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4. Aufgaben, Entstehung und Strukturen islamischer Organisationen in Deutschland

4.1 Die Moschee und ihre Bedeutung im Leben der Muslime

„Die Moschee ist … eine einzigartige muslimische Institution, die sich von ihren jüdischen und christlichen Gegenstücken, der Synagoge bzw. der Kirche, grundlegend unterscheidet." [Watt / Welch 1980, S. 289; vgl. ebd. S. 289-299.]
Der Unterschied, auf den dieses Zitat hinweist, liegt nicht in der architektonischen Ausgestaltung von Moscheen - oftmals wurden Synagogen und Kirchen zu Moscheen umfunktioniert und umgekehrt -, sondern in ihrer Bedeutung für das Leben der Muslime.

Bei der Moschee als dem Ort muslimischer Gottesverehrung handelt es sich nicht um einen sakralen Raum. Ihre Bedeutung ergibt sich vielmehr aus ihrer Funktion als Stätte zur gemeinsamen Verrichtung des Pflichtgebetes. Nur das Gebet macht den Ort relevant und nicht der Ort das Gebet.

Dieses Gebet besteht in der Rezitation von Texten aus dem Koran, denen eine ritualisierte Abfolge von Bewegungsabläufen zugeordnet ist. [Zum Wesen und Verlauf des islamischen Pflichtgebetes: Zaidan 1996, S. 47-100; Arikan 1998, S. 45-139.]
Sie finden ihren genuin islamischen Ausdruck darin, daß der Beter sich niederwirft und mit seiner Stirn den Boden berührt. Dieser Gestus des Niederwerfens, arabisch as-sudschud, bringt die Bedeutung des Wortes Islam als Unterwerfung unter Gottes Willen augenfällig zum Ausdruck. Den Stellenwert der Niederwerfung kann man daran ablesen, daß es das Vergehen des Satans war, sich nicht niedergeworfen zu haben, wie es in einem Hadith heißt: „Auch mir [dem Satan, Th.L.] wurde befohlen, mich niederzuwerfen, ich weigerte mich, und nun erhalte ich das Feuer." [Zitiert nach: Khoury 1988, S. 157.] Das arabische Wort masdschid, wovon sich das deutsche Wort Moschee ableitet, bezeichnet nichts anderes als den Ort dieser Niederwerfung und ist gleichzeitig zum Terminus technicus für die Gebetsstätte der Muslime geworden. Auch wenn das Wort im Sprachgebrauch des Korans außerdem die religiösen Kultstätten des vorislamischen Arabiens oder der vorislamischen Offenbarungsreligionen meinen kann, dient es im muslimischen Sprachgebrauch doch vornehmlich der Bezeichnung der eigenen Gebetsstätten.

Dem Wesen des muslimischen Ritualgebetes zufolge bedarf es zu seiner Ausführung keines besonderen Raumes, sondern lediglich eines freien Platzes. Ist die Absicht zum Gebet formuliert, richtet der Beter seinen Blick nur noch auf die Stelle des Gebetsteppichs, die er bei der Niederwerfung mit seiner Stirn berühren wird. Eine Ablenkung hiervon macht das Gebet ungültig. Masdschid, im Sinne von Moschee, im Sinne von Ort der Niederwerfung, ist also beschränkt auf den Teil des Bodens, den der Beter während des Ritualgebets einnimmt. Einem Wort des Propheten Muhammad zufolge kann es überall stattfinden, da die ganze Welt eine einzige Moschee Gottes sei. Dies meint eben keine globale Verkirchlichung, sondern betont den profanen Charakter der Moschee. Denn es handelt sich nicht um einen geweihten oder heiligen Raum. Vielmehr wird die Moschee durch ihre Funktionalität in zweidimensionaler Hinsicht bestimmt. Dem Wesen des Gebetes zufolge braucht sie keine besonderen Gegenstände zur Erfüllung des Gebetsrituals zu enthalten. Entscheidend ist die Fläche, auf der die Niederwerfung vollzogen wird. Einrichtungsgegenstände wie Altäre, Bänke oder Sitze sind der Moschee wesensfremd. Lediglich die Vorschriften hinsichtlich der rituellen Reinheit als eine Voraussetzung für das Gebet machen es erforderlich, daß auch der Ort des Gebetes dieser rituellen Reinheit entspricht.

Die gottesdienstlichen Handlungen der Muslime unterscheiden sich wesentlich von denen der Juden oder Christen, was zur Folge hat, daß ihre Gebetsstätten einen grundsätzlichen anderen

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Charakter haben. Die Moschee dient nicht zur Aufbewahrung und/oder Anbetung des Heiligen. Das eigentlich Heilige ist der Koran, aber das Koranexemplar, das in der Moschee im Regal steht, ist nicht heiliger als dasjenige, das im Suq in der Gasse der Buchhändler zum Kauf angeboten wird. Anteil am Heiligen gewinnt der Gläubige jedoch, indem er den Koran rezitiert, wie es ja im Ritualgebet ausgiebig geschieht.

Die islamische Theologie kennt die Vorstellung einer Urschrift, die als „Mutter des Buches", umm al-kitab, im Himmel verwahrt wird: „Bei der deutlichen Schrift! Wir haben sie zu einem arabischen Koran gemacht. Vielleicht würdet ihr verständig sein. Sie gilt in der Urschrift [umm al-kitab, Th.L.] bei uns als erhaben und weise" (Sure 43:2-4). Diese Urschrift, so glaubt man, existiert unerschaffen neben Gott. In der Rezitation der Korans - das Wort Koran bedeutet nichts weiter als „Vorzutragendes" [abgeleitet vom Verb qara`a = lesen, vortragen, Th.L.] - vollzieht sich somit eine Art der Erschaffung in der Zeit. Jedenfalls ist der Koran nicht in erster Linie Buch, sondern „in viel stärkerem Maß die im mündlichen Vortrag zu vergegenwärtigende Rede des Schöpfers." [Nagel 1983, S. 27.]

