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TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 129 ]


Hans J. Barth
Wem nutzen Sozialstandards im internationalen Handel?


  1. Im Jahr 1996 wurden weltweit Waren im Wert von 5.250 Mrd. $ exportiert. Zehn Jahre zuvor, 1986, hatte sich der Welthandel erst auf 2.035 Mrd. $ belaufen. Die Expansion wird zwar durch die zwischenzeitlichen Preissteigerungen und den Verfall des Dollarkurses überzeichnet; auch wenn man beides in Abzug bringt, bleibt jedoch immer noch ein realer Anstieg von 6,3% im jährlichen Mittel. Die Industrieländer konnten dabei einen durchschnittlichen Zuwachs von 5,9% verbuchen, während es die Entwicklungsländer auf eine durchschnittliche Steigerung von 8,6% brachten, wobei sie vor allem ihren Anteil bei der Ausfuhr von Industrieerzeugnissen überproportional ausweiten konnten. Die Produktion ist weltweit im selben Zeitraum um 3,2% gestiegen. Einer Zuwachsrate von 2,4% in den Industrieländern stand dabei eine solche von 5,6% in den Entwicklungsländern gegenüber. In beiden Ländergruppen sind die Exporte also deutlich stärker als die Produktion gestiegen. Das heißt, der internationale Handel hat sich sowohl für die Industrieländer als auch für die Entwicklungsländer als eine wichtige Triebfeder des wirtschaftlichen Wachstums erwiesen.

  2. Für Ökonomen ist das keine überraschende Erkenntnis. Seit den Zeiten David Ricardos ist bekannt, daß der internationale Handel kein Nullsummenspiel ist, sondern allen Beteiligten Wachstums- und Einkommensgewinne bringt, wenn sie nach dem Theorem der komparativen Kostenvorteile handeln. Die Vorteile des Handels liegen darin, daß sich jedes Land auf die Produktion derjenigen Güter spezialisieren kann, für deren Herstellung es im Vergleich zu anderen Gütern die besseren Voraussetzungen hat. Wohlstandsgewinne erzielt es dann, wenn es mehr von diesen Gütern produziert, als es selbst verbraucht, die Mehrproduktion in andere Länder exportiert und im Austausch dafür das an Gütern importiert, was es selbst für seinen Bedarf nur mit größerem Aufwand herstellen könnte.

  3. Die komparativen Kostenvorteile werden - in der Sprache der Wirtschaftstheorie ausgedrückt - durch die jeweilige Ausstattung mit Produktionsfaktoren

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    bestimmt. Angesichts ihrer vergleichsweise günstigen Kapitalausstattung liegen die komparativen Vorteile der Industrieländer bei der Herstellung von Gütern, die eine relativ hohe Kapitalintensität erfordern, sei dies in Form von Produktionsanlagen, von infrastrukturellen Gegebenheiten oder sei es in Form von Bildungs- und Forschungseinrichtungen. Die komparativen Vorteile der Entwicklungsländer liegen hingegen stärker bei der Herstellung von Gütern, die sich durch eine vergleichsweise hohe Arbeitsintensität auszeichnen.

  4. Wegen der höheren Kapitalintensität ist die Arbeitsproduktivität in den Industrieländern höher als in den Entwicklungsländern. Dementsprechend können auch Löhne und Sozialleistungen in den Industrieländern höher als in den Entwicklungsländern sein. Wettbewerbsnachteile oder -vorteile entstehen daraus im internationalen Handel nur dann, wenn die Unterschiede in den Lohn- und Sozialleistungsniveaus über die Unterschiede in den Produktivitätsniveaus hinausgehen bzw. dahinter zurückbleiben. Dasselbe gilt, nebenbei bemerkt, für den Handel mit den osteuropäischen Reformländern.

  5. Was würde vor diesem Hintergrund eine Angleichung der Sozialstandards auf internationaler Ebene bedeuten? Die Antwort ist zunächst einmal davon abhängig, welches Niveau der Sozialstandards man dabei im Blick hat.
    • Für den Fall, daß eine Angleichung an das Absicherungsniveau in den Industrieländern gemeint ist, würde dies bei den gegebenen Produktivitätsunterschieden eine Überforderung der Entwicklungsländer bedeuten, die deren Wettbewerbsfähigkeit entsprechend beeinträchtigen würde.
    • Für den Fall, daß eine Senkung des Absicherungsniveaus in den Industrieländern in Richtung auf das Niveau in den Entwicklungsländern gemeint ist, würden sich die Industrieländer einen Wettbewerbsvorteil verschaffen, indem sie sozusagen unter ihren Verhältnissen leben.

    In beiden Fällen würden die Industrieländer Unterbeschäftigung in die Entwicklungsländer exportieren und sich obendrein selbst schaden, weil sie auf die Wohlstandsgewinne verzichten müßten, die in einer weitergehenden Arbeitsteilung mit den Entwicklungsländern lägen. Keiner der

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    beiden Ländergruppen würde also eine verordnete Angleichung der Sozialstandards letztlich nutzen. Wer aus humanitären Gründen für bessere soziale Verhältnisse in den Entwicklungsländern ist, muß diesen, wenn er sie nicht zum Almosenempfänger der wohlhabenden Industrieländer machen will, die Möglichkeit geben, über vermehrte Exporte die Mittel zu verdienen, die sie für eine Verbesserung ihres Einkommensniveaus brauchen; dann können sie aus eigener Kraft ihre Sozialstandards erhöhen, und sie werden es auch tun, wie die Erfahrungen zeigen.

