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Dietrich Thränhardt
Integrationsprozesse in der Bundesrepublik Deutschland - Institutionelle und soziale Rahmenbedingungen




1. Was ist Integration?

Was Integration sei und wie sie am besten zu bewerkstelligen sei, ist in der deutschen Diskussion ebenso wie in anderen Ländern immer wieder umstritten gewesen. Einerseits ist der Begriff „Integration" inhaltlich offener als Begriffe wie Assimilation, Separation oder Multikulturalität, die als Alternativen bereitstehen. Andererseits enthält er einen deutlichen normativen Impuls, der auf Zusammenführung und Zusammenhang von Unterschiedlichem gerichtet ist. Er soll ausdrücken, daß es in einer demokratischen Gesellschaft keine strikten und undurchdringlichen Grenzen zwischen einzelnen Gruppen geben darf - weder im Zugang zu Örtlichkeiten noch in der Einkommensverteilung oder im öffentlichen Diskurs oder in der grundsätzlichen Wertorientierung in bezug auf die Normen des demokratischen Zusammenlebens. Dieser Impetus des Begriffs „Integration" ist in den letzten Jahren besonders in der emphatisch-beschwörenden Verwendung des Gegenbegriffs „Desintegration" der Gruppe um den Bielefelder Pädagogen Heitmeyer deutlich geworden, mit dem alle Übel und Probleme bezeichnet werden sollten: Abgrenzung von gesellschaftlichen Wertvorstellungen, Ausschluß von Kommunikationszusammenhängen und notwendigen Ressourcen und schließlich Kriminalität als antisoziales Verhalten. [ Daß Heitmeyers generalisierender Pessimis mus und Alarmismus in bezug auf Ausländer- und Aussiedler-Jugendliche von seinen eigenen empirischen Daten nicht gedeckt wird und daß er auf die sonstige wis senschaftliche Literatur kaum eingeht, ist verschiedent lich kritisch angemerkt worden. Vgl. z.B. Bernhard Santel, Töten für den Islam? Eine holzschnitt artige Studie über junge Türken in Deutschland, in: Dietrich Thränhardt, Texte zu Migration und Integration in Deutschland, Münster 1999, S. 123-125 (Interkulturelle Studien 30).]

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Wie kann Integration in einer offenen Gesellschaft konzipiert werden und welche Ziele sollte sie haben? Setzt man voraus, daß in einer pluralistischen Gesellschaft Unterschiedlichkeiten legitim sind und gleichzeitig ökonomische und soziale Kommunikation stattfindet, daß politische Entscheidungen mit Mehrheiten getroffen werden und ein Grundkonsens über die Rahmenbedingungen und die Entscheidungsregeln besteht, so ist eine differenzierte Konstellation gegeben. In einer pluralistischen Gesellschaft ist es legitim, daß sowohl Einzelpersonen wie Gruppen unterschiedliche Vorstellungen über grundlegende Wertbezüge haben, sofern sie in dem von der Verfassung vorgegebenen Rahmen bleiben und diskursfähig sind.

Ebenso ist es legitim, daß Personen und Gruppen sich unterschiedlicher kultureller Formen und Zeichen bedienen, sich unterschiedlich kleiden etc., solange dadurch nicht die Teilnahmefähigkeit der Einzelnen an der gesellschaftlichen Kommunikation abgeschnitten wird und die Individuen fähig bleiben, über ihre Gruppen-Teilnahme und ihre Präferenzen selbst zu entscheiden.

Eine solche Vorstellung der Legitimität von Unterschieden ist nicht neu. Schon in der klassischen deutschen Literatur findet sie sich in Lessings „Nathan der Weise", wo die beiden hier angeführten Kategorien von Unterschieden - Letztbegründungen und akzidentielle Formen - explizit genannt werden und gleichwohl Diskurs und Kommunikation zwischen Moslems, Juden und Christen zustande kommen soll.

In der Nachkriegszeit hat der Theologe Hellmuth Gollwitzer die Unterscheidung von „Letztem" und „Vorletztem" geprägt und damit zum Ausdruck bringen wollen, daß auch bei unterschiedlichen weltanschaulichen Letztbegründungen vernünftiges gemeinsames Handeln zustandekommen kann und mit gemeinsamen „vorletzten" Maximen formuliert werden kann.

Schließlich hat Ernst Fraenkel, der Begründer der Pluralismus-Theorie in Deutschland, explizit auch Unterschiede der Herkunft in seine Konzeption einbezogen und sie damit in den gleichen Zusammenhang der Legitimität von Gruppenorganisation, Gruppenzusammenhang, Gruppenkultur und Gruppendurchsetzung gebracht - immer im Kontext gemeinsamer Basisüberzeugungen, die sich letztlich auf die Verfassung gründen und weitgehend in ihr fixiert sind. Pluralismus hat sich als Leitprinzip in Deutschland in

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den letzten Jahrzehnten durchgesetzt, auch bei denen, die ihm zunächst ablehnend gegenüber gestanden haben. [ Man vergleiche z. B. die Vorrede von Habermas zur Neuausgabe seines Buches „Struk tur wandel der Öffentlichkeit" und die positive Verwendung des Begriffs durch Bundespräsident Herzog, der den Begriff noch in seinem frühen Aufsatz im „Evangelischen Staatslexikon" abgelehnt hatte.]

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2. Französische Assimilation, britische Ethnisierung und deutsche Unbestimmtheit

Die Vorstellung von Integration ist weder identisch mit dem Ziel der Assimilation aus der französischen Tradition noch mit dem Ziel des Multikulturalismus aus der britischen Tradition. Ganz in der französischen Sicht schrieb die bekannte Politikwissenschaftlerin Dominique Schnapper 1990: „Wir verstehen unter Nation eine materiell und moralisch integrierte Gesellschaft mit ... relativ großer moralischer, mentaler und kultureller Einheitlichkeit der Bewohner, die dem Staat zugehören und sich seine Gesetze gewissenhaft zu eigen machen." [ Dominique Schnapper, Six manières d’être européen, Paris 1990, S. 244. Übersetzung D.T.] Auch der 1990 eingesetzte Haut Conseil à l´intégration [ Haut Conseil à l´intégration, Pour un modèle francais d´íntégration. La connaissance de l´immigration et de l´integration, Paris 1991 (La documenta tion Francaise). Auch in: L´inté gration à la francaise. Documents, dirigé par Jean-Claude Zylberstein, Paris 1993.] kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. Er setzt den Begriff Integration an die Stelle von Assimilation, unterlegt ihm aber stark assimilative Züge und schließt gruppenmäßige Besonderheiten aus, ganz in der Tradition der Französischen Revolution, deren Grundgedanke eine Verbindung zwischen Individuen und der Nation unter Ausschluß jeder Zwischeninstanz war. Probleme mit dieser Art Gleichheit Aller tauchen allerdings auf, wenn sich Frankreich in der Realität stärker mit christlichen als mit moslemischen Traditionen identifiziert und wenn insbesondere die französischen Moslems algerischer Herkunft als nicht zugehörig behandelt werden und darauf reagieren. Inzwischen distanzieren sich allerdings auch Staat und Gesellschaft in Frankreich immer mehr von den rigiden etatistischen Traditionen. So hat beispielsweise der ehemalige Präsident Mitterrand in seinen letzten Amtsjahren immer wieder die „société civile" beschworen.

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In Europa stellt Großbritannien das entgegengesetzte Extrem dar. Hier wird nach amerikanischem Vorbild eine Politik des Multikulturalismus betrieben. Jeder Bürger wird in der Volkszählung ebenso wie bei vielen anderen Verwaltungsakten einer ethnischen Gruppe zugeordnet, wobei Systematik der Bezeichnungen für die einzelnen Gruppen eine gewisse Konfusion verraten und neben Rassenkategorien auch geographische Kategorien umfassen: White, Afro-Carribbean, African, Asian, Chinese etc. Von Anfang an war die Politik auf eine Akzeptanz kultureller Identität der einzelnen Gruppen einschließlich ihrer Religionen abgestellt. Das Schulwesen wurde entsprechend verändert, so daß die einzelnen Gruppen ihre Charakteristika auch dort pflegen, festigen oder rekonstruieren können. Daraus hat sich allerdings eine starke Tendenz entwickelt, die Einwanderer zu stereotypisieren und ihre Andersartigkeit hervorzuheben. Auch der Two-Domain-Ansatz des britischen Soziologen John Rex konnte dieses Problem nicht lösen. Er unterschied zwischen einem privaten Bereich, der offen für kulturelle Unterschiede sein sollte, und einem öffentlichen Bereich, der allen gemeinsam sein sollte. Weitgehende und wohlgemeinte Versuche wie der der englischen Stadt Bradford, eine multikulturelle Politik in Kooperation mit dem Moslemischen Rat der Stadt durchzuführen, scheiterten an der Konstruktion dieser Politik. Die traditionell orientierte religiöse Führerschaft wurde dadurch gestärkt und geriet während des Rushdie-Konflikts in grundsätzliche Auseinandersetzungen mit der öffentlichen Meinung. [ Sigrid Baringhorst, Fremde in der Stadt. Pluralistische Integration und ethnische Konflikte. Multikulturelle Minderheitenpolitik, dargestellt am Beispiel der nordengli schen Stadt Bradford, Baden-Baden 1991.]

