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[Seite der Druckausg.: 121 ]


Karl Hermann Haack
Wer definiert Märkte - Politik oder Wirtschaft?


Auf einer Konferenz, die dem Thema „Globalisierung und nationale Sozialpolitik" gewidmet ist, richtet sich die Frage: „Wer definiert Märkte - Politik oder Wirtschaft?" zunächst nach den Handlungsspielräumen für Politik im Angesicht globalisierter Märkte.

Dahinter steht aber die ganz grundsätzliche Frage: In welcher Gesellschaft wollen wir leben, welche Aufgaben wollen wir unseren gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen übertragen?

In kleineren Schritten gefragt, hieße dies: Welche ordnungspolitischen Vorstellungen greifen noch? Welche Handlungsebenen müssen genutzt werden? Wie ist das Verhältnis zwischen Reaktion und Aktion in der Sozialpolitik?

Zu diesen Fragen möchte ich im folgenden einige Anmerkungen machen.

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1. Welche ordnungspolitischen Vorstellungen greifen noch?

Der englische Soziologe Thomas H. Marshall hat herausgearbeitet, wie in einem dreistufigen Prozeß die westlichen Gesellschaften die bürgerlichen und politischen Rechte durch die sozialen Rechte komplettieren und erst damit eine Teilhabe aller an der Gesellschaft im Grundsatz ermöglicht wird.

Diese Entwicklung ist ebenso der Aufklärung als Idee wie der Staatswerdung auf nationaler Ebene als einem Prozeß der Errichtung sozialstaatlicher Institutionen und Strukturen zu verdanken.

Kapitalismus und Sozialpolitik bedingen sich gegenseitig

In allen westlichen Demokratien hat sich auf dieser Grundlage nach dem Zweiten Weltkrieg ein symbiotisches Verhältnis von demokratischem Staat und Marktwirtschaft herausgebildet, das den Aufschwung dieses Gesellschaftsmodells möglich gemacht hat: Der Staat schützt durch seinen Ordnungsrahmen die kapitalistische Marktwirtschaft vor der eigenen Selbstzerstörung

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Störung. Er zwingt die Marktwirtschaft, sozialnützig zu werden und verschafft ihr dadurch eine demokratische Legitimation, die sie in einem sich selbst überlassenen Kapitalismus wohl kaum haben könnte.

Umgekehrt verfolgt der Staat eigene gesellschaftspolitische Ziele - z.B. allgemeiner Wohlstand, Finanzierung der Staatsaufgaben und Ausbau der Sozialsysteme - und bedient sich dabei der Marktwirtschaft als Instrument. Durch diese marktwirtschaftliche Politik verschafft sich der Staat, wenn es ihm gelingt, Wohlstand und soziale Sicherheit zu fördern, selbst die notwendige demokratische Legitimation bei seinen Bürgerinnen und Bürgern, die er sonst nicht erringen könnte.

Schon 1929 hat der Sozialdemokrat und Sozialwissenschaftler Eduard Heimann in seinem wichtigen Buch über die „Soziale Theorie des Kapitalismus" exemplarisch diese Paradoxie der kapitalistischen Entwicklung aufgezeigt:

Das Überleben des Kapitalismus wird allein sichergestellt durch Maßnahmen, die ihn sozial beschränken und regulieren. Sozialpolitik ist gleichsam in einem dialektischen Gegen- und Miteinander die Zwillingsschwester des Kapitalismus.

In Deutschland ist dieser Weg, diese Suche nach Konsens in der Sozialpolitik, auch methodisch in besonderer Weise verankert worden.

Keine „Deutschland GmbH"

Die eben beschriebene wechselseitige und - ich möchte betonen - für beide Seiten vorteilhafte Kooperation setzt jedoch voraus, daß der Staat der Marktwirtschaft einen klaren Ordnungsrahmen vorgibt. Wenn sich aber das Verhältnis umkehrt, wenn sich nicht mehr die Marktwirtschaft in den politischen Ordnungsrahmen, sondern der politische Ordnungsrahmen in die - jetzt globale - Marktwirtschaft einzufügen hat, dann können beide auf lange Sicht nur verlieren: Die Marktwirtschaft verliert ihre Legitimationsgrundlage und der demokratische Staat setzt sich der Gefahr schwerer Krisen aus.

Wohl kaum jemand möchte, wie es Günter Grass jüngst so prägnant formuliert hat, in einer „Deutschland GmbH" leben. Die Aufgabe des Staates, die sozialen Rechte gegenüber der Marktwirtschaft zu sichern, besteht unvermindert fort.

