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Heiner Flassbeck
Vorbild Deutschland oder Vorbilder für Deutschland?

Die Niederlande und andere in der Beschäftigungspolitik erfolgreiche Länder


Die großen deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute haben in ihrem Herbstgutachten fünf Industrieländer einer eingehenden Analyse unterzogen, in denen die Arbeitslosenquote in den neunziger Jahren spürbar gesunken ist:

die Vereinigten Staaten, Neuseeland, Großbritannien, die Niederlande und Dänemark. Die Entwicklung der Arbeitslosenquote in diesen Ländern hebt sich in den letzten Jahren deutlich von der in großen Teilen Kontinentaleuropas - einschließlich der Bundesrepublik Deutschland - ab. Bei der Frage, ob diese Länder Vorbild für Deutschland sein können oder ob Deutschland in der Vergangenheit für diese Länder Vorbild war, gab es zwischen den Instituten keine Einigung. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat sich dabei klar von der Mehrheitsmeinung abgesetzt. Seine Position soll hier unter besonderer Berücksichtigung der Niederlande dargestellt werden. [Fn.1: Dieser Beitrag basiert folglich weitgehend auf dem Minderheitsvotum des DIW in der Gemeinschaftsdiagnose der Forschungsinstitute vom Herbst 1997, vgl. Wochenbericht des DIW Nr. 44/1997.]

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Was ist Erfolg am Arbeitsmarkt?

Die untersuchten Länder lassen sich nach dem Befund bei der Arbeitslosenquote grob in drei Fälle einteilen (vgl. Schaubild 1).

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Schaubild 1: Standardisierte Arbeitslosenquoten

In den USA und in den Niederlanden ist es nach einem starken Anstieg der Arbeitslosigkeit zu Beginn der achtziger Jahre fast durchweg zu einem Rückgang der Quote gekommen, der nur kurz von der Rezession Anfang der neunziger Jahre unterbrochen wurde. Der höchste Stand der Arbeitslosigkeit

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in den neunziger Jahren lag deutlich unter dem Höchstwert in den achtziger Jahren. Eine mittlere Position nimmt Großbritannien ein, wo die Arbeitslosenquote nach einem deutlichen Rückgang in den achtziger Jahren zu Beginn dieses Jahrzehnts erneut sehr kräftig stieg und 1993 fast den europäischen Durchschnitt erreichte. Erst seitdem sinkt die Quote rasch; sie liegt aber immer noch nicht unter dem niedrigsten Wert Ende der achtziger Jahre. Beim dritten Fall, Neuseeland und Dänemark, ist der Befund ein ganz anderer. In diesen beiden Ländern ist die Arbeitslosenquote von Mitte der achtziger Jahre an bis 1992 bzw. 1993 entgegen der Tendenz in den anderen drei betrachteten Ländern deutlich gestiegen, und der höchste Punkt in den neunziger Jahren lag oberhalb des Höchststandes während der Rezession zu Beginn der achtziger Jahre. In Neuseeland war er sogar doppelt so hoch. Seit 1993 kam es aber auch in diesen beiden Ländern zu einer merklichen Reduktion der Arbeitslosigkeit.

Im Gegensatz dazu wurden in Westdeutschland [Fn.2: Für Deutschland insgesamt ist aufgrund der Kürze der Zeitreihen kein sinnvoller Vergleich möglich.], Frankreich und Italien in den neunziger Jahren neue Höchststände markiert. In Westdeutschland sank die Arbeitslosenquote allerdings bis 1989 ähnlich wie in den USA, nämlich auf 5,6% (USA: 5,2%), und bis 1991 dank des Vereinigungsbooms sogar erheblich darunter (4,2% gegenüber 6,8% in den USA) sowie unter das Niveau aller hier betrachteten Länder. Seitdem aber haben sich die Arbeitslosenquoten in den USA und in Westdeutschland entgegengesetzt entwickelt, so daß die westdeutsche nun über der amerikanischen liegt. In Frankreich und Italien sowie in einer Reihe kleinerer europäischer Länder war es Mitte der achtziger Jahre zu keinem und Ende der achtziger Jahre nur zu einem sehr geringen Rückgang gekommen. Die durchschnittliche Quote in der Europäischen Union liegt mit derzeit reichlich 11% weit über der der erfolgreichen Länder, insbesondere der der USA.

Der statistisch ausgewiesene Erfolg der fünf genannten Länder bei der Rückführung der Arbeitslosigkeit relativiert sich allerdings, wenn man die Entwicklung der Beschäftigung betrachtet. Im Prinzip ist die Arbeitslosenquote der geeignete Maßstab für Fehlentwicklungen am Arbeitsmarkt, weil sie das Überschußangebot abbildet. Die Zahl der Arbeitslosen ist aber ähnlich wie die Zahl der erwerbstätigen Personen häufig durch institutionelle Veränderungen (z.B. durch Veränderung der Definitionsmerkmale) in ihrer Aussagekraft

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beeinträchtigt. Daher muß das Arbeitsvolumen, also die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden, hilfsweise mit zur Beurteilung der Arbeitsmarktsituation herangezogen werden, obwohl diese Größe sozusagen nur die am Arbeitsmarkt tatsächlich „umgesetzte" Menge, nicht aber das eigentlich interessierende Überschußangebot, widerspiegelt.