Frankreich und Großbritannien sind ebenso wie die Niederlande stark durch die postkoloniale Situation der Einwanderungen geprägt, die wegen des bitteren Algerienkrieges im Fall Frankreichs besonders spürbare Auswirkungen gehabt hat. [ Erst am 10. Juni 1999 beschloß die Französische Nationalversammlung einstimmig, den Algerienkrieg auch offiziell als „Krieg" zu bezeichnen. Bis dahin wurde er mit „Maß nah men zur Aufrechterhaltung der Ordnung" oder „in Nordafrika ausgeführte Operationen" bezeichnet. Vgl. Neue Zürcher Zeitung 132, 11. Juni 1999.] Die beiden Modelle stehen in direkter Kontinuität der Kolonialpolitiken der beiden Länder und der klassischen Diskussion um die Vorteile der französischen „direct" und der britischen „indirect" rule, die mit den moralischen Begründungen einer „mission civilisatrice" bzw. „the white man´s burden" verbunden waren. Werden die Modelle vorgetragen,

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so ist ein Echo dieser moralischen Überzeugungen spürbar. Da es bei den Einwanderungen um Teile der ehemaligen Kolonialbevölkerung ging, wurden in der ersten Zeit der Einwanderung beschäftigungslos gewordene Kolonialspezialisten mit Fragen der Eingliederung der Zuwanderer befaßt, was die Kontinuität des jeweiligen Diskurses begünstigte. Der britische Diskurs wird auch stark durch den amerikanischen überlagert, der wiederum durch die Traditionen der Segregation, des Rassismus und der Ethnisierung gekennzeichnet ist.

Sowohl der britische wie der französische Diskurs sind in sich konsistent und stimmig. Wenn es auch zweifelhaft ist, ob es in Frankreich oder in Großbritannien bessere Integrationserfolge gibt als in Deutschland, so trägt die Klarheit der beiden Modelle zu einer gewissen Ausstrahlung in der Öffentlichkeit bei. Gleiches gilt für das niederländische Beispiel, das sowohl von Experten als auch von offiziellen Regierungsstellen immer wieder als musterhaft herausgestellt wird - als eine Art „immaterielles niederländisches Exportprodukt" [ Rudolf Leiprecht/ Helma Lutz, „The Dutch Way": Mythos und Realität der interkulturellen Pädagogik in den Niederlanden, in: Georg Auernheimer/ Peter Gsettner (Hrsg.), Jahrbuch für Pädagogik, Frankfurt 1996, S. 239.]. So trifft beispielsweise die niederländische Regierung selbst 1994 in einem offiziellen Dokument die Aussage, die Niederlande seien in bezug auf Minderheitenpolitik „allen anderen europäischen Ländern in einer Reihe von Beziehungen voraus" [ Policy on the Integration of Ethnic Minorities, Lower House of the States General, Session 1993-1994, Doc. 23 684, S. 17. Übersetzung D.T.].

Der italienische Politikwissenschaftler Melotti hat die drei großen europäischen Einwanderungsländer wie folgt charakterisiert: Frankreich mit „ethnozentristischer Assimilation", Großbritannien mit „ungleichem Pluralismus" und Deutschland mit „Institutionalisierung der Unsicherheit". [ Umberto Melotti, Immigrazione e culture politiche in Europa, in: Studi Emigrazione/ Etudes Migrations, 107, 1992, S. 448-464.] Für Deutschland ist daran weniger richtig, daß die ansässige ausländische Bevölkerung von realer Unsicherheit betroffen wäre und Sorge um ihren Aufenthaltsstatus oder sozialstaatliche Leistungen haben müßte. Im Gegenteil: Der Aufenthaltsstatus ist für die meisten Italiener, Portugiesen, Spanier, Griechen, die Zuwanderer aus dem ehemaligen Jugoslawien und aus der Türkei weitgehend verfestigt, vor allem wegen des ausgebauten EU-

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Bürgerrechts und des ihm in vieler Beziehung nahekommenden Assoziationsstatus der Türkei. Auch inländische Grundrechte bieten einen weitgehenden Schutz, und die öffentliche Meinung ist wachsam. Nur in Fällen gravierender Kriminalität trifft Melottis Argument zu, und es kommt zu Ausweisungen, wenn Zuwanderer nicht die deutsche Staatsangehörigkeit erworben haben.

Melottis Argument trifft aber voll zu, wenn man die subjektive Seite der Existenz vieler Ausländer und deren Rezeption durch die deutsche Öffentlichkeit beschreiben will. Der türkisch-amerikanische Politikwissenschaftler Nedim Ögelman bezeichnet diesen Aspekt als „Perzeptionsproblem": Die Lage wird als problematischer und schlechter empfunden als sie wirklich ist [ Nedim Ögelman, Transplanted Factions and Local Action: The Development of Germany´s Turkish-Origin Associations, Diss. Austin Texas, Ende 1999.] - vor allem, wenn man die wirtschaftliche Lage und die wohlfahrtsstaatliche Inklusion von Zuwanderern in Deutschland mit der in den USA vergleicht.

Es gibt eine ganze Reihe wichtiger Gründe für diese Fehlperzeption: Die habituell gewordene Tendenz vieler deutscher Intellektueller, die Zustände im eigenen Land jeweils als die schlimmsten und problematischsten zu sehen, die Hervorhebung krimineller Aktivitäten gegenüber Minderheiten in Deutschland und in den internationalen Medien, die Tendenz der Regierung Kohl und der CDU/CSU zur Wahlkampfführung auf Kosten von Minderheiten - fortgesetzt in der Unterschriftensammlung gegen den sogenannten „Doppelpaß" im Winter 1998/99 - und der Betreuungsdiskurs [ Jürgen Puskeppeleit/ Dietrich Thränhardt, Vom betreuten Ausländer zum gleichbe rechtigten Bürger. Perspektiven der Beratung und Sozialarbeit, der Selbsthilfe und Artikulation und der Organisation und Integration der einge wanderten Ausländer aus den Anwerbestaaten in der Bundesrepublik Deutsch land, Freiburg 1990.] im Ausländerbereich, der die Selbständigkeit und Eigenverantwortung der Ausländer vernachlässigte und die Wahrnehmung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Erfolge erschwert. Ob es gut oder weniger gut gemeint ist: Zuwanderer werden in vielen Diskursen nach wie vor als „Problem" oder als bedürftige Gruppe wahrgenommen, auch wenn sie (die ehemaligen Anwerbeausländer und ihre Kinder) im wesentlichen den Standard der sozialversi-

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cherungspflichtigen Arbeitnehmer erreicht haben und ein ökonomisches Aktivum darstellen. [ Vgl. Ursula Mehrländer/ Carsten Ascheberg/ Jürg Ueltzhöffer, Situation der aus ländischen Arbeit nehmer und ihrer Fa milien angehörigen in der Bundes republik Deutschland, Bonn 1996 (Bundes mini sterium für Arbeit und Sozialord nung, Forschungsbericht 263); Dietrich Thränhardt, Renate Dieregsweiler/ Martin Funke/ Bernhard Santel, Ausländerinnen und Ausländer in Nordrhein-Westfalen. Die Lebenslage der Menschen und die Handlungsmöglichkeiten der Politik, Düsseldorf 1994 (Landessozialbericht Bd. 6).]