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Sozialstaat darf nicht Leerformel werden

Auf der anderen Seite muß man die Frage stellen: Kann sich die Sozialpolitik den wirtschaftlichen Fragen verschließen?

Nun kommt der Prozeß ins Spiel, der als „Globalisierung" bezeichnet wird. Globalisierung als Begriff, ja als Schlagwort wird in immer wieder verschiedenen Definitionen und Bedeutungszusammenhängen gebraucht. Globalisierung als wirtschaftlicher, kultureller und auch politischer Prozeß ist nicht das Problem, sondern das Problem ist die Art und Weise, wie mit der Herausforderung Globalisierung umgegangen wird und wie dieser Begriff gegen die Sozialpolitik politisch instrumentalisiert wird.

Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen verschieben sich und - was in unserem Zusammenhang noch wichtiger ist - auch die Forderungen, die aus der Wirtschaft an den Staat, an die Gesellschaft gerichtet werden, haben sich verschoben.

Dies bedeutet dann freilich auch, daß sich die politischen Begründungen für allgemeine Wohlfahrt, für Sozialstaatlichkeit, die sich national entwickelt haben - wie ich eben kurz skizziert habe -, auf die neuen Herausforderungen und Bedingungen globaler Wirtschaftsbeziehungen einstellen müssen.

In der politischen Praxis heißt dies: Die Handlungsebenen der staatlichen Sozialpolitik müssen neu bestimmt werden, die Ziele von Sozialpolitik müssen überprüft und gegebenenfalls auch modifiziert werden. Geschieht dies nicht, und vor allem: geschieht dies nicht unter Führung der sozialdemokratischen Parteien in Europa, dann verkommt die Gestaltungsaufgabe Sozialstaat zur reinen Leerformel.

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2. Welche Handlungsebenen müssen genutzt werden?

Ulrich Beck hat aus seinen Überlegungen über die Globalisierungsproblematik für das Verhältnis von Staat und Wirtschaft gefolgert: „Die global agierende Wirtschaft untergräbt die Grundlagen der Nationalökonomie und der Nationalstaaten."

Auch wenn diesem Satz in dieser Form nicht unbedingt zuzustimmen ist, so ist doch zu beobachten, daß die Handlungsspielräume der nationalen Politik durch zwei Faktoren eingeschränkt werden und nach einer neuen Definition von Zielen und Mitteln verlangen:

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  • Die globalisierte Wirtschaft entzieht sich den nationalen ordnungspolitischen Rahmensetzungen.

  • In Europa finden wir ein System von zwei Handlungsebenen (nämlich:
    Nationalstaat und EU) vor, das einige Wissenschaftler zu der These geführt hat, wir befänden uns bereits auf dem Weg zu einem halb-souveränen Wohlfahrtsstaat.

Bis in die späten achtziger Jahre konnte die nationale Sozialpolitik in Deutschland effektive Problemlösungen im Konsens finden und anbieten - trotz aller schon damals virulenter Sozialstaatskritik und trotz der Versuche, in Großbritannien und den USA Gegenmodelle zu verwirklichen.

Verstärkter Druck auf die Sozialpolitik

Seit Beginn der neunziger Jahre hat sich jedoch der Druck auf die Sozialpolitik verstärkt, und zwar in mehrfacher Weise:

Einerseits wächst die Vermutung, daß die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse auch veränderte sozialpolitische Antworten fordern: demographische Verschiebungen, Veränderungen von Familienstrukturen, Erosion des Normalarbeitsverhältnisses usw. Diese Probleme treten in allen Industriestaaten in ähnlicher Weise auf, sie verlangen aber doch zunächst nach Lösungsvorschlägen, die auf die jeweiligen nationalen Systeme und Handlungsbedingungen reagieren.

Zum zweiten tritt in den Vordergrund, daß die ökonomischen Rahmenbedingungen sich national und global verändern. Dadurch gerät die Sozialpolitik als Zwillingsschwester der Ökonomie nicht nur in einen schwierigeren finanziellen Begründungszwang, sondern in zunehmendem Maße auch in einen politischen Rechtfertigungsdruck.

