FES | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
|
|
TEILDOKUMENT:
3. Muslime in Deutschland im Zuge der Arbeitsmigration [Seite der Druckausg.: 17 ] Mit der in den fünfziger Jahren beginnenden Arbeitsmigration gelangten zunehmend Arbeitnehmer islamischen Glaubens nach Deutschland. Die Hauptherkunftsländer, mit denen Anwerbevereinbarungen bestanden, waren die Türkei (1961), Marokko (1963), Tunesien (1965) und das ehemalige Jugoslawien (1968). Nach dem Anwerbestopp 1973 entschieden sich viele der ausländischen Arbeitnehmer für einen dauerhaften Verbleib im Gastland und damit verbunden für den Nachzug von Ehepartnern und Familienangehörigen. Wie insgesamt die Zahl der ausländischen Bevölkerung seither zugenommen hat, so stieg auch die Zahl der Muslime unter ihnen. Zusätzlich zu den Arbeitsmigranten und ihren Familienangehörigen führten seit Mitte der siebziger Jahre politische und kriegerische Auseinandersetzungen in verschiedenen Teilen der Welt Asylsuchende und Flüchtlinge muslimischen Glaubens nach Deutschland. Die Hauptherkunftsländer sind der Libanon (ab 1975), der Iran (ab 1979), Afghanistan (ab 1979) sowie zuletzt Bosnien-Herzegowina (ab 1992) und der Kosovo (1999). Aufgrund der bis heute weitgehend unveränderten politischen Verhältnisse sind viele von ihnen auf Dauer geblieben. Als dritte Bevölkerungsgruppe neben den beiden bisher genannten sind Muslime zum Studium nach Deutschland gekommen. Sowohl die zwischen den Kriegen in Berlin bestehenden Gemeinschaften als auch die nach 1945 gegründeten Islamischen Zentren gehen wesentlich auf die Initiative von Studenten und Akademikern zurück. Wenn auch keine genauen Zahlen der Studenten islamischen Glaubens bekannt sind, so läßt sich doch feststellen, daß der Anteil der sogenannten Bildungsinländer gegenüber den zum Studium eingereisten Ausländern in den letzten Jahren zugenommen hat. [Bildungsinländer sind ausländische Studenten, die ihre Hochschulzugangsberechtigung in Deutschland erworben haben. Von den im Wintersemester 1997/98 an deutschen Hochschulen eingeschriebenen 158.435 ausländischen Studenten waren 54.719 (= 34,54%) Bildungsinländer (Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen 2000, S. 122 f.).] Über die Gesamtzahl der gegenwärtig in Deutschland lebenden Muslime sind keine exakten statistischen Angaben möglich. Diese statistische Unfaßbarkeit hat zum einen mit der äußeren Wahrnehmung und zum anderen mit dem Selbstverständnis der Muslime zu tun. Da islamische Gemeinschaften bisher nicht den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erworben haben, erfassen die Einwohnermeldeämter die Angehörigen islamischen Glaubens bisher unter der Rubrik Verschiedene. Zudem führen sie ausländische Staatsangehörige lediglich nach der Staats- und nicht nach der Religionszugehörigkeit. Demzufolge können die Statistischen Landesämter und das Bundesamt keine Zahlen über die Zugehörigkeit zum Islam ermitteln. Allein die Volkszählung vom 25. Mai 1987 berücksichtigte bei der Religionszugehörigkeit der Bevölkerung auch die Muslime. Sie hatte die Gesamtzahl von 1.650.952 Personen in den alten Bundesländern zum Ergebnis, was einem Bevölkerungsanteil von 2,70% entsprach.
[Aufschlußreich sind verschiedene Einzelergebnisse der Volkszählung: Der überwiegende Teil aller Muslime (1.602.986 = 97,09%) war ausländischer Staatsangehörigkeit, und nur eine kleine Minderheit (47.966 = 2,91%) waren deutsche Staatsbürger. Etwa ein Drittel (573.280) lebte 1987 in Nordrhein-Westfalen. Die anderen Bundesländer mit den zahlenmäßig meisten Muslimen waren Baden-Württemberg (273.192), Bayern (215.228), Hessen (170.640) und Berlin (127.491). Das Bundesland mit dem höchsten Anteil an der Gesamtbevölkerung war mit 6,33% Berlin, gefolgt von Hamburg (3,89%), Bremen (3,69%) und Nordrhein-Westfalen (3,43%). Etwas mehr als die Hälfte aller Muslime (928.299 = 56,23%) war männlichen Geschlechts. Mehr als ein Drittel (621.222 = 37,63%) war damals jünger als 18 Jahre, und die Zahl der Personen über 60 Jahre war demgegenüber verschwindend gering (15.561 = 0,94%). Ebenfalls mehr als ein Drittel aller Muslime (616.722 = 37,36%) war seinerzeit erwerbstätig, was einem Anteil von 2,29% aller Erwerbstätigen entsprach. (Statistisches Bundesamt 1990, S. 20-43; 104).]
[Seite der Druckausg.: 18 ] Diese Ungenauigkeit rührt auch daher, daß die Zugehörigkeit zum Islam aus der Sicht der Muslime nicht in jedem Fall zweifelsfrei feststeht. Der Islam kennt keine etwa der Taufe vergleichbaren Aufnahmeriten. Vielmehr geht er davon aus, daß seine Zugehörigkeit durch Geburt erworben wird und im Vollzug der religiösen Grundpflichten ihre Bestätigung erfährt. Eine nachträgliche (Wieder-)Aufnahme geschieht durch die Ablegung des Glaubensbekenntnisses vor zwei Zeugen. Dahinter steht die Vorstellung, daß jeder Mensch aufgrund seiner schöpfungsgemäßen Bestimmung als Muslim geboren wird und sich erst nachträglich einer anderen Religionsgemeinschaft anschließt. Die Aufnahme in den Islam ist daher als Rückkehr zur ursprünglichen Religion zu verstehen.