Nur in den Vereinigten Staaten ist es beim Arbeitsvolumen über den gesamten Untersuchungszeitraum (1980 bis 1996) hinweg betrachtet zu einem deutlichen Zuwachs gekommen (vgl. Schaubild 2). In den Niederlanden ist ein seit 1984 steigender Trend zu erkennen, während in Großbritannien und in Neuseeland das Arbeitsvolumen - nach einem starken Rückgang - erst seit 1993 gestiegen ist. [Fn.3: Für Dänemark liegen keine vergleichbaren Daten zum Arbeitsvolumen vor.]

Ein ganz anderes Bild ergibt sich in einigen Ländern, wenn man die Zahl der erwerbstätigen Personen betrachtet. Insbesondere in den Niederlanden und in Neuseeland ist die Zahl der Erwerbstätigen weit kräftiger expandiert als die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden. Aber auch Westdeutschland schneidet bei der Zahl der Personen erheblich besser ab als bei der Stundenzahl. Die Divergenz zwischen der Entwicklung des Arbeitsvolumens und der Zahl der Erwerbstätigen ist auf eine Verkürzung der Arbeitszeit zurückzuführen. Die Politik in den Niederlanden hat hier einen unübersehbaren Akzent gesetzt.

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Aufschwung für den Arbeitsmarkt

Allen bei der Reduzierung der Arbeitslosigkeit erfolgreichen Ländern ist es nach Überwindung der Rezession zu Beginn der neunziger Jahre gelungen, eine Phase raschen Wachstums einzuleiten (vgl. Schaubild 3).

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Schaubild 3: Reales Bruttoinlandsprodukt

Die Gründe dafür sind vielfältiger Natur. Sie reichen von Impulsen des Staates via höhere Defizite, so in Großbritannien, Dänemark und in schwächerer Form auch in den Niederlanden, über Impulse von den privaten Haushalten via einer Senkung der Sparquote, so in den Niederlanden, Dänemark und sehr ausgeprägt in Neuseeland, bis hin zu Impulsen von seiten des Auslandes via realer Abwertung, so in Großbritannien 1992 und in Neuseeland zu Anfang der neunziger Jahre.

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Daneben gab es binnenwirtschaftliche Anregungen durch die Geldpolitik. Die kurzfristigen Zinsen sanken von 1989 bis 1993 besonders stark in den USA, wo ein historisch niedriger kurzfristiger Realzins im Jahr 1993 erreicht wurde und die Zinsstruktur einen im historischen und internationalen Vergleich nie erreichten positiven Wert aufwies. Aber auch in Neuseeland wurde die Geldpolitik erstmals seit 1980 expansiv und beendete damit die ein Jahrzehnt währende, zur Bekämpfung der Inflation notwendige Stabilisierungskrise. Ebenso in Großbritannien: Dort normalisierte sich die Zinsstruktur im Laufe des Jahres 1992 rasch, nachdem dieses Land aus dem Europäischen Wechselkurssystem ausgeschieden war. Ähnliches gilt, wenngleich mit einiger Verzögerung, für Dänemark und die Niederlande. Angesichts dauerhaft niedriger Preis- und Lohnstückkostensteigerungen paßte sich das Zinsniveau in den Niederlanden der Entwicklung in Deutschland vollständig an. In Dänemark konnte ausgehend von einem höheren Niveau ein größerer Zinsschritt nach unten realisiert werden, weil erst jetzt eine Annäherung der Preis- und Lohnstückkostenentwicklung an Deutschland, das Land mit der Ankerwährung, gelungen war.

In den weniger erfolgreichen Ländern gab es im Jahr 1994 zwar auch eine Entlastung bei den Zinsen, die Zinsstruktur normalisierte sich und der kurzfristige Realzins sank. Der dann einsetzende Aufschwung blieb aber viel schwächer als in den meisten der erfolgreichen Länder, weil mehrere negative Impulse eine Beschleunigung des Wachstums und eine deutliche Belebung der Investitionen verhinderten.