Ich möchte in diesem Zusammenhang aber betonen, daß es nicht die Globalisierung ist, die nationale Sozialpolitik gleichsam als deus ex machina unter Druck setzt, sondern daß eine bestimmte Politik mit ganz gezielten ordnungspolitischen Vorstellungen und Maßnahmen dazu geführt hat, daß die Sozialpolitik nicht mehr als das komplementäre System der Marktwirtschaft angesehen, sondern als Achillesferse der ökonomischen Entwicklung dargestellt wird. Verfechter von Deregulierung und Neo-Liberalismus suchen sich die Furcht der Menschen vor der Globalisierung zunutze zu machen

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und ihre alten Forderungen nach Sozialabbau auf diese Weise neu zu begründen.

Standortfrage auf der übernationalen Ebene lösen

Ich bin also bei dieser unsäglichen Standortdebatte angelangt. Diese Debatte wird oft - auch unter dem Schlagwort Globalisierung - in falschen Zusammenhängen gesehen.

In das Blickfeld gerückt werden muß vor allem der europäische Raum. Europa stellt sich ökonomisch als der Wirtschaftsraum dar, der sowohl im Verhältnis zur Weltwirtschaft als auch in den Außenhandelsbeziehungen der einzelnen europäischen Staaten die weitaus größte Bedeutung besitzt.

Der Handel Westeuropas war nach Berechnungen der Welthandelsorganisation (WTO) im Jahre 1994 zu 68,1% Binnenhandel (an zweiter Stelle steht der Handel mit den asiatischen Staaten in einer Größenordnung von 9,5%).

Dieser westeuropäische Handel war im Rahmen des Welthandelsvolumens mit 43,9% der größte regionale Handelsstrom (auf dem zweiten Platz folgt der asiatische Handel mit 27%).

Bei den bilateralen Handelsströmen liegt der deutsche Handel mit den europäischen Nachbarn Frankreich, Niederlande, Italien, Benelux-Staaten und Großbritannien in einer weltweiten Reihung auf den Plätzen vier bis acht (die ersten drei Plätze werden von den USA im Handel mit Kanada, Japan und Mexiko eingenommen).

Folgt man der Argumentation, daß die sozialpolitischen Handlungsspielräume wesentlich von den ökonomischen Bedingungen abhängen, so ist in Anbetracht dieser Zahlen deutlich, daß der europäische Zusammenhang in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt werden muß.

Es ist die Standortkonkurrenz im Binnenmarkt, die auf die sozialpolitische Handlungsfähigkeit der Nationalstaaten in besonderem Maße durchschlägt. Zwar werden die Nationalstaaten in der absehbaren Zukunft die wichtigste Handlungsebene in der Sozialpolitik bleiben, doch können auf der anderen Seite Herausforderungen und Problemstellungen für die Sozialpolitik in den europäischen Staaten durchaus in ähnlicher Weise wahrgenommen und Lösungsstrategien verglichen werden.

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So wie die Globalisierung - es steckt ja im Begriff - weltweit wirkt, so muß sich aber auch das Nachdenken über die Ziele und die Wirkungen von Sozialpolitik, Sozialrecht und Sozialstandards auf die übernationale Ebene beziehen. Auch die Staaten der zweiten und dritten Welt sind in der einen oder anderen Weise Prozessen des ökonomischen und gesellschaftlichen Wandels ausgesetzt, die sie politisch und institutioneil bewältigen müssen.

Regionale Zusammenschlüsse wie die Europäische Union (EU), der Europarat, das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) und der Verband Südostasiatischer Staaten (ASEAN) und internationale Institutionen wie die Welthandelsorganisation (WTO) und die Internationale Arbeitsorganisation (ILO/IAO) sind nicht allein Foren für die Regelung wirtschaftlicher Beziehungen, sondern auch für den Austausch und für Vereinbarungen über soziale Standards.

Das institutionelle Handlungsfeld zur nationalen wie internationalen Bewältigung des Problemzusammenhangs von Globalisierung und Sozialpolitik, für die Beantwortung der Frage nach dem gesellschaftlichen Wollen und dem staatlichen Können ist vorhanden.

Die Frage ist: Mit welchen Zielen und Vorstellungen nutzen wir diese Rahmenbedingungen?

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3. Reaktion und Aktion in der Sozialpolitik

Das Nebeneinander und Miteinander von Handlungsebenen heißt auch, wir müssen als Sozialdemokraten ein vernetztes Programm im Auge haben. Es wird nicht ausreichen, auf nationaler Ebene auf globale Tendenzen zu antworten, ebenso wie auf internationaler Ebene Sozialstandards lediglich eine defensive Funktion besitzen, wenn sie nicht die jeweiligen wirtschaftlichen Ressourcen, die politischen Traditionen und die gesellschaftlichen Vorstellungen über soziale Gerechtigkeit berücksichtigen.