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3. Integrationserfolge im Vergleich der Staatsangehörigkeiten: einige Überraschungen

In der heutigen Debatte zur Integration der Ausländer in Europa gehört die Unterscheidung zwischen dem „europäischen Kulturkreis" und anderen Kulturen bzw. zwischen Christen und Moslems sowohl in der Öffentlichkeit wie in weiten Bereichen der Wissenschaft zur conventional wisdom. Europäer oder EU-Europäer gelten als kulturell nahestehend, gut integrierbar und unproblematisch, Nichteuropäer bzw. Moslems als andersartig und unintegrierbar. Seit dem Ende des Kommunismus hat sich die Ausgrenzung der Türkei und der Türken im öffentlichen Diskurs weiter verstärkt. Wurden die Türken in der angesehensten deutschen Wochenzeitung 1980 noch in angestrengter Formulierung als „Nichtzentraleuropäer" bezeichnet [ Jürgen Schilling, Sind wir fremdenfeindlich, provinziell, vermufft oder gar rassi stisch? in: Die Zeit, 21.11.1980. Schilling war Generalsekretär des Deutschen Roten Kreuzes. Zum Kontext des Exklusions-Diskurses vgl. Dietrich Thrän hardt, Die Bundesrepublik Deutschland - ein unerklärtes Einwanderungs land, in: Aus Politik und Zeitgeschich te, B 24, 10.6.1988, S. 11-13; dort auch weitere Verweise. Der Artikel rief heftige Proteste hervor.], so geraten sie in dem Ende 1997 erschienenen Meinungsartikel eines Demographen in der Frankfurter Allgemeinen umstandslos zum Vortrupp der „Dritten Welt", „in deren Windschatten sich eine weitere orientalische und afrikanische Zuwanderung aufbaut". [ Josef Schmid, Die dritte Generation. Die Doppel-Staatsbürgerschaft weist nicht den Weg in die Integration, sondern in das Chaos, in: FAZ Nr. 270, 20.11.1997.]

In der deutschen öffentlichen Debatte ist die Aussage, es gäbe kein Ausländerproblem, sondern nur ein Türkenproblem, seit 1980 präsent. In diesem Sinne argumentierte beispielsweise die Frankfurter Allgemeine für einen Stopp jeglicher türkischer Einwanderung. Ebenso erklärte Helmut Kohl, kurz

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bevor er Kanzler wurde in Wahlreden, die Zahl der „türkischen Mitbürger" müssen vermindert werden. [ Frankfurter Rundschau 203, 3. 9. 1982.] Gesetzlich wurde die „Rückkehrförderung" eingeführt - ein System finanzieller Anreize zur Rückkehr für Nicht-EG-Bürger. Während die öffentliche Debatte in dieser Hinsicht moderater geworden ist, verschärfte sich der Ton einiger Wissenschaftler. Mit dem populären Huntingtonschen Paradigma vom Kulturkonflikt als neuer weltpolitischer Bestimmungsgröße [ Samuel Huntington, Kampf der Kulturen, München/ Wien 1996.] wurden die ausgrenzenden Ideen mit neuer wissenschaftlicher Weihe und Durchschlagskraft versehen. Auch die vor allem in der pädagogischen Literatur immer wieder beschworene kulturalistische Entgegensetzung eines modernen, toleranten, aufgeklärten und individualisierenden Westens und eines traditionalistischen, fundamentalistischen und familistischen Südens wird im zitierten Artikel von Schmid weiter zugespitzt:

    „Ist das Elternhaus intakt, unterliegen sie [die Kinder, D.T.] strengen Unterordnungsnormen ihrer orientalistischen [sic!] Familie, die für das deutsche Schul- und Leistungssystem wenig Sinn hat. Stammen sie aus zerbrochenen elterlichen Verhältnissen, bilden sie die Gruppe der Abbrecher in allen Bildungsgängen und suchen in Jugendbanden den Familienersatz."

Schließlich äußert der Autor die Vermutung, die statistisch aufweisbaren besseren Bildungserfolge ausländischer Jugendlicher in den letzten Jahren seien „Europäern" und nicht „Jugendlichen orientalischer Herkunft" zuzuschreiben. Mit anderer Intention hat Wilhelm Heitmeyer ein ähnliches Schreckensbild entworfen. [ Wilhelm Heitmeyer/Joachim Müller/Helmut Schröder, Verlockender Fundamentalismus, Frankfurt a.M. 1997.]

Nimmt man diese geballte Kraft stereotyper Einstellungen zur Kenntnis - hier anhand eines extrem formulierten, aber in der Tendenz nicht untypischen Beispiels zitiert -, so muß überraschen, daß die Indikatoren für soziale Integration und wirtschaftlichen Erfolg ein sehr viel differenzierteres Bild ergeben. Vergleichen wir die großen Einwanderergruppen in Deutschland in bezug auf Bildungserfolg, Beruf, Arbeitslosigkeit und Intermarriage, so fin- den wir einerseits sehr hohe Erfolgswerte bei den Spaniern, andererseits

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aber sehr niedrige Werte bei den Italienern. Deren Werte befinden sich etwa auf dem gleichen Niveau wie die der türkischen Staatsangehörigen und liegen im Bildungsbereich sogar darunter. Dies überrascht auch deshalb, weil die Italiener in der Bundesrepublik im Vergleich der ehemaligen Anwerbestaaten die älteste Einwanderergruppe sind und schon aus diesem Grund - ausgehend von der Annahme wachsender Integration mit Zeitablauf - erwartet werden könnte, daß ihre Situation sich am besten darstellt. Italien verfügt schließlich im Vergleich der Anwerbeländer auch über das weitaus höchste Pro-Kopf-Einkommen und die stärkste wirtschaftliche Dynamik. Schließlich hatte Italien durch die Jahrhunderte in Kultur, Wirtschaft und Politik auch immer enge Beziehungen mit Deutschland. Besonders auffällig ist der Kontrast bei den Bildungserfolgen der Jugendlichen (Schaubild 1). Berechnet man die Anteile der Studierenden an der jeweiligen Bevölke-






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rung, so liegt der Prozentsatz der Spanier mit 1,3 mehr als dreimal so hoch wie der der Italiener mit 0,4 %. Alle anderen Gruppen weisen höhere Werte auf als die Italiener - mit Ausnahme des ehemaligen Jugoslawien, das wegen des Krieges und der Fluchtbewegung bei den aktuellen Werten nicht mehr vergleichbar ist. Bei diesen Vergleichen werden immer nur die „Bildungs-Inländer" betrachtet, also Jugendliche, die in Deutschland aufgewachsen sind.

Betrachtet man die Verteilung der Schüler auf die verschiedenen Schultypen, so ergibt sich ein ähnliches Bild großer Diskrepanzen, bei dem die italienische Gruppe besonders schlecht abschneidet (Schaubild 2).



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Ein hoher Prozentsatz der italienischen Schüler befindet sich in der Hauptschule. Nur zwei Gruppen mit hohen Flüchtlingsanteilen weisen höhere Prozentsätze von Hauptschulabsolventen auf. Gleiches gilt für einen Vergleich der Bildungsabschlüsse. Statistisch besonders deutlich wird die Diskrepanz, wenn man zur Veranschaulichung die Schülerzahlen für Gymnasien mit denen für Sonderschulen konfrontiert (Schaubild 3). [ Bei den schulbezogenen Daten können inzwischen die Bürger Bosniens, Kroatiens, Mazedoniens, Sloweniens und des neuen Jugoslawien unterschieden werden. Bei den Staatsangehörigkeitsdaten ist das noch nicht der Fall, weil zum Teil noch auf der Grundlage der alten gesamtjugoslawischen Staatsangehörigkeit gezählt wird.]



Während dreimal mehr Spanier Gymnasien besuchen als Sonderschulen und die Relation sich bei den Kroaten sogar günstiger ausnimmt als bei den deutschen Staatsangehörigen, gehen mehr italienische Schüler auf die Son-

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derschulen als auf die Gymnasien. Dies ist erneut ein ungünstigeres Verhältnis als bei der türkischen Gruppe.

Vergleichen wir den Berufsstatus der „zweiten Generation", so finden wir ganz entsprechende Muster. Während die Mehrheit der jungen Spanier als Facharbeiter, Meister und Angestellte beschäftigt ist, ist es bei den jungen Türken und Italienern nur eine Minderheit. Die Relationen bei den anderen Gruppen liegen zwischen diesen Werten. Diese Diskrepanz hat sich in den letzten zwanzig Jahren aufgebaut und war bei Beginn der Anwerbung nicht existent [ Stefan Bender/Wolfgang Seifert Zuwanderer auf dem Arbeitsmarkt: Nationalitäten- und geschlechtsspezifische Unterschiede, in: Zeitschrift für Soziologie, Nr. 25, S. 473-495. ] (vgl. Tabelle 1).

Tabelle 1:
Ausländer der „zweiten Generation": Berufsanfänger

Betrachten wir die Arbeitslosigkeit, so sind türkische Staatsbürger am meisten betroffen. Wiederum stellt sich die Lage der italienischen Gruppe aber nur wenig positiver dar, und wir finden vergleichsweise geringe Arbeitslosigkeitsraten bei der spanischen Gruppe (Schaubild 4).