In Deutschland und Frankreich kam es 1995 infolge von Währungsturbulenzen zu einer kräftigen realen Aufwertung (in Frankreich noch dazu begleitet von einer spürbaren Erhöhung der kurzfristigen Zinsen), die Finanzpolitik blieb restriktiv, und vom privaten Verbrauch gingen fast keine Impulse aus; die Sparquote sank nur wenig. Hinzu kam, daß die Normalisierung der Zinsstruktur in Europa zunächst überwiegend das Ergebnis einer Erhöhung der langfristigen Zinsen war. Dieser internationale Zinsanstieg ergab sich im Gefolge einer Anhebung der kurzfristigen Zinsen durch die amerikanische Notenbank, die bei stark gesunkener Arbeitslosigkeit und einer kräftigen, von den Investitionen getragenen konjunkturellen Expansion in den USA einer inflationären Beschleunigung des Preisniveaus zuvorkommen wollte. Die Zunahme des Zinsniveaus bremste den Aufschwung in den Jahren 1994/95 weltweit und verstärkte den Effekt der realen Aufwertung in

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Deutschland und Frankreich. Italien profitierte zwar von einer Abwertung seiner Währung, wies aber weiterhin extrem hohe Realzinsen auf und war zu einem rigorosen fiskalischen Restriktionskurs gezwungen.

Von den fünf erfolgreichen Ländern werteten in dieser Phase zwei, nämlich die USA und Großbritannien, ab. Neuseeland hatte bereits kurz vorher abgewertet. Dänemark und die Niederlande konnten sich trotz der Aufwertung ihrer Währungen einem Rückschlag beim Wachstumsprozeß und bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit entziehen. Das hat unterschiedliche Gründe. In Dänemark dürften die fiskalische Stimulierung und der enorme Anstieg des privaten Verbrauchs (7% im Jahre 1994) die restringierenden Effekte der Aufwertung überspielt haben. In den Niederlanden spielte beides sicher auch eine Rolle, war aber bei weitem nicht so stark (privater Verbrauch: 4% im Jahre 1994).

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Vorbild Niederlande?

Die Niederlande gehören zu den Ländern, die einen deutlichen Rückgang der Arbeitslosenquote verzeichnen. Seit ihrem Höhepunkt zu Beginn der achtziger Jahre mit über 10% verringerte sie sich auf gegenwärtig unter 6%. Abgesehen von einem leichten Anstieg 1993/94 lief dieser Prozeß recht stetig ab. Dies ist um so bemerkenswerter, als gleichzeitig das Arbeitsangebot in den Niederlanden mit jährlich etwa 1,5% Zuwachs im westeuropäischen Vergleich am stärksten zunahm. Die relativ günstige Arbeitsmarktentwicklung spiegelt sich auch in der Beschäftigung wider. Die Zahl der Erwerbstätigen ist seit Mitte der achtziger Jahre rasch gestiegen; sie erhöhte sich seit 1986 um fast 20%. Die Zahl der abhängig Beschäftigten nahm im gleichen Zeitraum um gut 15% zu; dies bedeutet, daß die Zahl der Selbständigen offenbar kräftiger stieg. Der Rückgang der Zahl der Beschäftigten zu Beginn der achtziger Jahre wurde damit mehr als ausgeglichen. Besonders ausgeprägt war diese positive Entwicklung während der zweiten Hälfte der achtziger Jahre. Eine stärkere Ausweitung der Zahl der Beschäftigten wurde unter den hier betrachteten Ländern nur von den USA erreicht.

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Schaubild 4: Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit in den Niederlanden

Die Zunahme der Beschäftigung hat sich allerdings nicht in einem entsprechenden Anstieg des Arbeitsvolumens, das heißt der Zahl der geleisteten Arbeitsstunden, niedergeschlagen. Das Arbeitsvolumen der Beschäftigten sank leicht (vgl. Schaubild 5). Eine anhaltend positive Entwicklung ist im Zeitraum zwischen 1984 und 1992 festzustellen. In dieser Phase stieg das Arbeitsvolumen der Beschäftigten in den Niederlanden um 9%, in Westdeutschland nur um 6%. Seitdem hat sich das Arbeitsvolumen in den Niederlanden nach einem leichten Rückgang 1993/94 wieder erhöht, während es in Westdeutschland um 8% fiel.

Entscheidend für die Zunahme des Arbeitsvolumens zwischen 1984 und 1992 war die lang anhaltende Wachstumsphase, zu der wie in Deutschland kräftig gestiegene Außenhandelsüberschüsse beitrugen. Von 1980 bis 1984 nahm der reale Außenbeitrag in Relation zum Bruttoinlandsprodukt (von 0 auf knapp 4,5%) zu.

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Schaubild 5: Reales Bruttoinlandsprodukt, Erwerbstätige und Arbeitsvolumen in den Niederlanden

Der holländische Gulden hatte zu Beginn der achtziger Jahre real stark abgewertet und verharrte seither auf einem im Vergleich zu Deutschland niedrigen Niveau. Insgesamt sank der reale effektive Außenwert [Fn.4: Auf der Basis gesamtwirtschaftlicher Lohnstückkosten, gewichtet mit Außenhandelsanteilen.] des den von 1980 bis 1996 um 10%, der der D-Mark jedoch nur um 4% erklärt einerseits den fortwährenden Anstieg des Außenbeitrags der Niederlande seit den frühen achtziger Jahren und andererseits seine überraschende Robustheit während der EWS-Krisen Anfang der neunziger Jahre.

