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TEILDOKUMENT:


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1. Einführung: Themenbeschreibung

1.1 Aufgabenstellung

Ein Teil der nahezu drei Millionen in der BRD lebenden Muslime ist in islamischen Vereinen und Verbänden organisiert. Über Fragen der reinen Religionsausübung hinaus beanspruchen diese Organisationen, die Muslime in gesellschaftspolitischen Fragen zu repräsentieren und ihre Interessen wahrzunehmen. Den jeweiligen kommunalen oder politischen Gesprächspartnern fällt es dabei nicht immer leicht, in einen konstruktiven Dialog mit ihnen einzutreten und Entscheidungen zu treffen,

  • weil es nicht den Islam, sondern eine unüberschaubare Vielzahl islamischer Organisationen gibt und daher Unklarheit darüber besteht, welche Organisation welche Gruppe vertritt;

  • weil in der Regel Verbindungen der einzelnen Organisationen zu entsprechenden Strukturen in den Heimatländern bestehen und die Tragweite einer politischen Einflußnahme auf die Muslime in Deutschland schwer abzuschätzen ist;

  • weil bei einigen islamischen Organisationen islamistische oder nationalistische Ausrichtungen deutlich geworden sind und daher zu fragen ist, ob sie sich wirklich zur pluralistischen und freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsordnung bekennen oder sie nur für ihre Zwecke nutzen.

Zur Beantwortung dieser Fragen müssen Entscheidungsträger in Politik und Gesellschaft mit Informationen ausgestattet werden. Ziel der Expertise ist es, solche Grundinformationen über die Organisationsformen und -strukturen sowie die Vernetzungen islamischer Organisationen zur Verfügung zu stellen.

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1.2 Inhalt und Aufbau

In zwei kurzen einleitenden Kapiteln wird die islamische Präsenz in Deutschland zunächst zahlenmäßig sowie in ihren verschiedenen regionalen und konfessionellen Ausprägungen beschrieben. Dazu gehört ein Verweis auf die vergleichsweise lange Geschichte des Islams in Deutschland von den Türkenkriegen über den Ersten Weltkrieg zu den ersten Vereinsgründungen in der Weimarer Republik. In einem weiteren Kapitel wird geklärt, weshalb im Zuge der Migration der ausländischen Muslime ein islamisches Vereinswesens entstand. Dabei ist zu berücksichtigen, welche Aufgaben die Organisationen übernommen haben und welche Defizite im Hinblick auf das Selbstverständnis der Muslime bestehen bleiben. Hierzu gehört die Beschreibung der Organisationsformen und -strukturen, die in der Regel von der jeweiligen Ortsgemeinde über einen national organisierten Dachverband zu entsprechenden Organisationen im Heimatland führen. Diese These darzulegen und entsprechend der jeweiligen Ausrichtung der Organisationen zu differenzieren, wird Aufgabe des nächsten Kapitels sein. Die Klassifizierung der Organisationen folgt dabei den nationalen bzw. ethnischen Ausrichtungen, nach denen die Vereinsgründungen in der Regel erfolgten. Nach den Organisationen der türkischen Muslime sind die der arabischen, bosnischen, albanischen, iranischen und deutschen Muslime zu behandeln. Dabei wird die innerislamische Differenzierung in Sunniten, Schiiten und Aleviten berücksichtigt. Über den Rahmen der einzelnen Organisationen hinaus haben die Verbände Spitzenorganisationen gebildet, was im nächsten Kapitel zu behandeln ist. Der Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland und der Zentralrat der Muslime in Deutschland werden in ihrer Entstehungsgeschichte, Zielsetzung, Organisations- und Mitgliederstruktur charakterisiert. Den Abschluß der Expertise bildet ein Kapitel zur Relevanz des vorher Gesagten für konkretes politisches Handeln.

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1.3 Quellen und Literatur

Ungeachtet dessen, daß die Literatur über den Islam allgemein im deutschsprachigen Raum mittlerweile eine kaum mehr zu überschauende Fülle angenommen hat und bereits eine Reihe von Untersuchungen zu einzelnen Aspekten islamischen Lebens in Deutschland vorliegen, bleibt die Literatur zu den islamischen Organisationen überschaubar.