Innerhalb dieser Kategorie der Funktionalität läßt sich eine weitere Unterscheidung treffen: Für die freien, erwachsenen, gesunden, männlichen Muslime ist es religiöse Pflicht, das Freitagsgebet zur Mittagszeit gemeinsam zu verrichten und die Freitagspredigt, die chutba, zu hören. Die 62. Sure „Der Freitag" legt diese Pflicht im weitesten Sinne fest: „Ihr Gläubigen! Wenn am Freitag [wörtlich: am Tag der Versammlung = yaum al-dschum‘a, Th.L.] zum Gebet gerufen wird, dann wendet euch mit Eifer dem Gedenken Gottes zu und laßt das Kaufgeschäft (so lange ruhen)!" (Vers 9). Eine Moschee, in der dies geschieht, nennt man masdschid dschami‘. Damit wird der Ort doppelt bestimmt: Einmal als Ort der Niederwerfung (masdschid) und dann noch dadurch, daß dies in Gemeinschaft (dschami‘) geschieht. Das türkische Wort camii leitet sich davon ab. Allgemein gilt, daß das Gebet in Gemeinschaft sehr verdienstvoll ist. Interessant ist, daß die Freitagsmoschee zum notwendigen Bestandteil der islamischen Stadt gehört. Dörfer besitzen keine Freitagsmoscheen.

Der islamischen Überlieferung nach entstand die erste Moschee nach der Auswanderung des Propheten Muhammad von Mekka nach Medina im Jahre 622 n.Chr. und steht im Zusammenhang mit der Einführung des gemeinschaftlichen Gebetes. Während der Zeit in Mekka gab es keine gemeinsame Gebetsstätte der Muslime. Es hätte auch keine geben können, da die Mekkaner nicht gewillt waren, tatenlos zuzusehen, wie ihre Kulte demontiert wurden. Muhammad und seine Anhänger verrichteten die täglichen Gebete nicht in der Öffentlichkeit, sondern zogen sich dazu in die Häuser oder vor die Stadt zurück. Nachdem die Lage in Medina wesentlich „islamfreundlicher" geworden war und das Gebet zur Verpflichtung gemacht werden konnte, bedurfte es auch eines Ortes, um es gemeinsam zu verrichten. So kam es, daß sich Muhammad und seine Anhänger im Hof seines Hauses in Medina versammelten und dort gemeinsam beteten. Es handelte sich wohl um einen einfachen umzäunten Platz.

Da die Muslime zum Beten Schulter an Schulter nebeneinander stehen und sich dem festgelegten Ritual folgend verneigen und niederwerfen, bedurfte es dafür keiner besonderen Einrichtungsgegenstände. Lediglich die Gebetsrichtung war durch eine Markierung angezeigt, und der Prophet stellte sich auf den Stumpf einer Palme, um bei seiner Predigt von den Menschen besser gesehen zu werden. Dies macht noch einmal deutlich, daß es sich bei der ersten „Moschee" um einen zweckmäßigen Platz zur Verrichtung des Gebetes handelt.

Da die Lebzeiten des Propheten und in gewissem Maße auch noch die Zeit der Herrschaft der vier rechtgeleiteten Khalifen das goldene Zeitalter des Islams markieren, verwundert es nicht, wenn auch in der Frage, wie eine Moschee zu gestalten sei, auf diese Zeit Bezug genommen wird. In den Hadithen wird die erste Moschee in Medina relativ ausführlich thematisiert. In-

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teressanterweise wurde das erste Freitagsgebet des Islams noch in keiner Moschee gehalten, sondern, da man freitags von Quba nach Medina aufgebrochen war, unterwegs in einem Wadi. So berichtet es jedenfalls der Historiker Muhammad ibn Dscharir at-Tabari (839-923 n.Chr.). [Vgl. Peters 1994, S. 270.]
Nach Tabari wählte der Prophet bei der Ankunft in Yathrib, das erst später den Namen madinat an-nabi, Stadt des Propheten, tragen sollte, seinen Wohnort dergestalt aus, daß er seinem Kamel die Zügel gehen ließ und sich dann dort einrichtete, wo die Stute sich niederließ. An diesem relativ zufällig gewähltem Ort entstand die erste Moschee.

Tabari berichtet, die Wohnung des Propheten und infolgedessen auch die Moschee sei auf Land entstanden, das den Banu an-Nadschdschar gehört hatte und dem Propheten um Gottes Willen überlassen worden sei. Das Areal habe Palmen, kultiviertes Land und Gräber aus vorislamischer Zeit enthalten. All dies sei eingeebnet worden. Vor der Fertigstellung der Moschee habe der Prophet in Schafpferchen zu beten gepflegt oder dort, wo ihn die Zeit des Gebets eingeholt habe.

Ibn Battuta, ein Reisender des 14. Jahrhunderts, variiert und erweitert diese Tradition noch: „Das Gelände der Moschee war eine Fläche, auf der Datteln getrocknet wurden. Der Gesandte Gottes - Gott segne ihn und gewähre ihm Frieden - kaufte dieses Land ... und baute dann die Moschee, indem er selbst und seine Gefährten daran arbeiteten; er errichtete eine Mauer darum, gab ihm aber weder Säulen noch ein Dach." Das Gelände sei etwa quadratisch gewesen, 100 Ellen lang und die Mauer mannshoch. „Als später die Hitze größer wurde, sprachen seine Gefährten zu ihm davon, ein Dach zu bauen. Also stellte er zu diesem Zweck einige Säulen aus Palmenstämmen auf. Aus deren Zweigen baute er das Dach." Als es in die Moschee hineinregnete, weigerte er sich jedoch, das Dach zu verstärken. „Er baute drei Eingänge zur Moschee, aber der südliche Eingang wurde verschlossen, als die Gebetsrichtung [von Jerusalem im Norden nach Mekka im Süden der Moschee, Th.L.] geändert wurde." [Zitiert nach: Ebd. S. 270f.]