In den Niederlanden gelang es daher, die Wachstumsphase über das der achtziger Jahre hinaus auszudehnen und die Rezession, in die Anfang der neunziger Jahre die meisten europäischen Länder gerieten, zu vermeiden. Eine große Rolle spielte dabei für das anschließend wieder anhaltend kräftige Wachstum auch der robuste private Verbrauch; die ohnehin niedrige Sparquote sank wie schon Anfang der achtziger Jahre auf einer nahe Null und verhinderte einen Einbruch beim größten Nachfrageaggregats. Hinzu kam, daß der Außenbeitrag, der mit 5,5% des Bruttoinlandsprodukts bereits 1992 ein hohes Niveau erreicht hatte, weiter zunahm. 1993 flachte sich der Ausfuhrzuwachs zwar ab, gleichzeitig fielen jedoch die Importe

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um 2%. Mittlerweile erzielt die niederländische Wirtschaft einen Leistungsbilanzüberschuß von fast 5% des Bruttoinlandsprodukts; das ist ein Wert, den weder Japan noch Westdeutschland in der Vergangenheit jemals realisieren konnten. Aufgrund dieser Konstellation konnte der Rückgang des Arbeitsvolumens in den Jahren 1993 und 1994 wieder aufgeholt werden.

Ausschlaggebend für die unterschiedliche Entwicklung der Zahl der Beschäftigten und des Arbeitsvolumens war die Arbeitszeitpolitik seit den frühen achtziger Jahren. Ein vergleichsweise kräftiger Anstieg der Erwerbsbevölkerung und eine Zunahme der Erwerbsquoten, insbesondere bei den Frauen, ließen damals einen weiteren Anstieg der Arbeitslosenquoten erwarten. Nach umfangreichen Diskussionen zwischen Regierung und Tarifpartnern stimmten letztere einem langfristigen Programm moderater Nominallohnerhöhungen zu. Darüber hinaus wurden für die Folgejahre eine Ausweitung der Teilzeitarbeit, Job-Sharing und eine verstärkte Beschäftigung jugendlicher Arbeitsloser tariflich vereinbart. Wichtiger noch, seit 1983 hatten die meisten neu verhandelten Tarifverträge eine Klausel, die als Kompensation für den Verzicht auf Lohnsteigerungen Verkürzungen der allgemeinen Arbeitszeit, beginnend mit 5% im Jahr 1983, vorsah. Außerdem wurden neu zu besetzende oder zusätzliche Stellen vielfach von vornherein als Teilzeitstellen ausgestaltet.

Der Effekt auf den Arbeitsmarkt war zunächst gering, da die konjunkturelle Erholung ab 1983 bei einem hohen Grad an „gehorteten" Arbeitskräften anfangs mit einem starken Produktivitätsanstieg verbunden war. Erst mit dem Andauern des Aufschwungs führten die neuen Regelungen zu einem spürbaren Anstieg der Zahl der Beschäftigten ab Mitte der achtziger Jahre, zumal die Maßnahmen der Arbeitszeitverkürzung und des Job-Sharing noch verstärkt wurden. Ein Charakteristikum dieser Zeit war, daß zunehmend ältere männliche Vollzeitarbeitende in den vorzeitigen Ruhestand gingen bzw. von der großzügigen Handhabung der sogenannten Erwerbsunfähigkeitsrente profitierten. Daher kommt die Arbeitszeitverkürzung in der Reduktion der Zahl der Jahresarbeitsstunden eines Beschäftigten insgesamt nicht voll zum Ausdruck. Von 1980 bis 1996 nahm sie in den Niederlanden um gut 13% ab, in Westdeutschland immerhin um knapp 11%. Ab 1986 zeigten sich erstmals Widerstände gegen eine weitere Forcierung von arbeitszeitverkürzenden Maßnahmen zu Lasten eines Zuwachses bei den Arbeitseinkommen

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pro Kopf. Dennoch wurde die Strategie der Förderung von Teilzeitarbeit und der Arbeitszeitverkürzung bis in die Gegenwart fortgesetzt.

In den Niederlanden wurden in den neunziger Jahren die Voraussetzungen zum Erhalt von Arbeitslosengeld verschärft. In den Jahren 1992/93 hat die Regierung strengere Zugangsvoraussetzungen, niedrigere Leistungen in bestimmten Fällen, mehr Kontrollen und eine Verschärfung der Zumutbarkeitsregelungen für die Aufnahme einer neuen Arbeit eingeführt. So wurde die maximale Bezugsdauer von Arbeitslosengeld von zwei auf eineinhalb Jahre verkürzt. Die Leistungen für Arbeitslose in den Niederlanden sind jedoch weiter hoch, und die Tarifpartner haben die Leistungseinschränkungen durch Tarifvereinbarungen teilweise kompensiert. Nach Berechnungen des Centraal Planbureau betrugen die durchschnittlichen Nettolohnersatzleistungen zuzüglich Extraleistungen für Wohnung und Familien im Jahre 1993 78%. Für Arbeitslose, die zuvor nur den Mindestlohn bezogen haben, betragen die Lohnersatzleistungen bis zu 100%.