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Die Zahl der deutsch-ausländischen Eheschließungen ist in den letzten Jahrzehnten stark gestiegen, sie kann als besonders aussagekräftiger Indikator für Assimilation gelten. [ Peter Schmidt/ Stefan Weick, Starke Zunahme von Kontakten und Ehen zwischen Deutschen und Ausländern, Informationsdienst Soziale Indikatoren, Ausgabe 19, Januar 1998, S. 5.] Wir messen hier nicht die Intermarriage-Entwicklung selbst, da dies mit erheblichen methodischen Unsicherheiten verbunden ist. Insbesondere müßten die Eheschließungen in den verschiedenen Ländern abgeglichen werden, ganz abgesehen vom verbreiteten Trend zu undokumentierten Verbindungen. Statt dessen werden in unserem Vergleich die Kinderzahlen aus deutsch-ausländischen Verbindungen einerseits und von Eltern identischer Staatsangehörigkeit andererseits gegenübergestellt. [ Die geringe Zahl der Kinder aus nichtdeutschen binationalen Verbindungen bleibt bei diesem Vergleich unberück sich tigt.] Zugleich können wir dabei die Formierung der Folgegeneration

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nachvollziehen. Bei unserem Vergleich finden wir zwar ein Gefälle zwischen Türken und EU-Bürgern, wie es den Erwartungen der öffentlichen Meinung entspricht, andererseits aber erneut große Abstände zwischen den verschiedenen EU-Nationalitäten. Bei den Spaniern zeigt sich eine dynamische integrative Entwicklung hin zu mehr als drei Vierteln Kindern aus deutsch-spanischen Verbindungen, bei den Griechen dagegen relativ wenig Assimilation (Tabelle 2). Andererseits sind diese bei den Bildungswerten ähnlich günstig positioniert wie die Spanier.

Tabelle 2:
Geburten aus deutsch-ausländischen und aus ausländischen Ehen

Dieses sehr unterschiedliche Heiratsverhalten trägt schließlich zu extrem unterschiedlichen Entwicklungen der Gesamtgröße der jeweiligen Staatsangehörigkeits-Gruppen bei. Während nach den Kriterien der deutschen Statistik die Zahl der Spanier von Jahr zu Jahr sinkt, da drei Viertel der Kinder von Spaniern auch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, steigen die Zahlen bei den anderen Nationalitäten wegen der Tendenz zur Normalisierung der Altersstruktur an. Bei den türkischen Staatsangehörigen hat sich ein Drei-Generationen-Schema ausgebildet, bei dem die Jahrgangszahlen intergenerational insgesamt stabil bleiben, allerdings in einem Auf und Ab entsprechend den Einwanderungs- und Generationenfolgen.

Die geschilderten strukturellen Unterschiede in Deutschland haben sich über die letzten Jahrzehnte schrittweise aufgebaut und sind stabil und kon-

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sistent. Dies gilt, obwohl sich für alle Zuwanderergruppen insgesamt schrittweise Integrationsprozesse vollziehen. Studien haben immer wieder gezeigt, daß die Gruppe der Italiener unterdurchschnittliche Ergebnisse erzielt, vor allem im Bildungsbereich, und daß Spanier und Griechen vergleichsweise erfolgreich sind. [ Für Griechen und Italiener vgl. insbesondere Richard Alba u.a., Ethnische Ungleichheit im deutschen Bildungssystem, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 46. Jg. 1994, S. 209-237. Landeshauptstadt München, Referat für Stadtplanung und Bauordnung, Lebenssituation ausländischer Bürgerinnen und Bürger in München, München 1997.] Diese Ergebnisse sind für die Öffentlichkeit aber nie relevant geworden, da die Aufmerksamkeit - wie erwähnt - so stark auf die Türken gerichtet war. Für Frankreich lassen sich ähnliche Diskrepanzen zwischen den einzelnen Einwanderergruppen nachweisen, ohne daß die statistischen Daten mit denen in Deutschland direkt vergleichbar wären. [ Vgl. Michèle Tribalat, De l’immigration à l’assimilation. Enquête sur les populations d’origine étrangère en France, Paris 1996.]

Statt dessen hat die Existenz der vielen italienischen Eisdielen und Pizzerien und die Angewohnheit, „zum Italiener" zu gehen, den Eindruck vermittelt, daß italienische Kultur und italienische Kulinarik Teil des deutschen Lebens geworden seien und für die Italiener in Deutschland keine Probleme bestünden. Dies hat sich auch stark auf die Sozialwissenschaften ausgewirkt. Viele Autoren haben nur noch türkische Einwanderer in den Blick genommen und dabei stillschweigend unterstellt, daß diese die Problemgruppe seien. Damit haben sie die erstaunlichen Diskrepanzen nicht wahrgenommen, die sich zwischen den verschiedenen Einwanderungsnationalitäten auftun. Andere Studien haben die Spanier überhaupt nicht mehr mit betrachtet, da diese Gruppe sehr klein geworden ist, wenn man die Kriterien der deutschen Ausländerstatistik anlegt. [ Alba u.a. 1994, a.a.O.; Landeshauptstadt München 1997, a.a.O.] Andere Studien wiederum leiden unter lokalistischer Verengung, indem sie Daten aus einem sehr begrenzten örtlichen Bereich entnehmen und verallgemeinern. [ Zu einem Vergleich lokaler und regionaler Disparitäten vgl. Dietrich Thränhardt, Regionale Ansätze und Schwerpunktaufgaben der Integration von Migrantinnen und Migranten in Nordrhein-Westfalen, Studie für das Ministerium für Umwelt, Raumordnung und Landwirtschaft, erscheint Düsseldorf 1998, mit entsprechenden Verweisen.]

Die Tendenz, Forschungsergebnisse nicht zu beachten, kann auch in Hinsicht auf den Vergleich zwischen Deutschland und der Schweiz in bezug auf

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Integration von Einwanderergruppen beobachtet werden. Dieser Vergleich ist besonders deshalb interessant, weil die beiden Länder sich stark ähneln. Sie haben überwiegend denselben sprachlichen Hintergrund, eine Mischung zwischen marktwirtschaftlichen und korporatistischen Elementen in der Wirtschaft, sehr ähnliche Systeme der Berufsbildung und schließlich auch langandauernde parallele Traditionen von „Gastarbeiter"-Systemen und Nichteinbürgerung.

Schon 1982 wiesen zwei Studien darauf hin, daß italienische Einwanderer in der Schweiz in Erziehung, wirtschaftlichem Erfolg und Intermarriage höhere Werte aufwiesen als ihre spanischen Kollegen. Ein Studie basierte auf Umfrage-Studien in den Regionen Zürich und Frankfurt, die andere auf amtlichen Daten. [ Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny/Karl-Otto Hondrich (Hrsg.), Ausländer in der Bundesrepublik Deu tsch land und der Schweiz. Segregation und Integration: eine vergleichende Untersuchung, Frankfurt am Main 1982; Barbara von Breitenbach, Italiener und Spanier als Arbeit nehmer in der Bundesrepublik Deutschland, Mainz/München 1982. ] Gleichzeitig belegte die Zürich-Frankfurt-Studie sehr klar, wie ungünstig sich die Position der italienischen Gruppe in Frankfurt im Vergleich zur Position der türkischen Gruppe in Frankfurt darstellte. Inzwischen sind die Resultate für Zürich fünfzehn Jahre später in einer neuen Studie detailliert bestätigt worden, an den relationalen Positionen der beiden Gruppen hat sich nichts geändert. Wiederum sind die Italiener in der Schweiz unter allen Gruppen aus dem Mittelmeerraum die erfolgreichste [ Hans-Peter Müller u. a., Integrationsleitbild Zürich, Band 2: Beilagen, Zürich 1998.]. Über die Jahrzehnte betrachtet finden wir eine konsistente Erfolgsgeschichte für die Italiener in der Schweiz und für die Spanier in Deutschland, während die Italiener in Deutschland eine wenig erfolgreiche Gruppe sind und die Spanier in der Schweiz hinter den Italienern weit zurückstehen.

In der Literatur sind drei Erklärungen für die geringen Erfolge gerade der italienischen Staatsangehörigen gegeben worden. Die erste Erklärung bezog sich auf die Qualität der Studien, die Ergebnisse sind jedoch konsistent. [ Ulrike Schöneberg, Bestimmungsgründe der Integration und Assimilation ausländischer Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland und der Schweiz, in: Hoffmann-Nowotny/Hondrich 1982; dies., Gestern Gastarbeiter, morgen Minderheit. Zur sozialen Integration von Einwanderern in einem „unerklärten" Einwanderungsland, Frankfurt am Main 1993; Hoffmann-Nowotny/Hondrich 1982, a.a.O. ]

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Eine zweite Erklärung stellte auf angebliche kontraproduktive Wirkungen der Rechte aus der Freizügigkeit der Europäischen Union (früher EWG bzw. EG) ab. In der Vergleichsuntersuchung von Hoffmann-Nowotny und Hondrich wird argumentiert, die Italiener in Deutschland hätten im Gegensatz zu denen in der Schweiz aufgrund des Rechts der freien Bewegung die Gewohnheit des Hin- und Herwanderns angenommen und dies habe den Bildungserfolg der Kinder negativ beeinflußt, während die Italiener in der Schweiz bei Rückwanderung das Aufenthaltsrecht verlören und deshalb im Lande blieben. Ulrike Schöneberg zieht darauf folgenden Schluß: „Bemerkenswert ist, daß ähnlich wie bei der aufenthaltsrechtlichen Absicherung die weitgehende rechtliche Gleichstellung der Italiener mit den Deutschen sich eher als integrations- bzw. assimilationshemmend auswirkt". [ Schöneberg 1982, a.a.O. S. 472.]