Mit der Ausbreitung des Islams über die arabische Halbinsel hinaus entstanden nun an allen Orten, an denen Muslime lebten, derartige Gebetsstätten nach dem Vorbild der Moschee des Propheten. Dabei ging man mit der Zeit dazu über, Moscheen in schon bestehenden Gebäuden - wie früheren Kirchen und Synagogen - einzurichten oder sie eigens zu diesem Zweck zu bauen. Die im Laufe der islamischen Geschichte entstandenen Moscheen wurden dabei zu einem Spiegelbild der jeweiligen kulturellen und architektonischen Entfaltungsmöglichkeiten.

Bei aller kulturellen und regionalen Ausgestaltung sind allen Moscheen weltweit jedoch die folgenden Merkmale gemeinsam:

1. Die Gebetsnische (mihrab)

Gemäß einem Koranwort ist den Muslimen beim Gebet die Ausrichtung zur Kaaba in Mekka vorgeschrieben. In Sure 2:144 heißt es: „Darum wollen wir dich in eine Gebetsrichtung weisen, mit der du gern einverstanden sein wirst: Wende dich mit dem Gesicht in Richtung der heiligen Kultstätte! Und wo immer ihr seid, da wendet euch mit dem Gesicht in dieser Richtung!" Der Vers findet sich häufig über der Gebetsnische in türkischen Moscheen. Diese Gebetsrichtung, die qibla, wird in den Moscheen durch eine Gebetsnische, mihrab genannt, angezeigt, vor der sich dann die Betenden in Reihen neben- und hintereinander aufstellen. Vor ihnen steht dabei der Vorbeter, der imam, der das Gebet leitet. Reine Frauengruppen können unter der Leitung einer Frau beten, die jedoch nicht vor den Betenden steht, sondern in der Mitte der ersten Reihe.

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2. Die Predigerkanzel (minbar)

Rechts von der Gebetsnische befindet sich die Predigerkanzel, von der aus die chutba genannte Ansprache vor dem Freitagsgebet gehalten wird. Wie bereits erwähnt, stand der Prophet Muhammad hierzu anfangs auf dem Stumpf einer Palme. Später wurde dazu ein mit zwei Stufen versehener erhöhter Sitz gebaut. Mit der Zeit wurde daraus die Predigerkanzel in ihrer heutigen Form, zu der Stufen heraufführen. Der Prediger steht aber nie auf der höchsten Stufe, denn dies kam allein dem Propheten zu.

Neben dieser für die Ansprachen beim Freitagsgebet und den Festtagsgebeten vorgeschriebenen Kanzel befindet sich in vielen, vor allem in größeren Moscheen noch eine weitere, kleinere Kanzel für religiösen Unterricht oder Lehre.

3. Das Minarett

Wesentlich zum islamischen Ritualgebet gehört der Gebetsruf, adhan genannt, mit dem die Muslime zum Gebet eingeladen werden. Der Überlieferung gemäß stieg der erste Muezzin in der islamischen Geschichte - der freigelassene afrikanische Sklave Bilal - hierzu auf das Dach des Hauses Muhammads und verkündete von dort den Gebetsruf. Mit der Zeit wurden eigene Türme hierzu an die Moscheen gebaut, die heute wesentlich zu ihrem Erscheinungsbild dazu gehören und Minarett genannt werden. Doch besteht keine zwingende Vorschrift den Gebetsruf laut und vernehmlich von einem Minarett zu verkünden, sondern er kann - wie in Deutschland vielerorts üblich - lediglich im Inneren der Moschee ausgerufen werden. Die richtige Gebetszeit kann heutzutage auch einem sogenannten Gebetszeitenkalender entnommen werden, der in Moscheen oder Zuhause aufgehängt wird und für jeden Tag sowie jede geographische Region die entsprechenden Zeitangaben für die täglichen Gebete enthält.

4. Die Möglichkeiten zur rituellen Waschung

Das Ritualgebet der Muslime hat im Zustand ritueller Reinheit zu erfolgen. Aus diesem Grund befinden sich vor vielen Moscheen oder in den Innenhöfen Brunnen, um die für das Gebet notwendigen rituellen Waschungen vorzunehmen. Dies kann auch in eigens dafür eingerichteten Waschräumen geschehen.

5. Weitere Einzelheiten

Dem islamischen Bilderverbot entsprechend sind alle bildlichen oder figürlichen Darstellungen Gottes oder seiner Geschöpfe verboten. Somit finden sich in den Moscheen weder irgendwelche Bilder noch Statuen oder Figuren. Erlaubt ist hingegen die Verwendung der arabischen Schrift und ihre künstlerische Ausgestaltung in Form der sogenannten Kalligraphie. Daher sind viele Moscheen von innen oder außen reich mit Koranversen oder Ornamenten verziert und geschmückt. Oftmals finden sich darunter Tafeln mit den Namen Gottes, des Propheten, seiner unmittelbaren Nachfolger und Angehörigen in reich verzierten Schriftzügen.