Inwieweit sich der Staat aus der sozialen Absicherung zurückgezogen hat, läßt sich nur schwer länderübergreifend vergleichbar messen. Der Generosity-Index der OECD enthält z.B. keine Sozialleistungen auf kommunaler Ebene, was je nach föderaler Struktur der Länder zu sehr unterschiedlichen Niveaus und bei institutionellen Änderungen auch zu verzerrten Entwicklungen dieses Indexes führt. Man kann die Staatsquote als grobes Maß für die Bereitstellung öffentlicher Güter und die soziale Absicherung ansehen. In den Niederlanden ist die Staatsquote seit ihrem Höhepunkt 1993 von 55% auf 50% des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 1996 gesunken. In der Rezession 1982 hatte sie bei 60% gelegen und war bis 1989 auf 54% gefallen. In konjunkturell annähernd vergleichbaren Phasen liegt die Quote derzeit also ungefähr fünf Prozentpunkte unter ihrem früheren Niveau. In Westdeutschland betrug sie 1996 49% des Bruttoinlandsprodukts, vor der deutschen Vereinigung lag sie 1989 bei 45%.

Insgesamt gesehen war die niederländische Wirtschaftspolitik mit einer Mischung verschiedener Maßnahmen bei der Verringerung der Arbeitslosigkeit erfolgreich. Als wirksam bei der Bewältigung der Folgen hoher Arbeitslosigkeit hat sich in den Niederlanden eine Umverteilung von Arbeit durch eine weitgehende Verkürzung der Lebensarbeitszeit in verschiedenen Formen erwiesen. Maßnahmen des Staates zur Rückführung sozialer Leistungen

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wurden erst relativ spät eingesetzt und führten lediglich zu einer Annäherung der vorher sehr hohen sozialen Absicherung an das Niveau, das in den großen europäischen Industrieländern die Regel ist. Von einer fundamentalen Änderung der Politik einer umfassenden staatlichen Vorsorge kann von daher nicht die Rede sein.

Aus makroökonomischer Sicht wirksam war vor allem die ausgeprägte Nominallohnzurückhaltung, die sich in einem relativ niedrigen realen Wechselkurs und letztlich auch in einem außergewöhnlich hohen Leistungsbilanzüberschuß niederschlug. Inwiefern diese Politik auch in anderen Ländern angewendet werden kann, hängt von ihrer Größe und dem Grad der Offenheit ihrer Märkte ab; je größer ein Land ist, desto weniger dürfte eine Politik, die zu anhaltend hohen Leistungsbilanzüberschüssen führt, von den Handelspartnern über längere Zeiträume akzeptiert werden. Dieses Beispiel ist offensichtlich nicht übertragbar auf die Mehrzahl der anderen Länder und insbesondere nicht auf eine Handelsnation von der Größe der Bundesrepublik Deutschland.

Schaubild 6: Realer effektiver Außenwert1' in den Niederlanden und in Deutschland

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Vorbild USA?

Es ist aus heutiger Sicht keineswegs klar, daß der Erfolg in Neuseeland, Großbritannien und Dänemark nachhaltig sein wird. In Großbritannien und in Neuseeland dürften sich die starke reale Aufwertung und eine wieder restriktivere Geldpolitik zusammen mit dem Konsolidierungskurs der Finanzpolitik sehr bald in einer Abschwächung des Wachstums bemerkbar machen.

So bleiben als positives Beispiel für dauerhaften Erfolg nur die USA. Vielfach wird vermutet, dies sei darauf zurückzuführen, daß dort die Reallöhne und die Produktivität weit weniger stark gestiegen sind als in Europa. Die USA hätten also einen Pfad der wirtschaftlichen Entwicklung „gewählt", der stärker auf die Schaffung von Arbeitsplätzen und weniger auf die Realisierung von Einkommenschancen zu Lasten der Arbeitslosen ausgerichtet sei. Diese „Wahl" sei möglich gewesen, weil in den USA die Arbeitsmärkte viel „flexibler" auf die wirtschaftlichen Herausforderungen reagierten als in Kontinentaleuropa. Diese Auffassung läßt sich nach Meinung des DIW allerdings nicht in Übereinstimmung mit den Fakten bringen.