Die Untersuchung selbst weist allerdings aus, daß die untersuchten Italiener im Raum Zürich sogar stärker hin- und herwanderten als die Italiener in Frankfurt, und zwar mit 28 gegenüber 22 Prozent. [ Schöneberg 1982, a.a.O. S. 458, 477.] Die Dauer der Anwesenheit in Deutschland war und ist bei der italienischen Gruppe auch im Vergleich zu anderen Einwanderergruppen nicht derart niedrig, daß dies eine Erklärung für die Integrationsdefizite liefern könnte (Tabelle 3). Hinzuweisen ist auch darauf, daß die Integrationserfolge der spanischen und griechischen Gruppe in Deutschland nach dem Beitritt zur Europäischen Union und der Gewährung der entsprechenden Rechte nicht etwa abnahmen. Auch diese Erklärung ist also unbefriedigend.

Eine derartige Erklärung widerspräche auch den Zielen, die immer wieder für die oberen und mittleren Gesellschaftsschichten formuliert werden. Dort würde man Bewegungsfreiheit und Souveränität der Entscheidung über das eigene Schicksal zweifellos als produktiv und nicht als kontraproduktiv interpretieren, ebenso wie die Kenntnis mehrerer Sprachen. Die Idee der Bewegungsfreiheit des einzelnen liegt genuin auch dem Liberalismus und der Marktwirtschaft zugrunde. Wäre das Urteil Schönebergs richtig, so hätte dies weitreichende Folgen für jegliche Gesellschaftstheorie.

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Tabelle 3:
Aufenthaltsdauer der über 17jährigen Ausländerinnen und Ausländer aus den ehemaligen Anwerbeländern nach Staatsangehörigkeit in NRW am 31.12.1995
(Anteile der jeweiligen Altersgruppe in %)


Eine dritte Erklärung, die immer wieder geäußert wird, stellt auf eine negative Selektion in bezug auf die Herkunft der Gruppe aus Süditalien ab. Sie kann als Mezzogiorno- oder Mafia-Erklärung gekennzeichnet werden. Ironischerweise steht sie in scharfem Gegensatz zu der in den USA verbreiteten Idee, nach der die dynamischeren Elemente der Gesellschaften auswanderten und eine bessere Welt aufbauten, während die weniger dynamischen Elemente dablieben. In diesem Sinne argumentiert Putnam in seiner bekannten Studie über die Entwicklungsdivergenz zwischen Nord- und Süditalien:

    „Indeed, it might be argued that ‘selective emigration’ could account for the backwardness of the South, if civic-minded southerners were disproportionately likely to emigrate." [ Robert D. Putnam, Making Democracy Work. Civic Traditions in Modern Italy, Princeton 1993, S. 239. Putnam bezieht sich auf "some suggestive eviden ce" aus Johan Galtung, Members of Two Worlds, New York 1971, S. 190-191.]

Solche Annahmen, in welcher Richtung sie auch immer gehen, bewegen sich unterhalb des Niveaus eines sozialwissenschaftlichen Diskurses, wenn sie für große Bevölkerungsgruppen angestellt werden. Für unser Problem ist

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zudem darauf hinzuweisen, daß die italienischen Einwanderer in der Schweiz sich wie die in Deutschland und in den USA hauptsächlich aus Süditalien rekrutieren. Zudem finden wir in Deutschland bei genauer Betrachtung auch eine gewisse frühe Einwanderung aus dem Norden Italiens, wo auch die Rekrutierungsstelle angesiedelt war.

Blicken wir auf die Anwerbung zurück, so finden wir ebenfalls keine Erklärung, sondern eher eine neue Überraschung, und zwar bei der Gewichtung der Anteile der qualifizierten Arbeitskräfte (Facharbeitern und Angelernte). 30,9 % der türkischen Arbeitskräfte wurde als „qualifiziert" rekrutiert, ebenso wie 29,0 % der jugoslawischen und 23,3 % der italienischen. Dagegen galten nur 7,7 % der spanischen und 8,9 % der griechischen Arbeitskräfte als qualifiziert (Tabelle 4). Dies sind Kategorisierungen der Bundesanstalt für Arbeit. Sie machen klar, daß gerade die türkischen und die italienischen Arbeitskräfte als vergleichsweise qualifiziert galten. Andererseits fällt besonders auf, daß gerade die beiden Gruppen, die in der Folge am erfolgreichsten waren - die Spanier und die Griechen - bei den Rekrutierungen die niedrigsten Einstufungen erhielten.

Tabelle 4:
Anwerbung qualifizierter Arbeitnehmer 1961-1973

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4. Integration im Vergleich der deutschen Bundesländer

Einen ersten Block von Erklärungen für die Diskrepanzen finden wir, wenn wir auf die Ebene der deutschen Bundesländer zurückgehen und in diesem Rahmen die Nationalitäten vergleichen. In der folgenden Tabelle geschieht das für die vier deutschen Bundesländer mit mehr als 5000 Schülern italienischer Staatsangehörigkeit.

Die extremen Unterschiede, die sich dabei zeigen, sind zu einem großen Teil für die zahlenmäßigen Defizite der Gruppe der italienischen Staatsangehörigen bei den Schulerfolgen verantwortlich. So besuchen jeweils mehr als zehn Prozent aller italienischen Schüler in Bayern und in Baden-Württemberg Sonderschulen, weit mehr als in Hessen oder Nordrhein-Westfalen. Dies ist ein erstaunlich hoher Wert, auch im internationalen Vergleich. Gleichzeitig gehen nur 4,2 % der italienischen Schüler in Baden-Württemberg zum Gymnasium, weniger als halb so viele wie in Hessen (Tabelle 5). Da aber mehr als ein Drittel aller italienischen Schüler in Baden-Württemberg lebt, wirken sich die dortigen Verhältnisse stark auf die Gesamtzahlen auf Bundesebene aus.

Tabelle 5:
Schulbesuch italienischer Kinder nach Bundesländern 1996/97 (in %)

Die Schulerfolge der ausländischen Jugendlichen differieren deutlich zwischen den deutschen Bundesländern. In Nordrhein-Westfalen liegt der Anteil der ausländischen Schüler mit schulischen Qualitätsabschlüssen - Abitur

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und Fachoberschulreife - zweieinhalbmal so hoch wie in Bayern (Schaubild 5). Die Disproportionen sind weit extremer als die entsprechenden Unterschiede zwischen den Jugendlichen deutscher Staatsangehörigkeit zwischen den deutschen Bundesländern (Schaubild 6).




Betrachten wir diese Unterschiede, so können wir schließen, daß die Landespolitik wichtige Qualitätsunterschiede setzt. Die Schulpolitik in Bayern und Baden-Württemberg muß als segregationistisch eingestuft werden. Bayern führt ebenso wie Baden-Württemberg besondere Schulklassen bzw. Schulzweige für ausländische Kinder: in Bayern die „nationalen", in Baden-Württemberg die „internationalen" Klassen. [ Vgl. Ray C. Rist, Guestworkers in Germany. The Prospects of Pluralism, Die ungewisse Zukunft der Gastarbeiter, Münster 1980. ] Als Ziel stand bei der Einrich-

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tung dieser besonderen Beschulung die Rückkehrförderung bzw. die Erhaltung der jeweiligen nationalen „Kultur" im Vordergrund. Obwohl sie immer als in der Qualität gleich präsentiert worden sind, behindert ihre Existenz als besondere Einheiten die Schüler bei der Erreichung weiterführender Abschlüsse. Wesentlich dabei ist die Tatsache, daß die Sonderformen fast ausschließlich an Hauptschulen existieren und der Übergang zu weiterführenden Schulen damit mit einer zusätzlichen Hürde belastet wird. Darüber hinaus wird dieser in den beiden genannten Ländern ohnehin schwer gemacht. Die ganze Konstruktion erinnert an die Doktrin des separate but equal in den amerikanischen Südstaaten, die mit der Entscheidung des Supreme Court 1954 nach Jahrzehnten für illegal erklärt wurde. Bundesrichter Earl Warren argumentierte damals:

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    To separate (children) from others of similar age and qualifications solely because of their race generates a feeling of inferiority as to their status in the community that may affect their hearts and minds in a way unlikely ever to be undone. [ Zitiert nach John E. Miller, The Unmaking of Americans. How Multiculturalism Has Undermined the Assimilation Ethic, New York 1998, 191.]