Die Bedeutung der Moschee im Leben der muslimischen Gemeinde reicht weit über ihre eigentliche Funktion als Gebetsstätte hinaus. Sie ist gleichzeitig auch eine Bildungsstätte, da die Vermittlung des notwendigen religiösen Wissens in ihren Räumen stattfindet. So werden in vielen Moscheen auch in Deutschland Kurse zur Rezitation des Korans abgehalten oder Kinder und Jugendliche in der islamischen Religionsausübung und -lehre unterwiesen.

Darüber hinaus haben die Moscheen gerade für die muslimischen Minderheiten eine wichtige soziale Funktion. Oftmals sind ihnen Lebensmittelgeschäfte oder Märkte angegliedert, in de-

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nen landestypische Produkte oder Nahrungsmittel, die den rituellen Reinheitsvorschriften entsprechen, erworben werden können. Daneben bieten viele Moscheen auch ein reichhaltiges Angebot an religiöser Literatur in den jeweiligen Muttersprachen der zumeist ausländischen Muslime an. Mittlerweile sind hier jedoch auch Koranausgaben, Korankommentare und religiöse Literatur in deutscher Sprache erhältlich.

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4.2 Entstehung islamischer Organisationen

Als Träger von Moscheen im beschriebenen Sinne entstanden in den letzten Jahrzehnten zahlreiche islamische Organisationen. Setzte diese Selbstorganisation der Muslime bereits mit den ersten Gemeindegründungen zwischen den beiden Weltkriegen ein und fand sie mit der Schaffung von einigen wenigen Islamischen Zentren in verschiedenen Städten ihre Fortsetzung, so erhielt sie in der Folge der Arbeitsmigration seit den sechziger Jahren einen gewaltigen Auftrieb. [Die Islamischen Zentren in Hamburg, München und Aachen stehen nicht im Zusammenhang mit der Arbeitsmigration, sondern gehen auf Kaufleute oder Studenten aus islamischen Ländern zurück.]
Sie hat mittlerweile derartige Dimensionen angenommen, daß eine umfassende Darstellung und Beschreibung ihres gegenwärtigen Zustands denkbar schwierig ist: Neben zahllosen kleinen Ortsvereinen stehen eine Reihe von Verbänden, die sich in der Regel aus Angehörigen einer Nationalität zusammensetzen. Diese Verbände sind alle bundes- oder europaweit organisiert und unterhalten Kontakte zu entsprechenden Gruppierungen in den jeweiligen Heimatländern. Obwohl sie in ihren religiösen, gesellschaftlichen oder politischen Auffassungen divergieren, konkurrieren sie nicht nur miteinander. Zur Wahrnehmung ihrer gemeinsamen Interessen haben sie sich mittlerweile zu Spitzenverbänden zusammengeschlossen.

Außer den Vereinen und Verbänden, die sich als Träger von Moscheen für die allgemeinen religiösen Belange der Muslime zuständig wissen, sind auch Organisationen entstanden, die sich an bestimmte Zielgruppen innerhalb der muslimischen Gemeinschaft richten, wie Jugendliche, Studenten oder Frauen, oder die ganz bestimmte Aufgaben verfolgen und Sozial-, Hilfs- oder Bildungswerke betreiben. Auch sie gehören oft den national und international tätigen Verbänden an oder haben sich den Spitzenverbänden angeschlossen. Die Beziehungen untereinander sind nicht in jedem Fall und in jeder Form auf den ersten Blick erkennbar, was zu einem schwer überschaubaren Erscheinungsbild führt.

Wie dem auch im einzelnen sein mag, so läßt sich doch feststellen, daß Muslime sich die entsprechenden Strukturen zur Erfüllung ihrer religiösen Interessen in vielfältiger Weise geschaffen haben. Mittlerweile ist ein weitreichendes und sehr differenziertes Organisationsnetz entstanden, daß den Bedürfnissen der Muslime auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Formen gerecht zu werden versucht. Die bestehenden Angebote reichen von den Moscheevereinen über die Reiseunternehmen zur Durchführung der Wallfahrt bis hin zu den Bestattungsunternehmen zur Überführung verstorbener Muslime. Für eine Glaubensgemeinschaft, die sich durch eine klare Absage an kirchliche oder kirchenähnliche Organisationsmodelle auszeichnet, mag eine derartige Binnendifferenzierung mit Zentralräten, Geistlichen Verwaltungen und anderen Institutionen ungewöhnlich erscheinen. [J ø rgen Nielsen bringt die Bedeutung des Phänomens der Organisation mit folgenden Worten treffend zum Ausdruck: „Obwohl sich viele Gruppierungen und Organisationen in den muslimischen Herkunftsländern entwickelten, war es nicht notwendig, spezifisch religiöse Organisationsformen zu entwickeln, um den einfachen Muslimen ihr tägliches religiöses Leben zu ermöglichen. Die Moschee steht als Gemeinschaftseinrichtung zur Verfügung und muß nicht notwendigerweise in Verbindung zu einer bestimmten Organisation stehen, obgleich das bei vielen der Fall ist" (Nielsen 1995, S. 156).]
Verstehen läßt sie sich denn auch nur aus der Geschichte und den Notwendigkeiten der religiösen Selbstorganisation der Muslime in der Arbeitsmigration.

