FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 15 ]


2. Von den Türkenkriegen bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges

Islam in Deutschland - die erste Assoziation ist dazu meist die Arbeitsmigration der sechziger und siebziger Jahre. Im Hinblick auf die Zahl liegt dies durchaus nahe. Aber ein Blick in die Geschichte zeigt, daß sich erste Spuren muslimischen Lebens in Deutschland bereits viel früher nachweisen lassen. [Vgl. Lemmen 1999c, S. 10-25.]

Weder der islamische Orient noch das christliche Abendland waren zu irgendeiner Zeit hermetisch abgeschlossene Größen, und wo sie in Kontakt zueinander traten, schlug sich dies immer auch in den Schicksalen einzelner Menschen nieder. Die ersten Muslime, die nach Deutschland kamen, waren Kriegsgefangene. Als die Osmanen 1683 zum zweiten Mal Wien belagerten und die „Türkennot" das Lebensgefühl ganz Europas prägte, eilten auch Fürsten aus Deutschland zur Verteidigung der Stadt. Wer siegreich aus der Schlacht hervorging, brachte meist Kriegsgefangene als Beute mit nach Hause. Einige hundert solcher Gefangener mögen sich damals an den verschiedenen Höfen befunden haben. Die Mehrheit wurde getauft oder kehrte in die Heimat zurück. Wer hierzulande als Muslim lebte und starb, hinterließ im besten Fall eine Grabstätte. Die ältesten erhaltenen und bekannten Grabstätten bzw. Grabsteine sind die des sechsjährigen Mustaf in Brake von 1689 sowie die von Hammet und Hassan in Hannover von 1691. [Vgl. Heller 1996.]

Das 18. Jahrhundert brachte wiederum Muslime nach Deutschland, diesmal als Soldaten im preußischen Heer. Als historisch nicht haltbar hat sich mittlerweile die von Muhammad Salim Abdullah verbreitete Auffassung einer Gemeindegründung aus dem Jahr 1739 erwiesen. [Vgl. Abdullah 1994.] Während Abdullah einen Daueraufenthalt von 22 türkischen Kriegsgefangenen in jenen Jahren in Potsdam annimmt, geht aus einer zeitgenössischen Quelle eindeutig hervor, daß sich die besagten Muslime lediglich vorübergehend dort aufgehalten haben. [In den Collectaneen des Samuel Gerlach (1711-1786), die 1883 in den Mittheilungen des Vereins für die Geschichte Potsdams abgedruckt wurden, ist zu lesen: „Den 22 großen Türken, welche dem in der Folge unglücklichen Herzog von Curland, in dem Kriege, welchen Rußland mit den Türken führte, in die Hände gerathen waren und die dieser Herzog A. 1739 unserm Könige zum Präsent machte, ward, ihren Muhamedanischen Gottesdienst abzuwarten im Königlichen Waysenhause auch ein eigenes Zimmer angewiesen, und wer weiß, was der König mehr gethan hätte, wenn er sie hätte behalten wollen, sie wurden aber aus Königlicher Großmuth allesammt wieder auf freyem Fuß gestellet und mit Geschenken wieder in ihr Vaterland zurück geschickt." (S. 179f).]

Auch die Architektur jener Zeit machte orientalische Anleihen. Im Schloßpark von Schwetzingen entstand eine „Moschee", die aber wie alle orientalisierenden Bauten jener Zeit weder als Gebetsstätte konzipiert noch genutzt wurde. [Vgl. Lange 1994.]

Die Beziehungen blieben nicht nur schöngeistig. Seit 1763 gab es in Berlin eine ständige osmanische Gesandtschaft. Der dritte osmanische Gesandte, Ali Aziz Efendi, verstarb am 29. Oktober 1798. Zu seiner Bestattung stellte der preußische König ein Gelände zur Verfügung - nach einem Geländetausch der Grundstein des bis heute erhaltenen islamischen Friedhofs am Columbiadamm. [Vgl. Höpp 1996a.]

Der Erste Weltkrieg brachte das Osmanische Reich auf die Seite der Mittelmächte. Wiederum kamen Militärs und Kriegsgefangene nach Deutschland. Bei Berlin entstanden zwei Lager zur Internierung muslimischer Gefangener aus den alliierten Streitkräften. Propaganda und regelrechte Umerziehung sollte sie dazu bringen, auf osmanischer Seite erneut in den Krieg einzu-

[Seite der Druckausg.: 16 ]

treten. In einem dieser Lager errichtete man 1915 die erste Moschee Deutschlands. Der Holzbau ist untergegangen; allein die „Moscheestraße" und einige Soldatengräber erinnern daran. [Vgl. Höpp 1997; Kahleyss 1998.]