Auf der anderen Seite beschulen die Länder Hessen und Nordrhein-Westfalen alle Einwandererkinder im allgemeinen Schulsystem - von Übergangszeiten zum Sprachenlernen abgesehen. Darüber hinaus können befähigte Schüler nach der zehnten Klasse ohne weiteres auf weiterführende Schulen wechseln. Für ausländische Schüler ist dies ein ganz wesentlicher Weg zum Abitur, Fachabitur oder zur Mittleren Reife. Schließlich werden in Nordrhein-Westfalen bei der Lehrerverteilung Einwandererkinder (auch Aussiedler) doppelt berechnet.

Diese relevanten Unterschiede zwischen den vier Ländern in der Schulpolitik erklären einen wesentlichen Teil der gravierenden Defizite der italienischen Kinder im deutschen Bildungssystem. Italiener (und Einwanderer aus dem ehemals jugoslawischen Raum) leben nämlich überwiegend in Baden-Württemberg und Bayern, während türkische, spanische und griechische Staatsangehörige sich mehr in den nördlichen und mittleren Teilen der alten Bundesrepublik angesiedelt haben.

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5. Assimilative und pluralistische Integrationsmuster und ihre bisherigen Erklärungen

Schon in den Arbeiten von Ulrike Schöneberg finden sich Aussagen, die auf eine große Relevanz von Kommunikationsprozessen innerhalb der verschiedenen Gruppen und eine hohe Organisationsdichte schließen lassen. Dabei zeigen sich gravierende quantitative Unterschiede zwischen den Einwanderungsgruppen, die den Integrationserfolgen weitgehend korrespondieren. Erfolgreiche Gruppen weisen eine intensivere interne Kommunikation auf und sind vereinsmäßig höher organisiert. [ Schöneberg 1982, a.a.O., S. 485 f.; Schöneberg 1993, a.a.O., S. 121-181.] In Schönebergs Untersuchungsdaten zur Situation in Frankfurt fällt die Gruppe der Italiener in

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bezug auf die Mitgliedschaft und die Intensität der inneren Gruppenkommunikation weit hinter die griechische und die türkische Gruppe zurück. Diese Daten weisen in die Richtung der amerikanischen Ansätze zu „ethnic networks" und von Netzwerk-Erklärungen generell. [ Statt vieler Jan Lucassen (Hrsg.), Migration, Migration History, History, Bern 1997; Leslie Page Moch (Hrsg.), Moving Europeans, Migration in Western Europe since 1650, Blomington 1992; Dirk Hoerder, European Migrants. Global and Local Perspectives? Boston 1996.]

Versucht man nun, die genannten Indikatoren zu interpretieren, so lassen sich unterschiedliche Integrationsmuster herausarbeiten, die hier aufgrund bisher erhobener Daten und der Diskussion in der Literatur formuliert werden:

5.1 Die Spanier: Effektive autonome Interessenartikulation und erfolgreiche Assimilation

Die Gruppe der Spanier ist in allen Beziehungen vergleichsweise erfolgreich, obwohl sie sich zum Zeitpunkt der Einwanderung nicht durch besonders günstige sozioökonomische Daten auszeichnete. Sie verbindet sich in der zweiten Generation weitgehend mit der deutschen Bevölkerung und ist in
der dritten Generation in Deutschland nur noch zu einem kleinen Teil sozial und statistisch sichtbar. Gleichwohl existieren intensive Beziehungen zum Herkunftsland. Die zeitweise starke Rückwanderung, insbesondere von Rentnern, erfolgt aus einer Position realer Wahlmöglichkeit zwischen Deutschland und Spanien. [ Schmidt/Weick, a.a.O., heben hervor, daß nur bei den Spaniern der Anteil derjenigen, die dauerhaft in der Bundesrepublik bleiben wollen, 1995 nicht zugenommen hat (S. 3).] Es handelt sich bei dieser Gruppe um rasche assimilative Integration, die mit einer weitgehenden Annäherung an die Statusverteilung in der Mehrheitsgesellschaft verbunden ist.

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Der spanische Elternverband ist auf der Grundlage vorheriger lokaler Gründungen 1973 auf Bundesebene etabliert worden. [ Confederacion de las Associaciones de Padres de Familia e la RFA/ Bund der spanischen Elternvereine in der Bundesrepublik Deutschland, Lo que somos y hacemos/ Was wir sind, was wir tun, Bonn 1979. Vgl. auch Barbara von Breiten bach, Der Spanische Elternverein als Mittel zur Willensbildung und Selbst bestimmung spanischer Arbeitsemigranten in der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 1978.] Er konnte intensive staatliche und kirchliche Unterstützung gewinnen und setzte - zum Teil auch gegen deutsche Schulverwaltungen - integrativen Unterricht und Hausaufgabenhilfe durch. In der Gründungszeit bestand eine weitgehende Einheitlichkeit der Willensbildung, die sich aus der Opposition gegen das Franco-Regime speiste, das sich in einer langandauernden Endkrise befand. Die Beteiligten selbst sprachen in ironischer Umkehrung des offiziellen Slogans der spanischen Polizei von „todos contra la patria" [ Interview mit dem „presidente fundador" der Elternvereinigung, Manuel Romano-Garcia, Dezember 1997.].

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Finanzielle Hilfe kam während des ausgehenden Franco-Regimes auch von offiziellen Stellen, da die Desintegration des Regimes zu Neuorientierungen führte. Erst die offene Parteienkonkurrenz nach der Etablierung der Demokratie brachte Spannungen auch in die spanische Gemeinschaft in Deutschland, die die Interessenvertretung nach außen aber nicht entscheidend beeinträchtigten. Der integrative Erfolg der spanischen Organisationen führt intergenerational in absehbarer Zeit zum Aufgehen der Gruppe in der deutschen Bevölkerung. Dies kommt am Ende der neunziger Jahre darin zum Ausdruck, daß jetzt Seniorenvereine der Schwerpunkt der Aktivitäten sind. Die spanischen Vereine operieren unabhängig vom ursprünglichen Betreuungsverband und arbeiten mit unterschiedlichen Wohlfahrtsverbänden und anderen Landes- und Bundesinstitutionen zusammen. 1995 wurde eine eigene Weiterbildungsakademie begründet.

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5.2 Die Griechen: Heimatbezogene Einheitsverbände und pluralistische Integration

Die Gruppe der Griechen folgt der Gruppe der Spanier in bezug auf die sozialstrukturellen Daten, insbesondere auf Bildung, in geringem Abstand. Sie bleibt von der deutschen Bevölkerung aber stärker getrennt, sowohl in Hinsicht auf Bildung wie auf Konnubium. Dies hängt mit einer ausgeprägten Koloniebildung und einer stärkeren Identifikation mit dem Herkunftsland zusammen, was sich in stärkerer Hin- und Herwanderung nachweisen läßt. Im Vergleich zu allen anderen Gruppen haben die Griechen die höchsten Prozentsätze an Selbständigen. Bei dieser Gruppe finden wir pluralistische Integration unter Aufrechterhaltung bzw. Aufbau von Gruppenidentitäten, wobei anscheinend auch die Gruppen- und Identitätsbildung in bezug auf bestimmte Herkunftsregionen wichtig ist.

Dieser Verlauf entspricht tendenziell dem 1921 durch Park, Thomas und Miller formulierten „ethnischen Paradox", d.h. einer Entwicklung in Richtung funktionaler Integration, die durch soziale Prozesse begünstigt wird, die mit starker Identifikation mit der ethnischen Herkunft und entsprechend starker „Binnenintegration" [ Der Begriff nach Georg Elwert, Probleme der Ausländerintegration. Gesellschaftliche Integration durch Binnenintegration? KZSS 34. Jg. 1982, S. 717-731. Zur amerikanischen Tradition vgl. Robert E. Park/ William I. Thomas/ H. M. Miller, Old World Traits Transplanted, New York 1971 (zuerst 1921), S. 225-258. Die ältere amerikanische Literatur ist allerdings stark auf die Rahmenbedingungen in den USA um die Jahrhundertwende bezogen und läßt sich nicht ohne weiteres auf Deutschland übertragen. Insbesondere muß der hochorganisierte deutsche Sozialstaat mit seinen Regulierungen und Diensten in Rechnung gestellt werden, der viele Funktionen ausfüllt, die in den USA durch ethnische Gruppen erbracht wurden. Vgl. dazu Silvia Dörr/ Thomas Faist, Institutional conditions for the integration of immigrants in welfare states: A comparison of the literature on Germany, France, Great Britain, and the Netherlands, in: European Journal of Political Research 3, 1997, S. 401-426.] verbunden sind. Myrdal und andere argumentieren zusätzlich, ethnische Vereinigungen erfüllten speziell kompensatorische Funktionen für Gruppen, die von Staat und Gesellschaft ausgegrenzt seien (Kompensationsthese) und dieser Effekt gehe verloren, wenn die Lobbyarbeit Erfolg habe und die Gruppe sich in die Gesellschaft assimiliere. [ Gunnar Myrdal u.a., An American Dilemma, New York 1944; Nicolas Bab chuck/ Ralph V. Thompson, The Voluntary Associations of Negroes, in: American Sociological Review, 27. Jg. 1962, S. 647-655. ]