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In Deutschland ist dieser Prozeß im zeitlichen Zusammenhang mit dem Anwerbestopp eingetreten. Gab es schon vor dem Jahr 1973 vereinzelt Gebetsstätten für die muslimischen Arbeitsmigranten, so entstanden in den folgenden Jahren an vielen Orten zahlreiche Vereine als Träger von neuen Moscheen. [Hingewiesen sei nur auf die sogenannten „rollenden Moscheen", die die Bundesbahndirektion Hannover in den sechziger Jahren für türkische Bahnarbeiter in Eisenbahnwagen einrichtete (Abdullah 1981, S. 74).] Die Ursache dafür ist wesentlich darin zu sehen, daß sich die meisten Arbeitsmigranten für einen dauerhaften Verbleib und für den Nachzug ihrer Ehegatten und Familienangehörigen entschieden. Damit war zwangsläufig verbunden, daß sich wichtige Aspekte der Religionsausübung von der Heimat ins Gastland verlagerten und somit neue Relevanz gewannen. Jørgen Nielsen faßt diesen Prozeß mit folgenden Worten zusammen: „Während der ersten Phasen der Muslimimmigration waren die Zuwanderer hauptsächlich Männer, die allein und für eine begrenzte Zeit kamen. Die Tatsache, daß sie allein kamen, bedeutete, daß religiöse Erfordernisse bei der Aussiedlung minimal waren: es genügte meist, daß man beten konnte. Die Einschränkung der Religionsausübung wurde durch die Aussicht auf eine baldige Rückkehr nach Hause noch weiter an den Rand verwiesen. Die Situation veränderte sich grundlegend, als aus der Migration muslimischer Arbeiter eine Immigration muslimischer Familien wurde. Zuerst schwand das Gefühl, der Aufenthalt sei zeitlich begrenzt. Nun rechnete man mit Dauer. Dann führte die Anwesenheit von Frauen und Kindern zu intensiven Kontakten zu der Gesellschaft, in der sie lebten … Als Folge wurden große Bereiche der traditionellen Kulturen in Frage gestellt. So ergab sich die Notwendigkeit, Institutionen einzurichten, entweder zur Unterstützung der alten Traditionen oder um Spannungen zu mildern." [Nielsen 1995, S. 153.]

Als nächstes ist festzustellen, daß die muslimischen Arbeitsmigranten im Prozeß ihrer Selbstorganisation weitestgehend auf sich allein gestellt waren. Da ihre Gemeinschaften bis auf den heutigen Tag nicht als Körperschaften öffentlichen Rechts anerkannt sind, konnten sie die einer Religionsgemeinschaft aus diesem Status entstehenden Vorteile nicht für sich in Anspruch nehmen. [Die Körperschaftsrechte ziehen außer der Kirchensteuer eine Reihe von weiteren Rechtsfolgen nach sich, die für die betreffende Religionsgemeinschaft von Nutzen sein können. So ist sie als Träger der freien Wohlfahrtspflege und der freien Jugendpflege anerkannt, sie genießt zahlreiche steuerliche Vergünstigungen und Befreiungen, und ihre Erfordernisse sind bei der Aufstellung der Bauleitpläne zu berücksichtigen. Zu den Rechtsfolgen der Körperschaftsrechte: Lemmen 1999c, S. 228-231.]
Darüber hinaus fühlten sich weder staatliche noch kirchliche Stellen Deutschlands für ihre Unterstützung zuständig und erst recht nicht die Heimatländer. Letztere wurden erst ab den achtziger Jahren durch ihre diplomatischen Vertretungen aktiv, nachdem der von unabhängigen Gruppierungen betriebene Organisationsprozeß bereits weit fortgeschritten war. [Als letzte der großen Organisationen türkischer Muslime entstand 1984 die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V. (DITIB) . In ihrer Selbstdarstellung heißt es dazu: „An die Behörde für Religiöse Angelegenheiten der Republik Türkei, welche die religiöse Betreuung in der Türkei versieht, wurde die Bitte um Entsendung von qualifizierten Religionsbediensteten mit pädagogischem Format gerichtet, um so zu erreichen, daß die Betreuung frei von abweichlerischen Tendenzen einen gesunden Verlauf nehmen kann" (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V. o.J., S. 7).]

Die Schaffung religiöser Einrichtungen der muslimischen Arbeitnehmer geschah unter ganz anderen Voraussetzungen und Bedingungen, als dies bei Angehörigen der christlichen Kirchen der Fall war. Ein Vergleich mit den ausländischen Arbeitnehmern katholischen Glaubens macht dies in eklatanter Weise deutlich: Parallel zu ihren bestehenden pastoralen Strukturen schuf die katholische Kirche Deutschlands die katholischen Auslandsmissionen und beauftragte die Caritas mit deren sozialer Betreuung. [Die Grundlage dafür bot der Synodenbeschluß über die ausländischen Arbeitnehmer aus dem Jahr 1973 (Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland 1976, S. 375-410).]
Zuständig für die soziale Betreuung der muslimischen Arbeitnehmer wurde zwar die Arbeiterwohlfahrt, doch paradoxerweise handelt es sich bei ihr um einen Verband, der aufgrund seiner weltanschaulichen Neutralität eben kei-

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ne spezifisch religiösen Interessen vertritt. Die Arbeiterwohlfahrt konnte daher den Muslimen zwangsläufig keine Hilfe bei ihrer religiösen Selbstorganisation sein.

Unter den nach Deutschland eingewanderten Muslimen befanden sich auch Angehörige verschiedener religiöser Gruppierungen aus den Heimatländern. Es verwundert daher nicht, daß sie an der Schaffung von Gebetsstätten und anderen religiösen Einrichtungen maßgeblich beteiligt waren. [Werner Schiffauer schildert sehr anschaulich den Prozeß der Entstehung von Moscheen ab den siebziger Jahren in Augsburg (Schiffauer 1993, S. 469-472).]
Ob nun die Initiative dazu allein von ihnen oder vielmehr von vollkommen ungebundenen Personen ausging, kann an dieser Stelle von zweitrangiger Bedeutung bleiben. Entscheidend ist hingegen, daß die Initiative zur Schaffung religiöser Institutionen dem Bedürfnis der Muslime zur gemeinsamen Ausübung ihrer religiösen Verpflichtungen entsprang.