[Zu dieser theologischen Konzeption im einzelnen: Miehl / Lemmen 1999, S. 65-70.]
Demgegenüber muß an dieser Stelle mit allem Nachdruck festgehalten werden, daß eine wissenschaftliche Untersuchung über islamische Organisationen in der Bundesrepublik Deutschland dieser Argumentation nicht bedenkenlos folgen darf. Da ihr Auftrag nicht in der Überprüfung der Rechtgläubigkeit bestimmter Gruppierungen besteht und sowohl Ahmadis als auch Aleviten ihrerseits die Zugehörigkeit zur islamischen Gemeinschaft betonen, verdienen beide eine Würdigung unter Berücksichtigung allerdings ihrer religiösen Besonderheiten. [Seite der Druckausg.: 19 ] Will man sich angesichts dieser schwierigen Voraussetzungen dennoch ein Bild von den Zahlenverhältnissen machen, empfiehlt sich ein Blick auf die Hauptherkunftsländer der überwiegend ausländischen Muslime in Deutschland. Diese Vorgehensweise hat jedoch Nachteile: Einerseits berücksichtigt sie nicht die religiösen Minderheiten aus Ländern mit einer muslimischen Bevölkerungsmehrheit.
[Die Zahl der orientalischen Christen aus der Türkei und anderen Ländern läßt sich derzeit mit insgesamt 65.000 Personen beziffern (Rothe 1995).]
Unter Berücksichtigung dieser Ungenauigkeiten lassen sich folgende Zahlen für die Hauptherkunftsländer ermitteln (Stand: 31. Dezember 1998)
[Vgl. Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen 2000, S. 233.]:
Zusätzlich lassen sich noch folgende Angaben für zahlenmäßig kleinere Gruppen aus anderen Ländern nennen (Stand: 31. Dezember 1995)
Über die Zahl der deutschen Muslime hingegen herrscht weitgehend Unklarheit. Lag sie bei der Volkszählung von 1987 bei nur 47.966 Personen, so hat sie seither durch Konversionen, Eheschließungen und vor allem durch Einbürgerungen stark zugenommen. Im Verlauf des Jahres 1997 beispielsweise erwarben 39.111 Türken, 4.010 Marokkaner, 1.677 Tunesier, 1.454 Afghanen, 1.176 Pakistanis und 1.134 Libanesen die deutsche Staatsbürgerschaft.
[Vgl. Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen 2000, S. 244.]
[Seite der Druckausg.: 20 ] bürgerungen zu erwarten. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt lassen sich jedoch keine zuverlässigen Aussagen über die Gesamtzahl der Muslime deutscher Staatsangehörigkeit treffen. Die von Peter Schütt für das Jahr 1998 genannte Zahl von mehr als 500.000 Personen ist nicht nachvollziehbar. [In einem Beitrag in der FAZ vom 17. Juli 1998 bezifferte Peter Schütt die Zahl der deutschstämmigen Muslime mit insgesamt 100.000 Personen. Hinsichtlich der Einbürgerungen von Muslimen ausländischer Herkunft nannte er folgende Zahlen: 350.000 Türken; 50.000 Iraner; 35.000 Afghanen und 9.000 Marokkaner.] Alles in allem betrachtet ist gegenwärtig von 2,7 bis 3 Millionen Muslimen in Deutschland auszugehen. Der überwiegende Teil von ihnen lebt in den alten Bundesländern. Die in der ehemaligen DDR tätigen ausländischen Arbeitnehmer und Studenten stammten überwiegend aus befreundeten sozialistischen Staaten, wie Vietnam, Polen oder der Sowjetunion. Nur sehr wenige von ihnen kamen aus muslimischen Ländern, wie Algerien oder Afghanistan. Aus Zeiten der DDR sind keine nennenswerten muslimischen Aktivitäten bekannt. Im Zuge der politischen Umwälzungen entstand 1990 in Ostberlin die Islamische Religionsgemeinschaft in der Deutschen Demokratischen Republik, die die Behörden der DDR offiziell anerkannten. Diesem Zusammenschluß einiger weniger ostdeutscher Muslime kam vor der Währungsunion eine beträchtliche Spende aus dem Parteivermögen der früheren SED zu.
[Zur Islamischen Religionsgemeinschaft und der Parteispende: Lemmen 1999b, S. 54-56.]
Eine Zuordnung der Muslime in Deutschland zu den beiden vorherrschenden Richtungen innerhalb des Islams - den Sunniten und den Schiiten mit ihren verschiedenen Ausprägungen - sowie zu weiteren Gruppierungen und Abspaltungen ist denkbar schwierig vorzunehmen.
[Auf eine Darstellung der beiden Hauptrichtungen und aller weiteren Gruppierungen muß verzichtet werden. Einige Verweise auf weiterführende Literatur sollen an dieser Stelle genügen: Halm 1988; Ahmed 1990; Kehl-Bodrogi 1993; Elsas 1994; Radtke 1996; Ende 1996; Schmucker 1996; Steinbach 1996, S. 373-386.]
© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2000 |