  6. Nun kann man sicherlich die Augen nicht davor verschließen, daß in den Industrieländern bei freiem Handel Wirtschaftsbereiche unter Druck geraten, die für ihre Produkte im internationalen Wettbewerb keine Preise mehr erzielen können, die auf der Höhe ihrer Kosten sind. Insofern ist es natürlich nicht falsch, die daraus resultierenden Beschäftigungsprobleme mit dem verstärkten Wettbewerbsdruck zu erklären. Gesamtwirtschaftlich gesehen ist das für die Erklärung der hohen Arbeitslosigkeit in Deutschland wie in den meisten anderen Industrieländern jedoch nur die halbe Wahrheit. Denn mit dem Abbau von Grenzen und der Globalisierung der Märkte nimmt ja nicht nur der Wettbewerb zu, sondern es eröffnen sich auch größere Absatzpotentiale für Produkte, bei deren Herstellung die Industrieländer komparative Vorteile haben, d.h. nicht zuletzt für Ausrüstungsgüter, die für den Ausbau der Produktionsanlagen in den Entwicklungsländern gebraucht werden, aber auch für höherwertige Konsumgüter und Dienstleistungen. Die ganze Wahrheit ist also die, daß wir es vor allem in den westeuropäischen Ländern bislang nicht geschafft haben, durch die Umstrukturierung unserer Produktpalette so viele neue Arbeitsplätze zu schaffen, wie durch den verstärkten Wettbewerb weggefallen sind.

  7. Über die Gründe dafür kann man streiten. Daß die westeuropäischen Länder einem stärkeren Anpassungsdruck ausgesetzt waren als Länder wie die USA oder Japan, weil zu der wachsenden Konkurrenz aus den Schwellenländern hier unvermittelt die Konkurrenz aus den osteuropäischen Ländern hinzukam, ist sicher nicht von der Hand zu weisen, und daß Deutschland mit den wirtschaftlichen Folgen der Vereinigung dazu noch besondere Probleme zu lösen hatte, steht außer Frage. Nicht übersehen sollte man auch, daß die Umstellung auf die veränderten Wettbewerbsverhältnisse Zeit braucht. Ob eine lockerere Geld- und Finanzpolitik

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    oder eine differenziertere Lohnpolitik die Umstellung beschleunigt oder den Umstellungsbedarf eher verschleiert hätte, wird wahrscheinlich kontrovers bleiben, zumal dies auch davon abhängt, welches dann die Reaktion der internationalen Kapitalmärkte gewesen wäre. Unstreitig sollte hingegen sein, daß es für alle am internationalen Handel Beteiligten besser ist, wenn die Länder mit dem höheren Einkommensniveau auf offensive statt auf defensive Strategien setzen, d.h. den Strukturwandel durch verstärkte Innovationsaktivitäten voranbringen und ihren Vorteil im Produktwettbewerb statt im Kostenwettbewerb mit den Entwicklungsländern suchen.

  8. In Innovationen zu investieren, ist in der Regel mit höheren Risiken verbunden als das Investieren in herkömmliche Verfahren und Produkte. Mit einer verstärkten staatlichen Förderung von Forschung und Entwicklung ist es daher nicht getan. Insbesondere für mittelständische Unternehmen, die keinen direkten Zugang zum Kapitalmarkt haben, stehen Finanzierungsengpässe in vielen Fällen vermehrten Innovationsaktivitäten entgegen. Sie sind auf eine breitere Eigenkapitalbasis angewiesen, zumal daran letztlich auch ihre Kreditwürdigkeit hängt. Manches an speziellen Zinssenkungsprogrammen könnte sich der Staat in diesen Fällen sparen, wenn er den Unternehmen im Wege der Steuersenkung mehr von ihrem verdienten Geld beließe. Vielfach lassen sich die Innovationsbedingungen auch verbessern, ohne daß das den Staat Geld kostet. Einmal mehr ist damit das Thema Deregulierung angesprochen. Oft sind nicht die einzelnen Regelungen das Problem, sondern deren Kumulation und die mangelnde Koordination zwischen der Vielzahl zuständiger Stellen, was dazu führt, daß sich Genehmigungsverfahren in die Länge ziehen und Marktchancen ungenutzt bleiben,

  9. Zu einer offensiven Strategie gehört auch, der Tatsache Rechnung zu tragen, daß im Zuge des Strukturwandels viele Arbeitnehmer nicht nur ihren Arbeitsplatz, sondern auch ihre berufliche Tätigkeit wechseln müssen, und daß sich aufgrund des technischen Fortschritts außerdem Art und Inhalt der jeweiligen Tätigkeiten ändern. Fachspezifisches Wissen und Können veraltet damit schneller als früher. Das macht auch im Bildungssystem Anpassungen nötig. Dazu zählen Reformen der Ausbildungsordnungen und der tradierten Berufsbilder ebenso wie die Modernisierung der Studiengänge im akademischen Bereich. Eine wachsende

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    Bedeutung kommt darüber hinaus der beruflichen Umschulung und Weiterbildung zu. Das gilt um so mehr, als dem Trend zu beschäftigungspolitisch motivierten Frühpensionierungen mit ihren negativen Auswirkungen auf die Lohnnebenkosten um so eher entgegengewirkt werden kann, je mehr auch ältere Arbeitnehmer bei den sich wandelnden Qualifikationsanforderungen mithalten können.

  10. Nicht wenige Innovationshemmnisse liegen schließlich in den Unternehmen selbst - angefangen von Organisationsstrukturen, die eine offene Kommunikation über Hierarchiestufen und Abteilungsgrenzen hinaus behindern, bis hin zu der immer noch verbreiteten Neigung, lieber das Rad noch einmal zu erfinden, als sich Know-how von außen zu beschaffen und so Kosten und Zeit zu sparen. Nicht immer liegt es an den viel zitierten Rahmenbedingungen, wenn die Konkurrenz einen Schritt voraus ist.

© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2000

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