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Zusammenfassende Thesen

  1. Im Zusammenhang mit Zuwanderungsprozessen verschiedener Art haben sich die meisten westeuropäischen Länder zu multikulturellen Einwanderungsgesellschaften entwickelt. Da Zuwanderungen auch in Zukunft erfolgen werden, handelt es sich dabei um einen sozialen Tatbestand, der mit großer Wahrscheinlichkeit nicht nur vorübergehender Natur ist.

  2. Multikulturelle Einwanderungsgesellschaften sind keine romantische Idylle, sondern gehen mit einer Vielzahl von sozialen Konflikten latenter und manifester sowie echter und unechter Art in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen einher. Ursächlich liegen diesen Konflikten vor allem Mechanismen der sozialen Ungleichheit und Diskriminierung, Herrschaftsverhältnisse. Konkurrenz um knappe Güter und unterschiedliche Weltanschauungen, Religionen und kulturelle Orientierungen zugrunde. Unter den verschiedenen politischen Herrschaftsformen bieten am ehesten Demokratien die Chance, sowohl eine Integration von Konflikten als auch eine Integration der Gesellschaft durch Konflikte zu erreichen. Für die Austragung dieser Konflikte stehen in demokratischen Systemen grundsätzlich weite Spielräume zur Verfügung.

  3. Zu wichtigen Voraussetzungen dafür, daß Konflikte und ihre Austragung für die Gesellschaft eine produktive Funktion ausüben, gehört, daß alle Akteure bestimmte Verfahrensregeln und regulative Ideen anerkennen, zu Kompromissen und zur Kooperation bereit sind und auf Gewalt als Mittel der Konfliktaustragung verzichten. Die Chancen für eine erfolgreiche Integration von einzelnen sozialen Konflikten und der Gesellschaft insgesamt vergrößern sich, wenn die jeweiligen Maßnahmen und Politiken an Gesichtspunkten der Demokratisierung orientiert sind. Diese Perspektive zielt darauf ab, bestehende Diskrepanzen zwischen der Idee und der Realität der westlichen Demokratien zu vermindern und im politischen, sozialen und kulturellen Bereich die formellen und realen Möglichkeiten für Individuen und Gruppen zu schaffen bzw. zu erweitern, Entscheidungen möglichst autonom zu treffen und an relevanten Entscheidungsprozessen in gleicher Weise zu partizipieren.

  4. Für Prozesse und Politiken der Integration ergeben sich daraus besondere Anforderungen. Diese betreffen zwar grundsätzlich sowohl die Seite der Zuwanderer als auch die der Aufnahmegesellschaften, die letzteren sind aber aufgrund bestehender Machtungleichgewichte sowie gesellschaftspolitischer Gesichtspunkte und rechtlicher Normen in dieser Hinsicht in erster Linie gefordert.

  5. Im Rahmen von speziellen Integrationspolitiken, die direkt auf den Bereich Migration und Integration gerichtet sind, müssen zum einen konsequente und vorbehaltlose Maßnahmen zur Integration der Einwanderungsminderheiten durchgeführt werden. Dies erfordert, daß für die im Inland dauerhaft ansässigen Migranten der Ausländerstatus abgebaut wird und die Angehörigen dieser Bevölkerungsgruppe rechtlich-politisch gleichgestellt werden. Zudem sind entschiedene Maßnahmen zum Abbau der vielfältigen sozialen Benachteiligungen erforderlich. Dazu zählen insbesondere Maßnahmen zur Verbesserung der allgemeinen und beruflichen Qualifikation der Immigranten, deren Förderung bei Einstellungen und Beschäftigung sowie wirksame Maßnahmen gegen die vielfältigen Formen der sozialen Diskriminierung. Im sozio-kulturellen Bereich muß gewährleistet werden, daß Zuwanderer in individueller und

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    kollektiver Form über gleiche Entfaltungs- und Teilhabechancen wie die Einheimischen verfügen und interkulturelle Austauschprozesse stattfinden (können).

  6. Eine weitere Aufgabe im Politikfeld Migration und Integration stellt die Steuerung und Integration neuer Zuwanderungsprozesse dar. Diese weisen einen komplexen Charakter auf und haben als Hintergrund wachsende Disparitäten zwischen den Ländern und Regionen des „Zentrums" und der „Peripherie" sowie die zunehmende Unwirtlichkeit in vielen Peripherieländern. Neben Push-Faktoren spielen dabei auch Pull-Faktoren in den westlichen Ländern eine Rolle. Politiken, die - angelehnt an eine konservativ-nationalstaatliche Option und unter Verabsolutierung von „Belangen" der Aufnahmeländer - einseitig auf „geschlossene Grenzen" bzw. eine nur zeitlich befristete und/oder selektive Zulassung abzielen, sind aller Voraussicht längerfristig wenig wirksam und gehen zudem unter Integrations- und Demokratisierungsgesichtspunkten mit erheblichen negativen Folgen einher. Angemessener erscheinen Politiken, die von dem strukturellen und globalen Charakter des Migrations- und Flüchtlingsproblems ausgehen und sowohl auf die Ursachen- als auch die Folgenbekämpfung gerichtet sind. Zu wichtigen Elementen im Ursachenbereich gehören Maßnahmen zum Abbau wirtschaftlicher Disparitäten, zur Absenkung des Bevölkerungswachstums, zur Bekämpfung der politischen Ursachen von Fluchtbewegungen und zur Beendigung der regionalen und globalen Umweltzerstörung. Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Folgen müssen zum einen eine Verbesserung der Situation der Flüchtlinge und Migranten in den Herkunftsregionen beinhalten, zum anderen auf die westlichen Industriestaaten gerichtet sein. Von zentraler Bedeutung sind dabei die internationale Harmonisierung einer Asylgesetzgebung, die effektiven Verfolgungsschutz garantiert, die Schaffung großzügiger und transparenter Einwanderungsgesetze für die unterschiedlichen Typen von Zuwanderern auf der Ebene der Einzelstaaten und der EU insgesamt sowie Maßnahmen zur Sicherung der Eingliederung der Zuwanderer und zur Vergrößerung der Akzeptanz der einheimischen Bevölkerung gegenüber dem globalen Migrations- und Flüchtlingsproblem und der Integration neuer Zuwanderer.