Als Problem zeigte sich dabei die Frage, unter welcher Rechtsform die Selbstorganisation der Muslime erfolgen solle. Da eine Anerkennung ihrer Gemeinschaften als Körperschaften öffentlichen Rechts nicht in Frage kam, blieb ihnen nur die Möglichkeit, unter der Rechtsform des eingetragenen Vereins nach bürgerlichem Recht die Rechtsfähigkeit einer juristischen Person zu erlangen. Dieser Weg ergibt sich aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 4 WRV: „Religionsgesellschaften erwerben die Rechtsfähigkeit nach den allgemeinen Vorschriften des bürgerlichen Rechts." Nach § 21 BGB erfolgt dies durch die Eintragung eines Vereins in das Vereinsregister des für ihn zuständigen Amtsgerichts. Damit sind die Voraussetzungen erfüllt, um als juristische Person handeln zu können. Zusammenschlüsse von Muslimen in Form eingetragener Vereine waren damit in die Lage versetzt, Gebetsstätten für ihre Zwecke zu errichten und zu betreiben. Daher wurde die Rechtsform des eingetragenen Vereins bis auf den heutigen Tag zur vorherrschenden Organisationsform der Muslime in Deutschland. [Verschiedene Gruppen sind als nichtrechtsfähiger Verein nach § 54 BGB (z.B. Union der Islamisch Albanischen Zentren in Deutschland) oder als gemeinnützige GmbH (z.B. König-Fahd-Akademie) organisiert.]

Das hat jedoch zur Konsequenz, daß die Struktur der islamischen Gemeinde als eingetragenem Verein den entsprechenden Bestimmungen des BGB folgen muß. Somit mußten die Muslime ihren Vereinen Satzungen geben, die den gesetzlichen Erfordernissen genügen. Hierzu gehören Name, Sitz und Zweck des Vereins, Regelungen über Ein- und Austritt von Mitgliedern, die Bildung des Vorstands, die Einberufung der Mitgliederversammlung und die Auflösung des Vereins. [Vgl. BGB §§ 57+58.] Dieses Vereinswesen führte notwendigerweise zur Institutionalisierung des religiösen Lebens der Muslime. Daß dies nicht unbedingt und stets dem Selbstverständnis der Muslime entspricht, zeigt sich an den folgenden Punkten.

Ein erstes Problem besteht darin, das Wesen und die Aufgaben einer islamischen Gemeinde in die juristische Form eines eingetragenen Vereins zu gießen, indem sie Gegenstand einer Vereinssatzung werden. So enthalten die Satzungen unter dem Punkt „Vereinszweck" mehr oder weniger ausführliche Aussagen über die Aufgaben des Vereins als einer religiösen Gemeinschaft. Sie beziehen sich daher auf Angelegenheiten islamischer Religionsausübung und die dafür erforderlichen Voraussetzungen. Der Vereinszweck besteht in der Regel in der Schaffung und dem Unterhalt von Gebetsstätten für das Pflichtgebet und andere religiöse Handlungen sowie in der Durchführung von Koran- und Religionsunterricht. Zusätzlich können auch weitere Aufgaben ausdrücklich genannt sein. [Als ein Beispiel möge der Vereinszweck aus der Satzung der IGMG - Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs e.V. vom 23. Januar 1995 genügen: „Der Verein soll die Grundlage für ein islamisches Gemeindeleben schaffen und jeder Muslima und jedem Muslim Hilfestellungen bei der Verrichtung der religiösen Gebote geben. Der Verein soll die Verrichtung der religiösen Gebote, die die ganze muslimische Gemeinschaft betreffen, organisieren. Der Verein soll zur Verbesserung der Lebenssituation der Muslime beitragen. Der Verein soll die muslimische Gemeinde öffentlich vertreten. Der Verein soll die verfassungsmäßigen Rechte der Muslime schützen. Der Verein soll die religiöse Versorgung und die seelsorgerische Betreuung, mindestens bestehend aus Freitagsgebet, Freitagsansprache, der Verrichtung des täglich fünfmaligen Gebetes in der Moschee, Festansprachen, Festtagsgebete, Festveranstaltungen, islamischen Eheschließungen, Telefonseelsorge, Krankenbesuche, Seelsorge im Strafvollzug etc. für alle Mitglieder umfassend organisieren. Der Verein soll die Bildung der Muslime auf allen Gebieten fördern. Der Verein soll seine Mitglieder vertreten" (§ 2).]
Neben weitreichenden Beschreibungen stehen mitunter knappe und allgemeine Ausführungen über den Zweck des betreffenden Vereins.

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Die Satzung muß darüber hinaus eine Reihe weiterer Regelungen enthalten, die das Verhältnis des Vereins zu den Mitgliedern und gegenüber dritten Personen betreffen. Hierzu gehören besonders die Bestimmungen hinsichtlich der Leitung des Vereins. Dabei zeigt sich, daß in den allermeisten Fällen eine Trennung der religiösen Leitung von der rechtlichen Leitung eingetreten ist. Während die „geistliche" Leitung, d.h. die Aufgaben des Vorbeters, einer Person zufällt, die über ein ausreichendes religiöses Wissen oder eine entsprechende Ausbildung verfügt, wird der Vorsitzende von der Mitgliederversammlung gewählt. Beide Aufgaben müssen nicht in einer Person vereinigt sein. [Die Satzung der Deutsch-Muslimischen Gesellschaft e.V. vom 22. März 1930 hat beide Ämter in einer Person vereinigt, indem der Imam der Moschee von Amts wegen dem Verein vorstand (§ 5 Abs. b). In einigen Satzungen heutiger Vereine finden sich Regelungen, wonach der Verein besondere Gremien für religiöse Fragen hat. Der ZMD verfügt beispielsweise über einen islamischen Gutachterrat (§ 8) und die IRH über einen sogenannten Fiqh-Rat (§ 9).]
Somit ergibt sich die mitunter schwierige Situation, daß die Verantwortlichen der meisten islamischen Vereine keine theologischen Fachleute sind, wenngleich sie sich aufrichtig und engagiert um die Belange ihrer Gemeinden bemühen. Selbst die islamischen Spitzenverbände in Deutschland werden von theologischen Laien geführt, was jedoch noch nichts über deren Fähigkeiten sagt. [Der Vorsitzende des Zentralrates, Dr. Nadeem Elyas, ist von Beruf Frauenarzt; der Vorsitzende des Islamrates, Hasan Özdogan, ist Diplomchemiker.]

