdecken. Die Berichte des Verfassungsschutzes geben ein beredtes Zeugnis dafür ab, daß zuweilen der Rahmen des Religiösen um ein weites

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überschritten wird. Daher gilt es, die politischen und/oder wirtschaftlichen Implikationen, die auftreten, sehr wohl im Blick zu haben.

Im Einzelfall das rechte Maß zu finden, ist eine verantwortungsvolle Aufgabe, die es erfordert, sich auch tatsächlich den Gegebenheiten im ganz konkreten Einzelfall zu widmen. So macht es sicherlich wenig Sinn, bestimmte Organisationen mit dem Verweis auf die Beobachtung durch den Verfassungsschutz generell von Gesprächen auszuschließen. Zwar sollte man um die Zusammenhänge und Ausrichtungen detailliert wissen, dieses Wissen im Einzelfall jedoch sehr umsichtig in Entscheidungsprozesse einbringen. So sollte etwa bei allen berechtigten Bedenken, die sich aus der politischen Position etwa der IGMG ergeben, nicht der voreilige Schluß gezogen werden, daß alle Muslime, die dem Verein als einfache Mitglieder angehören oder dessen Moscheen aufsuchen, die Machenschaften der Funktionäre kennen oder gar gutheißen würden. Einer solchen Gruppe von Muslimen dann in einem begründeten und religiösen Anliegen die Gesprächsbereitschaft zu verweigern, könnte sich letztlich zum Bumerang entwickeln. Die Erwähnung durch den Verfassungsschutz kann sicher nicht als Gegenargument dienen, wenn eine Gemeinde eines genannten Vereines vor Ort beispielsweise ein islamisches Grabfeld einrichten möchte. Unverständnis und mangelnde Kooperationsbereitschaft von seiten deutscher Politiker und Behörden sind trefflich dazu geeignet, das Vertrauen in dieselben zu schwächen und die Hinwendung zu extremistischen Standpunkten, die es ja eigentlich zu verhindern gilt, noch zu fördern. Pauschalverurteilungen könnten die Radikalisierung bestimmter Gruppen zur self-fulfilling prophecy werden lassen. Gerade die Einbindung solcher Gruppen und das Gespräch mit ihnen bieten die Chance, sie in demokratische Strukturen zu integrieren.

Indem man den Muslimen die Möglichkeit gibt, aus der Religionsfreiheit erwachsende Rechte wahrzunehmen, legt man ihnen auch entsprechende Pflichten auf. Wenn etwa Organisationen sich um die Erlaubnis bemühen, Anstaltsinsassen in religiöser und sozialer Hinsicht zu betreuen, bietet ihnen das auch die Gelegenheit, in dieser Gesellschaft Verantwortlichkeiten zu übernehmen.

Bei all dem muß jedoch gelten, daß die Gesprächsbereitschaft ihre Grenzen dort hat, wo das Bemühen um Verständigung und Zusammenarbeit zu politischen Zwecken instrumentalisiert wird. So ist es fraglich, inwieweit kirchliche und politische Repräsentanten an interreligiösen Veranstaltungen teilnehmen sollten, an denen gleichzeitig Repräsentanten ausländischer politischer Parteien oder internationaler islamischer Organisationen beteiligt sind, von denen allseits bekannt ist, daß sie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte nicht nur ablehnen, sondern in den Kontext "westlicher" Verschwörungstheorien stellen.

Wenn die besondere Geschichte des Islams in Deutschland eine Situation großer Unübersichtlichkeit hervorgebracht hat, so ist dies nicht zuletzt den Versäumnissen hiesiger Politik zuzuschreiben. Die Schwierigkeiten bedürfen beiderseitiger Anstrengungen, um zu einer vertrauensvollen und offenen Begegnung zu kommen. Ein Etappenziel könnte sein, sich im Wissen um die Vielfalt der Organisationen, ihre Rückbindung an die Heimatländer, die zuweilen festzustellenden extremistischen Positionen, die von einzelnen Organisationen vertreten werden, für die Verwirklichung der Religionsfreiheit im Rahmen des für alle geltenden Rechts auch für Muslime vorbehaltlos einzusetzen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2000

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