Wir können und dürfen auf der nationalen Handlungsebene nicht warten, bis ein europäisches und später auch internationales Kooperationssystem an dessen Stelle getreten ist. Die Sozialpolitik hat auch auf der Ebene der Nationalstaaten trotz enger werdender Spielräume noch immer viele Möglichkeiten, sowohl ihre klassischen Aufgaben zu erfüllen als auch sich gegenüber dem Standortwettbewerb zwischen den Staaten unabhängiger zu machen.

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Als Beispiele kann die SPD für Deutschland ihre Vorschläge anführen, die sie in folgenden Bereichen gemacht hat:

  • Umbau der Arbeitsmarktpolitik durch Aktivierung und Qualifizierung,

  • Entwicklung des Dienstleistungssektors durch gezielte Förderung,

  • Arbeitsumverteilung durch Arbeitszeitverkürzung und -flexibilisierung,

  • Sicherung der Finanzierungsbasis der Sozialversicherung durch stärkere Steuerfinanzierung und Berücksichtigung des Verursacherprinzips.

Durch die beiden europäischen Kooperationsmodelle EU und Europarat sind Instrumentarien geschaffen worden, die eine sozialpolitisch akzeptable Bewältigungsstrategie auch der Globalisierungsherausforderung erleichtern und die eine breite und ausbaufähige Grundlage für eine grundlegende ideelle Verständigung der europäischen Staaten über sozialpolitische Zielsetzungen darstellen.

Wir verfügen über einen Zielkorridor für die Schaffung demokratischer und sozialer Grundrechte, wenngleich die europäische sozialpolitische Praxis noch ein diffuses Bild mit erheblichen Defiziten vermittelt.

Daß die durch unterschiedliche wirtschaftliche und soziale Niveaus der Mitgliedstaaten geprägte europäische Wirklichkeit in konkreten Fällen nur schwer zu glätten und die divergierenden Interessen auch auf der Ebene der europäischen Gewerkschaften nur schwer zu koordinieren oder gar zur Deckung zu bringen sind, hat die langwierige Diskussion über die Schaffung einer europäischen Entsenderichtlinie gezeigt. Auf der anderen Seite ist etwa durch die Einrichtung der Europäischen Betriebsräte bei allen Defiziten, die bei einzelnen Regelungen zu beklagen sein mögen, ein Prozeß in Gang gesetzt worden, der Mitbestimmungsdenken und kooperative Modelle grenzüberschreitend bekannt und durchführbar machen kann.

In einem anderen, weiter gesteckten Rahmen als die EU wirkt die älteste europäische Institution, der Europarat. Im Instrument der Sozialcharta verfügt der Europarat über ein Regelwerk, das angesichts der vierzig Mitglieder dieser überstaatlichen Organisation weit über den Bereich der westeuropäischen Industriestaaten und der EU-Mitgliedschaft hinausreicht und Wirkung entfalten kann.

Die europäische Linke wird sich entscheiden müssen, aus dem etwas Positives zu machen, was sie vorfindet, die Position also des Zuschauens zu verlassen,

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um - aktiv eingreifend - den europäischen Sozialstaat zu gestalten. Das setzt allerdings ein Mindestmaß an Kooperation sowohl der sozialistischen/sozialdemokratischen Parteien als auch der Gewerkschaften voraus.

Eine pragmatische Vorgehensweise, die den jeweiligen strategischen Schritt im Auge hat, wird für die Betroffenen mehr erreichen als eine Abstraktion der Verhältnisse als „großkapitalistische Globalisierungsstrategie", die allein die Zerstörung der Sozialstaatlichkeit zum Ziel hat.

Mit sozialpolitischer Aktion, die sich die ökonomische Neuordnung und die Schaffung neuer Handlungsfelder zunutze macht, kann auch ein erneuerter Diskurs über soziale Gerechtigkeit, über die Standards unserer industrialisierten Welt geführt werden.

Wie seit einhundert Jahren die Eingrenzung der nationalen Kapitalismen kann auch die ordnungs- und sozialpolitische Definition des internationalen Kapitalismus nur durch die Setzung von politischen Gestaltungszielen unter den ökonomischen Bedingungen der Marktwirtschaft erfolgen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2000

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