Als erster legte der deutsche Muslim Muhammad Salim Abdullah 1981 in seiner Geschichte des Islams in Deutschland einen Überblick über die seinerzeit bestehenden Vereine und Verbände vor. Dem bis heute lesenswerten Werk, dem weitere Abhandlungen folgten, waren eine Reihe von Beiträgen des Verfassers bei CIBEDO in Frankfurt am Main vorausgegangen. Als historisch und wissenschaftlich nicht haltbar hat sich das Bemühen Abdullahs erwiesen, die Anfänge islamischer Geschichte in Deutschland in einer sogenannten „altpreußischen Tradition" zu verankern. [Vgl. Lemmen 1999c, S. 11f.]
Angesichts der bestehenden Beziehungen des von ihm gegründeten und geleiteten Instituts zur Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs e.V. (IGMG) ist Kritik an der Objektivität seiner Beiträge seit Anfang der neunziger Jahre angebracht. [„Die IGMG … übt seit Anfang der 1990er Jahre großen Einfluß auf den ‘Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland’ und auf das ‘Zentralinstitut Islam-Archiv Deutschland’ aus," (Feindt-Riggers / Steinbach 1997, S. 24).]

In den späten achtziger bis frühen neunziger Jahren erschienen eine Reihe umfassender Studien türkischer wie deutscher Autoren zum Thema, etwa: Türkisch-islamische Vereine als Faktor deutsch-türkischer Koexistenz von Karl Binswanger und Fethi Sipahioglu (1988), Türkische Immigrantenorganisationen in der Bundesrepublik Deutschland von Ertekin Özcan (1992) und Türkisch-islamische Vereinigungen in der Bundesrepublik Deutschland von Metin Gür (1993). Ihnen ist gemeinsam, daß sie die Tätigkeit der verschiedenen türkisch-islamischen Organisationen auf dem Hintergrund ihrer Verbindungen zu politischen und religiösen Gruppierungen in der Türkei kritisch darstellen. Dieser Richtung folgt auch der 1990 unter dem Titel Im Namen Allahs von Bahman Nirumand herausgegebene Sammelband, der die Organisationen anderer Nationalitäten einbezieht und ihre Aktivitäten im Zusammenhang des sogenannten politischen Islams bewertet.

Mit den im Auftrag von Landesbehörden erstellten Studien des in Essen ansässigen Zentrums für Türkeistudien liegen seit Mitte der neunziger Jahre erstmals umfangreiche Untersuchungen für einzelne Bundesländer vor. Während das zuständige Ministerium die für Hessen bestimmte Studie zurückgezogen hat, erlebte die Studie für Nordrhein-Westfalen mittlerweile eine dritte überarbeitete Auflage. Nichts desto weniger sind die in ihr vorgenommenen Darstellungen der islamischen Organisationen nicht immer zutreffend wie auch die Ausführungen zum Dialog von Christen und Muslimen unzureichend sind. [Als ein Beispiel sei nur erwähnt, daß die Studie die von Abdullah behauptete historische Kontinuität seines Instituts zum 1927 in Berlin gegründeten Islam-Archiv wie auch sonstige Angaben kritiklos übernimmt (Zentrum für Türkeistudien 1997a, S. 181-183).]

Darüber hinaus haben kommunale oder kirchliche Institutionen verschiedener Städte Untersuchungen über Muslime und deren Organisationen im jeweiligen Zuständigkeitsbereich in Auftrag gegeben. Diese Berichte versuchen umfassend Auskunft über die Anzahl der Muslime, Namen und Standort ihrer Gemeinden, die Vereinsaktivitäten sowie die Zuordnung zu den jeweiligen Organisationen zu geben. Entsprechend der Zielsetzung enthalten sie viele Einzelheiten und Informationen, die im lokalen Kontext von großer Bedeutung sind. Bisher liegen Untersuchungen über folgende Städte vor: Hamburg (1990), Köln (1992), Berlin (1993

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und 1999), Essen (1995), Bremen (1995), München (1996), Frankfurt am Main (1996), Mannheim (1996) und Duisburg (ohne Jahr). [Die Untersuchungen für Berlin von 1993 sowie die für Frankfurt am Main beschränken sich nicht allein auf die Muslime, sondern beziehen die Angehörigen der anderen Weltreligionen mit ein. Der Verfasser ist mit der Abfassung einer Untersuchung über Muslime und ihre Gemeinden im Bereich des Bistums Aachen betraut, die zum Ende des Jahres 2000 ihren Abschluß finden soll.]

Gegen Ende der neunziger Jahre erschienen mehrere Publikationen zum Thema, die das gesteigerte öffentliche Interesse an grundlegenden Informationen über Muslime und ihre Organisationen bekunden.