  7. Bei allgemeinen Integrationspolitiken, die über den Bereich Migration und Integration hinausreichen und gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge betreffen, geht es zum einen darum, zentrale gesellschaftliche und politische Probleme zu bewältigen. Hierfür sind zum einen angemessene Problemlösungskompetenzen, zum anderen Maßnahmen erforderlich, die auf den Abbau von demokratischen Strukturdefekten und sozialen Ungleichheiten sowie den Ausbau von sozialen Vernetzungen gerichtet sind.

  8. Die Wirksamkeit von Integrationsprozessen und -politiken ist auch abhängig von Einstellungen, Fähigkeiten und Verhaltensweisen der Individuen und von gesellschaftlichen Interaktions- und Kommunikationsprozessen. Von daher sollten Integrationspolitiken zum Abbau von politischer Apathie und Gleichgültigkeit sowie von Einstellungen und Verhaltensweisen beitragen, die den autoritären Sozialcharakter auszeichnen. Damit einhergehend sollte die Entwicklung eines Sozialcharakters mit demokratischem Profil gefördert werden. Zu dessen Merkmalen gehören Ich-Stärke und Autonomie sowie Kompetenzen wie Reflexions-, Kommunikations- und Handlungsfähigkeit. Zur Entwicklung dieser Fähigkeiten können Prozesse des „offenen" sozialen, politischen und interkulturellen Lernens von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen im schulischen und außerschulischen Bereich einen wesentlichen Beitrag leisten.

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  9. Zusätzlich sind besondere Vorkehrungen zur Umsetzung und Weiterentwicklung von Integrationspolitiken zu treffen. Dieser Anforderung kann einmal dadurch Rechnung getragen werden, daß auf verschiedenen Ebenen besondere Institutionen und Organisationen geschaffen werden, die über entsprechende Kompetenzen, ausreichende sachliche Voraussetzungen und qualifiziertes Personal verfügen. Zusätzlich sollten zivilgesellschaftliche Initiativen und Aktivitäten einbezogen und gefördert werden.

  1. In westlichen Demokratien bestehen weite Spielräume der autonomen Entfaltung und Konfliktaustragung, zur Vermeidung von Prozessen der Desintegration müssen dabei allerdings bestimmte Grenzen eingehalten werden. Von zentraler Bedeutung ist in dieser Hinsicht die Anerkennung eines Basiskonsenses, der formale und inhaltliche Elemente aufweist. Die Bestimmung eines derartigen Basiskonsens ist in pluralistischen und multikulturellen Demokratien ein (Grenz-) Problem und geht insbesondere mit der Gefahr einer antipluralistischen Introversion und Verhärtung des Grundkonsenses einher. Werden grundrechtlich gewährleistete Freiheitsspielräume unter dem Gesichtspunkt des Schutzes anderer Rechtsgüter begrenzt, so muß dies den Grundsätzen der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit entsprechen. Letztlich entscheidender Maßstab für die Definition des Basiskonsenses und der damit gesetzten Grenzen der Toleranz sind verfassungsrechtlich verankerte Prinzipien (Menschenwürde und -rechte, Grundsätze der rechtsstaatlichen und sozialen Demokratie). Als „interkulturelles Minimum" gelten diese in gleicher Weise für die Angehörigen von Mehrheit und Minderheiten. Allerdings sind damit Probleme, Konflikte und Kontroversen bei den jeweiligen Konsens- und Grenzbestimmungen nicht ausgeschlossen und zudem müssen diese vor dem Hintergrund von gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Veränderungen jeweils neu reflektiert und weiterentwickelt werden.

  2. Für Integrationsprozesse und -politiken, die auf eine Ausweitung und Vertiefung demokratischer Prozesse zielen, ist insgesamt eine kombinierte Strategie erforderlich, die eine Vielzahl politischer Maßnahmen, gesellschaftlicher Initiativen und pädagogischer Aktivitäten umfaßt und auf unterschiedliche Bereiche und Ebenen bezogen ist. Mit der Konkretisierung dieser Perspektive sind aller Voraussicht nach neue Fragen und Probleme verbunden und zudem müssen bei deren Umsetzung und Weiterentwicklung erhebliche Widerstände und Konflikte bewältigt werden. Von daher sind konsequente und vorbehaltlose Integrationspolitiken in multikulturellen Einwanderungsgesellschaften ein Bestandteil und Ausdruck dessen, was als „Dauergeschäft der Demokratisierung" bezeichnet worden ist (Narr 1995, S. 201).

© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 2001

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