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Die Griechischen Gemeinden in Deutschland entstanden ebenfalls in Opposition gegen die Militärdiktatur. [ Hans Schlumm, Eine neue Heimat in der Fremde. Die Entwicklung der grie chi schen Gastarbeiter zu Angehörigen einer Einwanderungsminorität in der Bundes republik, Frankfurt am Main 1984.] Nach deren Ende 1974 fungieren sie weitgehend als Einheitsverband, andere Organisationen sind bedeutungslos geworden. Die Führungspositionen werden durch Wahlen anhand von Parteilisten bestimmt, was eine starke Beziehung der Organisationseliten auf die griechischen Parteien bedingt. „Nationale Schulen" und bilinguale Kindergärten waren vielfach ein Ziel selbstbewußt formulierter Aktivitäten. Dies hat zu großer Geschlossenheit der griechischen Gruppe geführt, für die der Ausdruck „Einwandererkolonie" angemessen ist. Trotz der Differenz des Konzepts ist der Bildungserfolg fast ebenso hoch wie bei der spanischen Gruppe, verbunden mit einer weitgehenden Aufrechterhaltung der Herkunfts-Identität. Weniger weitgehend sind aber die Erfolge in bezug auf die Berufsfindung, was mit der geringeren Vernetzung mit der Gesamtgesellschaft zu erklären sein dürfte.

5.3 Die Italiener: Klientelistische Politisierung der Vereine

Die Gruppe der Italiener steht, wie schon ausgeführt, den beiden erstgenannten Gruppen in bezug auf die Bildungs- und Einkommenswerte deutlich nach. Sie erreicht mehr Interkonnubium als die Griechen, aber weniger als die Spanier. Weit ausgeprägter als bei den anderen Gruppen ist bei den Italienern die Ungleichverteilung der Geschlechter, auch nach über vierzig Jahren Einwanderung existiert ein Männeranteil von sechzig Prozent. Insofern finden wir bei dieser Gruppe ein drittes Integrationsmuster mit mittlerem Assimilationsniveau und defizitärer sozioökonomischer Situation.

Die italienische Regierung finanzierte von Anfang an Personal zur Betreuung der italienischen Arbeitskräfte in Deutschland, und zwar für verschiedene italienische Organisationen (ACLI, Gewerkschaften, Parteien). Damit gab es professionelle Organisationseliten, die an einem späteren Aufstieg im Heimatkontext orientiert waren, und ehrenamtliche Eliten, die ebenfalls an diesen Kontext gebunden waren. Die italienischen Parteien hatten ein erhebliches Interesse an den Italienern im Ausland als Wähler, und der Staat

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förderte die Wahlbeteiligung durch Freifahrten aus Anlaß der Wahlen. Hinzu kam ein klientelistisch gefärbter politisierter Pluralismus in Italien selbst und insbesondere in der Arbeiterschaft.

Insgesamt entstand auf diese Weise ein doppelter Klientelismus gegenüber dem Betreuungsverband und gegenüber der Heimatpolitik, was die Formulierung eigenständiger Interessen eher behinderte. Dies kommt auch heute noch dadurch zum Ausdruck, daß die meisten Vereine der Italiener im Gegensatz zu denen der Spanier bis heute keine eigene Rechtspersönlichkeit haben, sondern finanziell von der Caritas abhängig sind. [ Ergebnis einer Umfrage im Auftrag des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales NRW: Bestandaufnahme der Potentiale und Strukturen von Selbstorganisationen von Migrantinnen und Migranten in Nordrhein-Westfalen. Institut für Politikwissenschaft, Universität Münster (erscheint 1999).] Kißler/Eckert konstatieren dementsprechend in einer Studie zu einem Kölner Wohnviertel bei der Gruppe der Italiener eine „deutlich geringere interne Verflechtung" als bei der Gruppe der Türken. [ Mechtilde Kißler/ Josef Eckert, Multikulturelle Gesellschaft und Urbanität - Die soziale Konstruktion eines innerstädtischen Wohnviertels aus figurationssoziologischer Sicht, in: Migration. A European Journal of International Migration and Ethnic Relations, 1990,
S. 43-79.]
Auch Kammerer resümiert: „The reproduction of the Italian political mosaic seems to favour the links with Italy at the cost of a better collective interaction with German society." [ Peter Kammerer, Some Problems of Italian Immigrant’ Organisation in the Federal Republic of Germany, in: Roben Ostow/ Jürgen Fijalkowski et al. (Hrsg.), Ethnicity, Structured Inequality, and the State in Canada and the Federal Republic of Germany, Frankfurt am Main 1991, S. 196. Eine systematische Darstellung der Entwicklung am Beispiel von Berlin bei: Edith Pichler, Migration, Community-Formierung und ethnische Ökonomie. Die italienischen Gewerbetreibenden in Berlin, Berlin 1997, für unseren Zusammenhang insbesondere S. 41-46.]

Diese Struktur kontrastiert zu der in der Schweiz. Dort hat die italienische Einwanderung eine ältere historische Kontinuität und ist insbesonders durch die Tradition des antifaschistischen Exils geprägt, das intensiv mit der Arbeiterschaft verbunden war und sich gegen das Mussolini-Regime definierte. Die Einwanderer aus Italien organisierten sich - ausgehend von den antifaschistischen Eliten aus der Emigrationszeit - in einer schon 1930 gegründeten autonomen Vereinigung, der Federazione Colonie Libere Italiane in Svizzera, die von Barbara Schmitter als „outstanding independent immi

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grant association" charakterisiert wird.4 [6 Barbara E. Schmitter, Immigrants and Associations. Their Role in the Socio-Political Process of Immigrant Worker Integration in West Germany and Switzerland, in: International Migration Review, 14. Jg. 1980, S. 187-88. In ihrer unveröffentlichten Dissertation vergleicht Schmitter die Organisation der Einwanderer in Deutschland und der Schweiz im Detail und weist auf die deutlich größere soziale Distanz zwischen einheimischer und eingewanderter Bevölkerung in der Schweiz hin, ebenso wie auf die restriktiven Regelungen im Arbeits- und Aufenthaltsrecht (Barbara Epple Schmitter, Immigration and Citizenship in West Germany and Switzerland, Diss. Chicago 1979, S. 235).] Diese Vereinigung publizierte die unabhängige Zeitung Emigrazione Italiana, rief die italienischen Migranten zu partizipativer Mitwirkung in der Schweiz auf und war fähig, auch in der schweizerischen Öffentlichkeit eigenständig die Interessen der Migranten zu artikulieren - bis hin zu einer Studie zu den erschreckenden Mißerfolgen der italienischen Kinder in den Schulen. Die hier aufgezeigten Unterschiede ähneln denen zwischen Nord- und Süditalien, wobei in den Analysen gerade auch auf „Netzwerk-Bildung und Aufbau von Vertrauen" abgestellt wird.4 [7 Robert D. Putnam, a.a.O., S. 159, 161.]

5.4 Dualismus bei den Einwanderern aus dem ehemaligen Jugoslawien

Die Einwanderer aus dem ehemaligen Jugoslawien verfügten bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges ebenfalls über relativ hohe Integrationswerte, wenngleich sie deutlich hinter den Spaniern zurücklagen. Wie sich anhand neuer Daten zeigen läßt, bestehen aber große Integrationsdifferenzen zwischen Slowenen, Kroaten, Bosniern, Serben und Mazedoniern, und zwar in dieser Reihenfolge (vgl. Schaubild 2). Deswegen kann die Hypothese von einer in sich polarisierten Struktur formuliert werden: einerseits eine befriedigende Eingliederung gut ausgebildeter Arbeitskräfte, vor allem aus Slowenien und Kroatien, die entgegen den Wünschen der damaligen jugoslawischen Regierung wegen der hohen Löhne nach Deutschland gingen und aufgrund der historischen Bindungen zu Österreich teilweise auch Sprachkenntnisse mitbrachten, andererseits aber schwierigere Integrationsbedingungen bei den Gruppen aus den südöstlichen Teilen des Landes, vor allem bei Mazedoniern und Kosovo-Albanern, die im übrigen auch später nach Deutschland einwanderten, zum Teil auch als Flüchtlinge.