Während Peter Heine sich in seinem 1997 erschienenen Buch Halbmond über deutschen Dächern nur im Rahmen eines kurzen Abschnitts mit den islamischen Organisationen befaßt, geht Ursula Spuler-Stegemann in ihrem Buch Muslime in Deutschland von 1998 an vielen Stellen auf sie ein. Über die gründlich zusammengetragenen und inhaltlich zutreffenden Darlegungen zu einer großen Zahl islamischer Vereine und Verbände hinaus enthält ihr Werk viele wichtige und interessante Ausführungen zu verschiedenen Aspekten muslimischen Lebens in Deutschland. Weniger empfehlenswert ist der Beitrag von Silvia Kaweh in dem 1997 von Michael Klöcker und Udo Tworuschka herausgegebenen Handbuch der Religionen. Sowohl die Ausführungen über den Islam in Deutschland allgemein als auch über die muslimischen Gemeinschaften enthalten noch viele Ungenauigkeiten und manche Fehler.

Nils Feindt-Riggers und Udo Steinbach vom Deutschen Orient-Institut in Hamburg legten 1997 die vom Bundesinnenministerium in Auftrag gegebene Studie Islamische Organisationen in Deutschland vor. Der besondere Wert dieser Untersuchung, die bei weitem nicht die ungeteilte Zustimmung der Vertreter der dargestellten Verbände fand, liegt darin, daß sie - neben der Auswertung zahlreicher Interviews und der in den Moscheen ausliegenden Literatur - die bei den Vereinsregistern der Amtsgerichte hinterlegten Akten berücksichtigte und somit umfassende und verläßliche Daten über die Innen- und Außenverhältnisse der jeweiligen Organisationen bot. [Zur Kritik an der Studie siehe die Rezensionen und Stellungnahmen: Denffer 1997; Gesellschaft Muslimischer Sozial- und GeisteswissenschaftlerInnen e.V. 1997; Verband der Islamischen Kulturzentren e.V. 1998.]
Dieselbe Vorgehensweise tritt auch in dem Gutachten zutage, das Nils Feindt-Riggers 1999 im Auftrag des Hessischen Kultusministeriums über die Islamische Religionsgemeinschaft Hessen e.V. (IRH) im Hinblick auf ihren Antrag auf Erteilung islamischen Religionsunterrichts verfaßte. Diesem methodischen Ansatz folgten auch zwei Beiträge des Verfassers der vorliegenden Studie: Türkisch-islamische Organisationen in Deutschland (1998) und Muslimische Spitzenverbände in Deutschland: Der Islamrat und der Zentralrat (1999b). Die Erkenntnisse aus beiden Arbeiten konnte er in seiner 1999 abgeschlossenen Dissertation zum Thema Muslime in Deutschland - Eine Herausforderung für Kirche und Gesellschaft aufgreifen und zu einer umfassenden Darstellung der gegenwärtigen muslimischen Präsenz in Deutschland ausweiten.

Gegenwärtige Untersuchungen über islamische Organisationen in Deutschland kommen nicht ohne eine kritische Sichtung und Auswertung der in den Vereinsregistern der Amtsgerichte hinterlegten Akten aus, die lange Zeit in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema nur unzureichend zur Kenntnis genommen wurden. Über die hier zusammengetragene und kurz bewertete Sekundärliteratur hinaus, stützt sich die vorliegende Studie wesentlich auf dieses Material, ohne allerdings jede daraus gewonnene Einsicht in den Fußnoten ausdrücklich auszuweisen.

Neben den Vereinsregisterakten sind Selbstdarstellungen der Vereine oder ihre Stellungnahmen zu bestimmten religiösen oder gesellschaftlichen Fragen eine unerläßliche Quelle bei der Erstellung dieser Studie gewesen. Diese Dokumente liegen entweder in gedruckter Form als Broschüren, Handzettel, Informationsschriften und persönlich verfaßten Briefen oder in elek-

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tronischer Form in den Webseiten der islamischen Vereine und Verbände vor. Gerade das Internet hat sich in den letzten Jahren zunehmend als das Medium zur Verbreitung von Ansichten, Meinungen und Informationen der islamischen Organisationen in Deutschland erwiesen. Kaum eine von ihnen ist heute nicht mehr durch eine eigene Homepage im Internet vertreten. Daher dürfen aus diesem Medium gewonnene Erkenntnisse in der vorliegenden Studie nicht fehlen. [Dem Urteil des Spiegels von Anfang 1998 zufolge, unterhält die Christlich-Islamische Gesellschaft e.V. (CIG) mit ihrer Homepage im Internet „die wohl umfassendste Datensammlung über Muslime in Deutschland" (Spiegel Special 1/1998, S. 129).]

Abschließend sei noch erwähnt, daß über die Auswertung der primären und sekundären Quellen hinaus der persönliche Kontakt mit Vertretern islamischer Vereine und Verbände für die Gewinnung bestimmter Einsichten von großer Bedeutung war. Der Besuch von Moscheen, Islamischen Zentren und anderen Einrichtungen, die Teilnahme an Veranstaltungen sowie die lebhafte Diskussion mit Muslimen hat nicht unwesentlich zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2000

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