Richtig ist, daß die Reallöhne in den USA seit 1980 sehr viel schwächer gestiegen sind als in Europa. Doch auch der Produktivitätstrend ist in den USA, ausgehend von einem höheren Produktivitätsniveau, seit langem sehr viel schwächer nach oben gerichtet als in Europa. Das galt auch schon für die fünfziger und sechziger Jahre, als in Europa Vollbeschäftigung bei Lohnsteigerungen herrschte, die regelmäßig den realisierten Produktivitätszuwächsen entsprachen. Seit damals hat sich der Produktivitätstrend in Europa deutlich abgeflacht, gleichzeitig ist die Arbeitslosigkeit gestiegen. Die Arbeitnehmer haben darauf nach einer Lernphase in den siebziger Jahren reagiert, indem sie ihre Nominallohnforderungen deutlich zurückgeschraubt haben. In den achtziger Jahren etwa stiegen die nominalen Stundenlöhne in Deutschland weit schwächer als zuvor und sogar weniger stark als in den USA trotz eines im Vergleich zu dort immer noch wesentlich höheren Produktivitätstrends. Von den Nominallöhnen - und nur diese werden von den Tarifpartnern festgelegt - ging in Deutschland in dieser Zeit also ein weit geringerer Druck auf die Produktivität aus als in den USA. Da in den Vereinigten Staaten die Preise jedoch rascher stiegen als in Deutschland, nahmen im Ergebnis die Reallöhne in den USA weniger zu. Dennoch bleiben die Reallöhne in Deutschland weit stärker hinter dem Produktivitätstrend zurück.

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Die Reallohnposition, die Differenz zwischen dem Reallohnzuwachs pro Stunde und dem Produktivitätszuwachs pro Stunde, sank vom Ende der Rezession 1982 bis 1990 in Deutschland um neun Prozentpunkte, in den USA nur um vier Prozentpunkte (Schaubild 7). Von 1984 bis 1990 stieg in Westdeutschland das Arbeitsvolumen, und die Arbeitslosigkeit ging zurück, so daß von einem reallohninduzierten Druck auf das Produktivitätswachstum in dieser Zeit nicht gesprochen werden kann. Die Verschlechterung der Reallohnposition setzte sich in Deutschland nach 1993 in beschleunigtem Tempo fort - und das bei sinkender Beschäftigung. Im vergangenen Jahr lag die Reallohnposition um 12% unter dem Wert von 1982, in den USA nur um 5%.

Schaubild 7: Die Reallohnposition in vier Industrieländern

Ähnliches gilt für Frankreich und Italien. In beiden Ländern blieben die Reallöhne etwa ebenso weit wie in Deutschland hinter dem Produktivitätsanstieg zurück, ohne daß davon positive Effekte auf die Beschäftigung ausgingen.

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In starkem Kontrast dazu steht Großbritannien. Dort stiegen die Nominallöhne erheblich stärker als in Deutschland und in den USA; dennoch nahm die Produktivität nicht rascher zu als in Deutschland. Der Nominallohn trieb das Produktivitätswachstum also nicht an, wie es die These der Substitution von Arbeit durch Kapital nahegelegt hätte. Die Reallohnposition in Großbritannien ging aber seit Beginn der achtziger Jahre im Gegensatz zu Deutschland nicht zurück. Auch der Druck der Reallöhne auf die Produktivität war damit größer als in Deutschland. Gleichzeitig entwickelte sich die Beschäftigung auf einem Pfad zwischen Deutschland und den USA. In den Niederlanden ist die Reallohnposition nicht stärker als in den USA gesunken; in Neuseeland sank sie Anfang der achtziger Jahre sehr stark, danach nur noch wenig.

Das zeigt, daß von einer einfachen „Wahl" zwischen Reallöhnen und Beschäftigung nicht die Rede sein kann und die Entwicklung in Großbritannien auf keinen Fall mit der Entwicklung der dortigen Reallöhne zu erklären ist. Wäre es richtig, daß nur bei einem Zurückbleiben der Reallöhne hinter dem realisierten (oder wie auch immer definierten Vollbeschäftigungs-)Produktivitätstrend dauerhaft mehr Beschäftigung geschaffen werden kann, ist es zwingend, daß bei einem gleichstarken Anstieg der Produktivität die Arbeitsmarktentwicklung in Deutschland in den achtziger Jahren sehr viel besser hätte sein müssen als die britische, da hier die Reallohnposition sank, dort aber unverändert blieb. Weder der deutsche „Mißerfolg" noch der amerikanische Erfolg oder die mittlere britische Position sind mit dieser These zu erklären. Bereinigte man etwa, wie es die Mehrheit der Institute in Anlehnung an eine Studie der Europäischen Kommission anführt, die Produktivität in den europäischen Ländern um ein Drittel und in den USA um ein Zehntel nach unten, dann ergäbe sich für Deutschland von 1980 bis 1996 eine ausgeglichene Reallohnposition, für Frankreich ein leichter Rückgang und in den USA ein etwas stärkerer Rückgang. Von einem übermäßigen Lohndruck in Deutschland könnte selbst dann nicht die Rede sein. Völlig unerklärlich bliebe allerdings der relative Arbeitsmarkterfolg der Niederlande, wo die Reallohnposition nach dieser Bereinigung gestiegen wäre, insbesondere aber die relativ günstige Beschäftigungsentwicklung in Großbritannien. Dort wäre die Reallohnposition nach einer solchen Rechnung um 10% gestiegen. Die Reallöhne wären also trotz der nach Meinung der Mehrheit durchgreifenden Arbeitsmarktreformen in den achtziger Jahren zu hoch.