Mit dem Ende des Krieges blieb eine Reihe muslimischer Exilanten und Flüchtlinge vornehmlich in Berlin. [Die Geschichte der Muslime in Berlin zwischen den beiden Weltkriegen erhellen die verschiedenen Beiträge von Gerhard Höpp zum Thema (1990/91; 1994a; 1994b; 1996a; 1996b und 1997).]
Durch den Zuzug von Studenten, Akademikern und Intellektuellen entfaltete sich bald ein reges islamisches Gemeindeleben, dem sich deutsche Konvertiten anschlossen und von dem heute noch die 1924 grundgelegte Wilmersdorfer Moschee zeugt. Diese Moschee der Ahmadiyya-Gemeinde gab von 1924 bis 1940 die Zeitschrift Moslemische Revue heraus, und einer ihrer Imame legte 1939 die erste deutsche Koranübersetzung aus muslimischer Feder vor. Die Muslime in Berlin organisierten sich in Vereinen, von denen die folgenden bekannt sind: [Die Unterlagen der heute nicht mehr bestehenden Vereine befinden sich im Landesarchiv Berlin oder im Vereinsregister des Amtsgerichts Berlin-Charlottenburg. Zur kritischen Sichtung und Bewertung des Materials: Lemmen 1999c, S. 14-25.]
Verein zur Unterstützung russisch-mohammedanischer Studenten e.V. (1918), Hilfsverein in Deutschland lebender Mohammedaner e.V. (1918), Islamische Gemeinde zu Berlin e.V. (1922), Gesellschaft für islamische Gottesverehrung e.V. (1924), Islam-Institut zu Berlin (1927), Deutsch-Muslimische Gesellschaft e.V. (1930) sowie Islamischer Weltkongreß, Zweigstelle Berlin e.V. (1932). Auf das als „fromme Stiftung" nach islamischem Recht konzipierte Islam-Institut zu Berlin beriefen sich zwei in späteren Jahren gegründete Vereine, worin sich die Zerstrittenheit innerhalb der muslimischen Gemeinschaft jener Tage dokumentierte: Das Islam Institut (Ma’ahad-ul-Islam) zu Berlin e.V. (1939) und das Islamische Zentral-Institut zu Berlin e.V. (1941). Nicht alle islamischen Vereine konnten sich der politischen Instrumentalisierung durch die Nationalsozialisten entziehen, sie alle gingen jedoch im Zweiten Weltkrieg unter.

Nach Kriegsende sammelten sich die verbliebenen Muslime um die Wilmersdorfer Moschee, deren Bedeutsamkeit aber mehr und mehr verblaßte. [Den Neubeginn muslimischen Gemeindelebens nach dem Kriegsende in Berlin schildert der deutsche Muslim Mohammad Aman Hobohm anschaulich (Hobohm 1994).] Das muslimische Leben entfaltete sich zunehmend an anderen Orten. [Vgl. Lemmen 1999c, S. 25-32.]

In den fünfziger Jahren ließen sich Anhänger der Ahmadiyya-Bewegung aus Großbritannien in Hamburg nieder und gründeten dort 1955 die Ahmadiyya Bewegung in der Bundesrepublik Deutschland e.V. Ein Überbleibsel aus der Kriegszeit bildete die 1958 in München gegründete Geistliche Verwaltung der Muslimflüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland e.V., bei der es sich um einen Betreuungsverein für ehemalige Wehrmachtsangehörige muslimischen Glaubens handelte. Die vor den Russen nach Süddeutschland geflohenen Muslimflüchtlinge wurden bis zu ihrem Aussterben oder der schrittweisen Integration ihrer Nachkommen in die deutsche Gesellschaft in ihren religiösen und sozialen Angelegenheiten von der Geistlichen Verwaltung betreut. Die seit langem in Hamburg ansässigen iranischen Händler und Kaufleute schufen sich 1961 ihre eigene Moschee an der Außenalster. Mit der Einreise von Studenten und Akademikern entstanden in den sechziger Jahren in Aachen und München die bis heute bekannten Islamischen Zentren.

Die bedeutende muslimische Minderheit unserer Tage geht jedoch im Wesentlichen auf die Arbeitsmigration zurück, die erstmalig Männer und Frauen aus islamischen Ländern in größerer Zahl nach Deutschland führte und den Grundstein zu einer dauerhaften muslimischen Präsenz mittlerweile in der dritten Generation legte.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2000

Previous Page TOC Next Page