Eine besondere Schwierigkeit des islamischen Vereinswesens liegt jedoch in der Frage der Mitgliedschaft. Grundsätzlich ist zwischen der Zugehörigkeit zum Islam, die durch Geburt oder Konversion erfolgt, und der Mitgliedschaft im islamischen Verein, die durch Mitwirkung an der Gründung oder Eintritt erworben wird, zu unterscheiden. In vielen islamischen Vereinen sind nur wenige Muslime eingetragene Mitglieder, während viel mehr Personen am religiösen Vereinsleben teilnehmen. Das hat seinen Grund darin, daß sich die islamischen Vereine in der Regel an alle Muslime in ihrem Einzugsbereich richten und diese ihre religiösen Angebote wahrnehmen können. Ihre Satzungen lassen keinen Zweifel daran, daß sie sich in der Erfüllung des Vereinszwecks an alle Muslime wenden. Die Gemeindeordnung des Islamrates für die Bundesrepublik Deutschland unterschiedet folgerichtig zwischen der ordentlichen und der außerordentlichen Mitgliedschaft in der islamischen Gemeinde und stellt fest, daß „der Verein als religiöse Gemeinde keiner Person islamischen Glaubens die Teilnahme am Vereinsleben verwehren" [Gemeindeordnung des Islamrates für die Bundesrepublik Deutschland vom 1. Januar 1993 Art. I Abs. 3 S. 3.] kann. Nur die Mitglieder im vereinsrechtlichen Sinn sind hingegen zur Ausübung der satzungsgemäßen Rechte und Pflichten wie der aktiven und passiven Wahl des Vorstands berechtigt. Das hat zur Folge, daß es grundsätzlich und im Einzelfall sehr schwierig, wenn nicht unmöglich ist, zuverlässige Angaben über die Zahl der Mitglieder von Vereinen zu machen, solange nicht genau definiert ist, worauf sich der Begriff der Mitgliedschaft bezieht. [Für den Islamrat lassen sich beispielsweise für das Jahr 1996 Mitgliederzahlen finden, die von 97.250 bis 820.000 Personen reichen. Der VIKZ hingegen differenziert in einer Selbstdarstellung aus dem Jahr 1998 zwischen 21.000 Vereinsmitgliedern und weiteren 80.000 Gemeindemitgliedern. Zu den Angaben im einzelnen: Moslemische Revue 1996, 3, S. 197; Oeckl 1996/97, S. 1002; VIKZ 1998, S. 6.]

Diese Beobachtungen lassen den Schluß zu, daß die Eigenarten der als Vereine organisierten Gemeinden dem Selbstverständnis der Muslime nur bedingt gerecht werden. Daher heißt es durchaus zutreffend in der Gemeindeordnung des Islamrates: „Die Islamische Gemeinde ist

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mehr als ein Verein im Sinne des deutschen Vereinsrechts. Von daher kann eine im Wege des deutschen Vereinsrechts erworbene Rechtsfähigkeit für eine Islamische Gemeinde immer nur ein Provisorium sein, das gegenwärtig notwendig ist, um überhaupt als juristische Person in der deutschen Gesellschaft zu gelten und handeln zu können." [Gemeindeordnung des Islamrates für die Bundesrepublik Deutschland vom 1. Januar 1993 Art. I Abs. 6.]

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4.3 Organisationsstrukturen islamischer Verbände

Wie bereits erwähnt, gehören die meisten islamischen Vereine zu in Deutschland und Europa tätigen islamischen Verbänden, die sich ihrerseits wiederum bestimmten Organisationen in den Herkunftsländern der noch mehrheitlich ausländischen Muslime zuordnen lassen. Hinsichtlich der Organisationsstrukturen der einzelnen Verbände sind signifikante Unterschiede festzustellen, die Aufschluß geben über die Art und Weise der Beziehung der jeweiligen Ortsvereine zum Verband sowie über dessen Einflußmöglichkeiten und Kontrollmechanismen gegenüber den Mitgliedern. Diese Strukturen zu kennen ist wichtig, um die Arbeits- und Funktionsweise der Verbände richtig einschätzen und verstehen zu können. Gegenwärtig lassen sich vier verschiedene Organisationsmodelle unterscheiden: [Vgl. Lemmen 1998, S. 16-25; Ders. 1999c, S. 64-69.]

1. Zentralistisch strukturierte Organisationen

Dieses Modell zeichnet sich dadurch aus, daß nur der Verband als solcher die Rechtsfähigkeit einer juristischen Person besitzt und seine Ortsvereine als Niederlassungen oder Zweigstellen zu betrachten sind. Allein der Verband selbst ist an seinem Hauptsitz als ein eingetragener Verein organisiert, während alle Ortsvereine in dieser Hinsicht von ihm abhängen. Die Beziehungen der Ortsvereine zum Verband sind Gegenstand seiner Satzung. Das bedeutet, daß der Verband daher letztlich für alle rechtlichen Angelegenheiten seiner Niederlassungen oder Zweigstellen zuständig ist. Dies betrifft sowohl die Ernennung und Abberufung der jeweiligen Ortsvorstände als auch den Erwerb und die Verwendung von Gebetsstätten und anderen Räumlichkeiten, die als Eigentum des Verbands zu betrachten sind.