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Unerklärt blieb bei dieser Auffassung auch, auf welche Weise bei einem Rückgang der Produktivität das Wachstumstempo aufrechterhalten werden kann. Benötigt man dazu die gleichen Impulse, die in den Fällen der erfolgreichen Länder ausschlaggebend waren, also Zinsen, Wechselkurse, staatliche Defizite oder einen autonomen Rückgang der Sparquote, gibt es - wie die fünfziger und sechziger Jahre in Europa belegen - keinen Grund zu vermuten, daß diese Faktoren nicht auch bei einem höheren Produktivitätstrend für den für die Zunahme der Beschäftigung notwendigen Abstand zwischen der Wachstumsrate der Produktion und der der Produktivität sorgen können. Gäbe es das Phänomen einer „zu hohen" Produktivität, wäre überdies, wie das Beispiel der Niederlande zeigt, die Verkürzung der Arbeitszeit einem Verzicht auf einen Produktivitätszuwachs vorzuziehen, weil die Gesellschaft dann über die gleiche Menge an Gütern verfügen könnte, dafür aber weniger arbeiten müßte.

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Stabilisierungskrise in Europa

Bei der Erklärung der unterschiedlichen Beschäftigungsentwicklung in den USA und vielen westeuropäischen Ländern müssen die ungünstigen institutionellen Gegebenheiten berücksichtigt werden, die im Zuge der Ölpreisschocks in weiten Teilen Westeuropas entstanden waren. Nach dem Ende der zweiten Ölpreisexplosion waren in Europa wie in den USA die Inflationsraten auf historische Höchststände geklettert. Die Inflationsmentalität verfestigte sich im Gegensatz zu den USA und Deutschland in vielen europäischen Ländern, so insbesondere in Italien und Frankreich, infolge einer hohen Rigidität der Nominallöhne in bezug auf die Beschäftigung. Dies hatte seinen Grund in einer engen Bindung der Löhne an zurückliegende Inflationsraten (backward-looking-indexation). Die sich daraus ergebende Stagflation war Auslöser eines grundlegenden Kurswechsels der Wirtschaftspolitik in diesen Ländern. Dort war man nun entschlossen, die Inflation als Mittel der Wirtschaftspolitik beiseite zu legen. Das Instrument, dies umzusetzen, war eine enge Bindung an eine stabile Leitwährung, die D-Mark, um Stabilität zu importieren.

Der Preis dafür war - wie in Neuseeland - eine lang währende Stabilisierungskrise. Sie erstreckte sich ausweislich der Zinsdifferenz und der kurzfristigen Realzinsen fast über die gesamten achtziger Jahre. Verschärft wurde die monetäre Restriktion in Europa sogar noch einmal, als Anfang der neunziger

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Jahre Deutschland wegen des Vereinigungsbooms - also aus rein binnenwirtschaftlichen Gründen - die monetären Zügel straffte. Auch Länder, die nur in geringem Maße von dem vereinigungsbedingten Importsog profitierten, folgten dieser Verschärfung des geldpolitischen Kurses, um die erreichten Erfolge bei der Inflationsbekämpfung nicht durch eine Abwertung ihrer Währungen zu gefährden.

In den USA gab es all das nicht. Sowohl Anfang der achtziger wie Anfang der neunziger Jahre fielen die Inflationsrate und die Lohnstückkosten ähnlich schnell wie in Deutschland. Zu Beginn des jeweiligen Aufschwungs schwenkte die Wirtschaftspolitik in den USA rasch auf einen Expansionskurs ein. War es Anfang der achtziger Jahre vor allem die Finanzpolitik, die die Aufgabe der Stimulierung des Wachstums übernahm, trug Anfang der neunziger Jahre die Geldpolitik dafür die Verantwortung. Infolge der kräftigen Expansion wurden viele Arbeitslose rasch wieder in den Arbeitsmarkt integriert und eine Verhärtung der Arbeitslosigkeit durch Dequalifizierung und Demotivierung von vornherein weitgehend vermieden.

Das Ergebnis der europäischen Stabilisierungskrise hingegen war eine historisch einmalig lange Phase, in der Kontinentaleuropa seine Wachstumspotentiale nicht ausschöpfen konnte. Unter der gedämpften Expansion vieler europäischer Länder litt trotz zeitweiliger realer Unterbewertung der D-Mark auch Deutschland, weil der es umgebende Wirtschaftsraum weniger stark florierte, als es sonst möglich gewesen wäre. Dennoch war Westdeutschland als Land der Leitwährung in einer günstigeren Position als die anderen europäischen Staaten, weil es selbst die Lohn- und Preisstandards setzte, an die die anderen sich anzupassen erst lernen mußten. Deshalb sank die westdeutsche Arbeitslosigkeit bis 1992 in einem im internationalen Vergleich nur erfolgreich zu nennenden Ausmaß. So war Westdeutschland nach der Überwindung der Rezession von 1982 bis zum Jahr 1992 wesentlich erfolgreicher bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit als die „erfolgreichen" Länder Dänemark, Großbritannien und Neuseeland im gleichen Zeitraum.