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Schon vor dem Auseinanderbrechen Jugoslawiens gab es bei der Betreuung ebenso wie in der Vereinsstruktur „jugoslawische" Vereine mit engen Beziehungen zur damaligen Regierung und „kroatische" Vereine mit engen Beziehungen zur Caritas.4 [8 Vgl. Dietrich Thränhardt, Ausländer im Dickicht der Verbände - Ein Bei spiel verbands gerechter Klientenselektion und korporatistischer Politikformu lierung, in: Franz Hamburger u.a. (Hrsg.), Sozialarbeit und Ausländerpolitik, Neuwied 1983, S. 63 (Neue Praxis Son derheft 7).] Dieser Dualismus führte zu einer starken Heimatorientierung und einem latenten Konflikt innerhalb der Gruppe, insbesondere weil der kroatisch-katholische Nationalismus bei den Sozialberatern der Caritas stark ausgeprägt war. Es kann vermutet werden, daß die kroatischen Vereine, in denen eine intensive nationalistisch-religiöse Grundstimmung vorherrschte, mit Hilfe ihrer engen Anbindung an konfessionelle Strukturen in Deutschland eine umfangreiche integrative Aktivität entwickelten, während die „jugoslawischen" Konkurrenzorganisationen, die vom Herkunftsstaat gestützt wurden, weniger effektiv blieben. Auf diese Weise wäre eine Verstärkung der ohnehin gegebenen Disparität wahrscheinlich. Die albanisch sprechenden Albaner aus dem Kosovo schließlich dürften in ein institutionelles Vakuum geraten sein.

5.5 Symbolischer Extremismus und Gegeneinander bei den Türken

Die Türken, die größte Staatsangehörigkeitsgruppe, haben sich ebenfalls stark ausdifferenziert. Obwohl ihre Integrationswerte vergleichsweise niedrig liegen, stellen sie aufgrund ihrer zahlenmäßigen Stärke auch in den meisten Erfolgs-Kategorien die größte Gruppe, etwa in den Gymnasien. Nur in bestimmten Regionen Süddeutschlands überwiegen sie nicht. Ebenfalls aufgrund ihrer großen Zahlen sind Türken und Kurden in Deutschland am stärksten „sichtbar", wie in den sechziger Jahren die Italiener. Auch in dieser Gruppe finden wir deshalb eine breite Streuung unterschiedlicher Lebenslagen, ebenfalls auf der Tatsache beruhend, daß ein großer Teil der türkischen Facharbeiter aus dem Raum Istanbul nach Deutschland gekommen ist, außerdem auch Lehrer und andere Akademiker bzw. Studenten, andererseits aber auch Migranten aus den weniger entwickelten Gebieten des Ostens und Flüchtlinge aus dem kurdischen Bürgerkriegsgebiet.

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Nach einer ruhigen und erfolgreichen ersten Phase fiel die zweite Phase der Einwanderung aus der Türkei mit der Zuspitzung der innenpolitischen Konflikte zusammen, die in den Militärputsch 1980 mündete. Zugleich wurde die Repression gegen die kurdische Bevölkerung fortgeführt. Dies hatte zur Folge, daß Deutschland zum Austragungsort von in der Türkei unterdrückten Konflikten und zum Ruhe- und Finanzierungsraum für politische Organisationen wurde.4 [9 Ahmet Sezer/ Dietrich Thränhardt, Türkische Organisationen in der Bundes republik, in: Karl-Heinz Meier-Braun/ Yüksel Pazarkaya (Hrsg.), Die Türken. Berichte und Informatio nen zum besseren Verständnis der Türken in Deutsch land, Frankfurt am Main 1983,
S. 119-154.]
Ein weiterer Effekt dieser Situation war es, daß türkische Organisationen sich gegenseitig gegenüber der deutschen öffentlichen Meinung denunzierten und auf diese Weise Schreckbilder schufen, die bis heute weit über die faktische Relevanz hinaus lebendig geblieben sind, insbesondere das der „Grauen Wölfe" und des „islamischen Fundamentalismus". Dies trug zur Verstärkung der Stigmatisierung von Türken und Kurden bei.

Als Hypothese kann deswegen formuliert werden, daß ein großer Teil der türkischen und insbesondere der kurdischsprachigen Bevölkerung stigmatisiert wurde und sich damit das oben erwähnte „ethnische Paradox" ausformte, so daß sich funktionale Integrationsprozesse ergaben, die in Distanz zum politisch-administrativen System abliefen. Dies betrifft insbesondere auch die islamische, türkisch-nationalistische und kurdische Vereinsbildung. Andererseits dürften sich weitgehend positiv-integrative Prozesse bei den Gruppen ergeben haben, die modernisierend-europäische Grundideen verfochten und sich weitgehend aus Einwanderern rekrutierten, die aus den entwickelteren Gegenden der Türkei stammten.

5.6 Neue individuelle Einwanderung aus Polen

Die neue polnische Einwanderung begann nach der Verhängung des Kriegsrechts in Polen 1980, erreichte aber erst nach 1990 größere Ausmaße. Von Beginn an war die polnische Einwanderung stark mit informellen Tätigkeiten und Bereichen verbunden, und zwar aus verschiedenen Gründen. Erstens gab es während der Zeit der antikommunistischen Opposition durch die Solidarnocz-Gewerkschaft starke deutsche politische Sympathien

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für polnische Flüchtlinge, auch wenn die Fluchtgründe im Kern nicht politischer Art waren. Zweitens ist die polnische Zuwanderung seit 1991 eng mit Programmen saisonaler Art und mit Werkvertragsarbeit verbunden. Drittens wirkt die Tatsache der offenen Grenze (Visumsfreiheit seit 1991) bei starken Einkommensdisparitäten in gleicher Richtung, gepaart mit Freisetzungen und gravierenden Absenkungen des Lebensstandards vieler Berufe während der Zeit der Umstellung des Wirtschaftssystems. Trotz ihrer kurzen Dauer scheint die polnische Einwanderung rasch in intensive Integrationsprozesse überzugehen, einschließlich relativ hoher Einbürgerungswerte.5 [0 Vgl. Hedwig Rudolph (Hrsg.), Bridging States and Markets: International Migration in the Early 1990s, Berlin 1993.]

Im Gegensatz zu den Einwanderergruppen, die im Zuge der Anwerbung organisiert nach Deutschland gekommen sind, erfolgte die neue polnische Einwanderung individuell, sie stützt sich zugleich auf ein hohes Bildungsniveau.5 [1 Vgl. etwa die Daten in: Landeshauptstadt München 1997, a.a.O., S. 101-104.] In der ersten Phase war sie durch antikommunistische Sympathie für die Solidarnocz-Bewegung gestützt, die individuelle Integration erleichterte. Auch der starke Anteil informeller Arbeit bestärkte diese Muster. In der neueren Literatur wird für die neue polnische Einwanderung die Ausbildung effektiver Netzwerke belegt, die lösungsorientiert mit deutschen und polnischen offiziellen Stellen und auch der katholischen Kirche zusammenarbeiten.5 [2 Vgl. Hedwig Rudolph, 1993, a.a.O.] Die Nähe zum Heimatland und der informelle Beginn dieser Migration machen diese Netzwerke einerseits grenzüberschreitend, sie erschweren andererseits eine stabile organisatorische Zusammenfassung in Deutschland. Der grenzüberschreitend-offene Charakter dieser Migration wird auch durch eine sich verbreitende deutsch-polnische Doppelstaatlichkeit gestützt, die sich aus den mehr als 152.000 Feststellungen der deutschen Staatsangehörigkeit für Angehörige der deutschen Minderheit, insbesondere in Oberschlesien, und auf Hin- und Herwandern von Aussiedlern mit zwei Pässen ableitet.5 [3 Vgl. Dietrich Thränhardt, Einwanderung, Sozialarbeit und Interessenvertretung in einem pluralistischen Deutschland, Münster 1997, S. 3.]

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Kurzfassung

Entgegen den landläufigen Annahmen und Stereotypen schreitet die Integration der EU-Nationalitäten in Deutschland nicht generell schneller voran als die der Nicht-EU-Angehörigen. Vielmehr zeigen sich sowohl zwischen den einzelnen EU-Nationalitäten als auch zwischen den deutschen Bundesländern spürbare Unterschiede. Ein Teil dieser Diskrepanzen kann auf die Politik der deutschen Bundesländer und die Verteilung der Einwanderungsgruppen zwischen ihnen zurückgeführt werden, die verbleibenden Unterschiede lassen sich durch unterschiedliche Qualitäten der Selbstorganisationen erklären. Sie zeigen Formierungsmuster, Elitenkonfigurationen und Organisationsziele, die mit den unterschiedlichen Integrationserfolgen in einem systematischen Zusammenhang stehen und soziales Kapital bilden.


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