Sowohl der Verband der Islamischen Kulturzentren e.V. (VIKZ) mit seinen mehr als 300 deutschen Zweigstellen als auch die Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V. (IGD), die in verschiedenen Städten Islamische Zentren als Zweigstellen unterhält, sind nach diesem Modell organisiert [Die Islamischen Zentren in Aachen und Hamburg gehören jedoch nicht zur IGD, sie sind eigenständige Einrichtungen.] (siehe Abbildung 1).

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Abbildung 1:
Zentralistisches Organisationsmodell am Beispiel des Verbandes der Islamischen Kulturzentren e.V.

2. Dezentralistisch strukturierte Organisationen

In diesem Modell sind die Ortsvereine eines Verbands eigenständige eingetragene Vereine und haben sich dem Verband als Mitglieder angeschlossen. Anders als beim vorhergehenden Modell besitzen sowohl die Ortsvereine als auch der Verband selbst den Charakter eingetragener Vereine. Demnach sind die jeweiligen Ortsvereine in ihren rechtlichen Angelegenheiten selbständig und bestimmen durch die Mitgliederversammlung ihren Vorstand. Das Verhältnis zum Verband findet seinen Ausdruck in der Vereinssatzung, die diesbezügliche Regelungen beinhaltet. Auch die Satzung des Verbands selbst enthält Bestimmungen über ihr Verhältnis zu den Mitgliedsvereinen.

Nach diesem Modell hat sich die 1984 in Köln gegründete Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V. (DITIB) organisiert. Ihre mehr als 770 Mitgliedsvereine sind alle eigenständige eingetragene Vereine, die sich dem Verband angeschlossen haben (siehe Abbildung 2).

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Abbildung 2:
Dezentralistisches Organisationsmodell am Beispiel der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion e.V.

3. Föderativ strukturierte Organisationen

Ein vollkommen anderes Modell stellen die als Föderationen gegründeten Verbände dar. Im Gegensatz zur vorhergehenden Organisationsform zeichnen sie sich dadurch aus, daß sie erst aus dem Zusammenschluß von eigenständigen Vereinen hervorgegangen sind. Die jeweiligen Mitgliedsvereine schließen sich nicht einem Verband an, sondern begründen ihn vielmehr durch ihren Zusammenschluß, was jedoch nicht ausschließt, daß nachträglich weitere Vereine beitreten. Demzufolge können nur eingetragene Vereine eine Mitgliedschaft in den Föderationen erwerben. [Dies gilt ausdrücklich für die meisten bekannten Föderationen. Die Islamische Föderation Berlin e.V. (IFB) zählt hingegen auch nichteingetragene Vereine zu ihren Mitgliedern.] Die Selbständigkeit der Mitgliedsvereine wird durch die Zugehörigkeit zur Föderation nicht aufgehoben. Der besondere Charakter dieser Organisationsform fordert hingegen eine angemessene Beteiligung der Mitgliedsvereine an den Angelegenheiten des Verbands. Die so organisierten Verbände zeichnen sich daher durch zahlenmäßig große Vorstände und zusätzliche Vereinsorgane wie Aufsichts- oder Kontrollräte aus, die eine angemessene Mitwirkung der Mitgliedsvereine gewährleisten sollen.

Diese Organisationsform ist oftmals schon am Namen der Verbände zu erkennen: So sind die Islamischen Föderationen in verschiedenen Bundesländern, die Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Europa e.V. (ADÜTDF), die Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa e.V. (ATIB) und die Föderation der Aleviten Gemeinden in Europa e.V. (AABF) nach diesem Modell entstanden (siehe Abbildung 3).

[Seite der Druckausg.: 32 ]

Abbildung 3:
Föderatives Organisationsmodell am Beispiel der Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa e.V.

4. Mischformen

Die Organisationsform eines Verbands ist aber nicht immer so deutlich zu erkennen, wie das in den bisher genannten Beispielen der Fall war. Vielmehr sind verschiedene Verbände weder dem einen noch dem anderen Modell eindeutig zuzuordnen. [Dem Verband der Islamischen Vereine und Gemeinden e.V. (ICCB) können laut Satzung sowohl einzelne Muslime als auch Vereine angehören (Art. 3 Abs. 1). Zur Jama ‘ at un-Nur Köln e.V. zählen nach Aussagen ihres Vorsitzenden abhängige Zweigstellen und eigenständige Vereine.] Die verschiedenen Organisationsformen sind nicht immer klar voneinander abzugrenzen, und statt dessen können Mischformen der einzelnen Modelle vorkommen.

Am eindrucksvollsten kommt dies bei der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs e.V. (IGMG) zum Ausdruck, die zentralistische, dezentralistische und föderative Strukturelemente in ihren organisatorischen Aufbau integriert hat. Neben den zahlreichen IGMG-Ortsvereinen gibt es eigenständige Vereine, die zur IGMG mit Sitz in Köln gehören sowie Islamische Föderationen, die die zur IGMG zählenden Vereine in verschiedenen Bundesländern zu Landesverbänden zusammenfassen [Da die Zugehörigkeit zur IGMG oftmals bestritten wird und nicht in jedem Fall genau darzulegen ist, sei auf die ausführlichen Darlegungen im folgenden Kapitel verwiesen.] (siehe Abbildung 4).

[Seite der Druckausg.: 33 ]

Abbildung 4:
Organisationsmodell der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs e.V.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2000

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