In Europa insgesamt führt die Stabilisierungskrise zu hoher und anhaltender Arbeitslosigkeit. Die Dauer der Stabilisierungskrise mußte die Arbeitslosigkeit verhärten. Heute wird die Verhärtung zumeist jedoch den institutionellen Rahmenbedingungen angelastet. Aber auch weit „flexiblere" Rahmenbedingungen hätten die Folgen der Stabilisierungskrise nicht auffangen können. Die durch sie verursachte Verhärtung der Arbeitslosigkeit (Hysterese)

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erschwert den Abbau der Arbeitslosigkeit mit einer auf Wachstum ausgerichteten makroökonomischen Politik. Daher ist eine Mischung aus einer die gesamtwirtschaftliche Dynamik fördernden Wirtschaftspolitik und einer stärker ordnungspolitisch ausgerichteten Arbeitsmarktpolitik erforderlich, die die Wiedereingliederung von Langzeitarbeitslosen erleichtert.

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Fazit: Beggar-my-neighbour oder Aufschwung für alle?

Die Bedeutung der Löhne für die Sicherung der Wettbewerbsposition in allen Teilnehmerländern der Europäischen Währungsunion setzt einer nationalen Beschäftigungsstrategie via relativ sinkende Lohnstückkosten enge Grenzen. Der Versuch eines Landes, durch nominale Lohnabschlüsse, die unterhalb des erwarteten nationalen Produktivitätszuwachses und der europäischen Zielinflationsrate liegen, die eigene Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, bedeutet einen durch nationalen Verzicht, nicht aber durch unternehmerische Innovation errungenen Wettbewerbsvorteil gegenüber den Handelspartnern. Die Innovationen der Handelspartner werden sogar durch eine solche Strategie entwertet - nicht anders als bei realen Abwertungen im bisherigen Währungsregime. Die Wachstumschancen, die die Währungsunion eröffnet, werden damit vertan.

Diese Politik, die lange Zeit von den Niederlanden praktiziert wurde, wird derzeit auch von der Bundesrepublik Deutschland verfolgt. Mit nominalen Lohnzuwächsen von durchschnittlich 1% bleibt die deutsche Lohnpolitik viel weiter unterhalb des prinzipiell vorhandenen Verteilungsspielraums aus Preisen und Produktivitätszuwachs als die übrigen potentiellen Teilnehmer der Währungsunion. Die deutsche Wirtschaft wertet real ab, weil zugleich die Wechselkurse gegenüber diesen Ländern praktisch fixiert bleiben. Die Verbesserung der deutschen Wettbewerbsposition zwingt die Handelspartner in den nächsten Jahren, mit einer noch stärkeren Lohnzurückhaltung zu reagieren, wollen sie nun nicht Arbeitslosigkeit statt Preisstabilität importieren. Ein Rückgang der Lohnstückkosten in ganz Europa wird aber auf längere Sicht zu fallenden Preisen, d.h. zu einer Deflation führen, da die Güterpreise flexibel auf die Kostensenkung reagieren werden. [Fn.5: Vgl. dazu ausführlich: H. Flassbeck: Und die Spielregeln für die Lohnpolitik in einer Währungsunion? Über Arbeitnehmereinkommen und Wettbewerbsvorsprünge einer Volkswirtschaft in der Europäischen Union, in: Frankfurter Rundschau vom 31.10.1997.]

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Die Erfahrung der fünf am Arbeitsmarkt erfolgreichen Länder zeigt, daß eine Verbesserung der Arbeitsmarktsituation nur bei einer kräftigen Beschleunigung des Wachstums möglich ist. Gleichzeitig belegt die Entwicklung der Reallohnposition in den erfolgreichen und in den weniger erfolgreichen Ländern, daß das Tempo der Zunahme der Produktivität von der Lohnpolitik kaum zu beeinflussen ist. Daraus folgt, daß mehr Beschäftigung nur entsteht, wenn zur Überwindung einer Rezession rasch Impulse für eine Wachstumsbeschleunigung und eine Belebung der Investitionstätigkeit vorhanden sind. Ein solcher Impuls ist gegenwärtig für Deutschland die reale Abwertung der D-Mark. Dies wird nach Meinung aller Institute immerhin zu einer leichten Besserung der Arbeitsmarktlage in Westdeutschland beitragen. Eine solche Entwicklung ist aber nicht nachhaltig, weil in anderen Ländern die entgegengesetzten Effekte auftreten werden. Erfolgversprechend ist allein eine Strategie, bei der die europäische Geldpolitik im Verein mit einer am Produktivitätstrend und der Zielinflationsrate orientierten Lohnpolitik die Bedingungen für eine langanhaltende Investitionsdynamik schafft. Wer auf beggar-my-neighbour als den zentralen wirtschaftspolitischen Ansatz baut, wird genau dies verhindern.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2000

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