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[Seite der Druckausg.: 85 ]


Bertil Jonsson
Politische Demokratie in einer globalen Wirtschaft


Vor zehn Jahren verglich der finnische Philosoph Georg Henrik von Wright unser Zeitalter, die Zeit der Globalisierung oder Internationalisierung, mit dem Kolonialismus. Auch dies war schließlich eine Zeit der Globalisierung und Internationalisierung. Von Wright konstatierte jedoch einen entscheidenden Unterschied zwischen damals und heute.

Zur Zeit des Kolonialismus waren es an der Spitze die Staaten mit ihren Flotten und Armeen, die sich Land und Länder aneigneten. Die Unternehmen kamen erst hinterher zur Ausbeutung von Naturschätzen und Arbeitskräften.

Heute ist das eher umgekehrt, meinte er. Heutzutage sind es die Unternehmen, die die Initiative ergreifen und die Internationalisierung vorantreiben. Sie verlassen ihre traditionellen politischen und sozialen Rahmenbedingungen und bilden ein selbständiges System, das seine eigenen Gesetzmäßigkeiten entwickelt und befolgt. Die Staaten und die Politiker kommen erst dahinter und passen sich grosso modo nur an das an, was bereits geschehen ist. Hätte von Wright seine Analyse heute geschrieben, würde er vermutlich nicht von „Unternehmen", sondern von Währungs- und Kapitalmärkten reden. Aber als Ausgangspunkt für die Diskussion, wer den Markt beherrscht - die Wirtschaft oder die Politiker - ist von Wrights Beobachtung interessant.

Was aber ist der Markt, die freie Marktwirtschaft? In einem modernen schwedischen Nachschlagewerk findet sich diese Definition: „Das Streben der einzelnen Handelnden nach eigenem Gewinn wird über den Preismechanismus koordiniert, d.h. durch die ständige Anpassung der Handelnden an aktuelle Preissignale, wobei das System unter gewissen Voraussetzungen auf selbstregulierende Art und Weise den Bürgern die bestmögliche materielle Bedarfsdeckung vermittelt."

Daraus ergibt sich die Frage: Gibt es wirklich eine freie Marktwirtschaft? Die Antwort heißt: Ja, aber nur als hübsches theoretisches Modell?

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Die Theorie der freien Marktwirtschaft hat ungefähr soviel mit der Wirklichkeit zu tun wie die kommunistische Theorie, die ja im Endeffekt die Auflösung des Staates zum Ziel hatte. Die eingefleischtesten Anhänger der Theorie der freien Marktwirtschaft zielen ja im übrigen auch auf die Aufhebung des Staates. Es handelt sich hier also um eine etwas überraschende Übereinstimmung der Äußerlichkeiten. Der Markt, wie wir ihn im nördlichen Europa kennen, ist etwas ganz anderes. Das prinzipielle System ist, im Unterschied z.B. zur früheren Sowjetunion, ein freier und nicht regulierter Markt. Aber darüber liegen Tausende von Regeln und Bestimmungen, die existieren, um die Theorie der freien Marktwirtschaft an die Wirklichkeit anzupassen.

Es hat sich nämlich herausgestellt, daß ohne diese Regelungen das System des freien Marktes in der Wirklichkeit nicht das kann, was die Theorie behauptet, nämlich „den Bürgern die bestmögliche materielle Bedarfsdeckung zu geben". Ohne Steuerung führt die freie Marktwirtschaft zu so großen Ungleichheiten unter den Menschen, daß sie in einer Gesellschaft, die auf Demokratie und Gleichheit der Menschen aufgebaut ist, nicht zu akzeptieren ist. Ohne Steuerung führt die freie Marktwirtschaft, das hat uns die Geschichte gelehrt, zu ständig wiederkehrenden Krisen.

Die politische Debatte, so wie wir sie in den europäischen Ländern und auch in der EU führen, dreht sich ja eigentlich um dieses Regelsystem: Ist es zu groß oder ist es zu klein? Haben die Regeln die richtige Form oder nicht? Niemand jedoch stellt in Frage, daß ein Regelwerk benötigt wird. Und keine politische Kraft von Bedeutung leugnet heutzutage, daß die freie Marktwirtschaft der Grund dafür ist. Der Sichtwinkel, unter dem man dieses Regelwerk sieht, bestimmt sich aus der Position auf der politischen Skala. Aber auch dieser Sichtwinkel ist im Laufe der Geschichte nicht konstant geblieben. Auf der Grundlage der Keynesschen Theorien aus den dreißiger Jahren bekamen der Staat und damit die Politik eine sehr viel aktivere Rolle. In den achtziger Jahren schlug das Pendel zur anderen Seite aus, und die Entwicklung wurde geprägt durch höhere Flexibilität aufgrund von Deregulierungen und Privatisierungen.

Das hat natürlich dazu geführt, daß die Rolle der Politik in der wirtschaftlichen Entwicklung zurückgegangen ist. Durch Privatisierungen und Deregulierungen gaben die Politiker die Steuerungsinstrumente aus der Hand, über die sie vorher verfügt hatten. Ein anderes Beispiel dafür ist die Autonomie,

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die man den Zentralbanken verlieh. Folgerichtig haben diese heute die Macht, gegen wirtschaftliche/politische Beschlüsse, die in ordentlichen demokratischen Verfahren gefällt wurden, anzugehen.

Ich möchte deswegen die Behauptung aufstellen, daß die Prioritäten und Zielsetzungen der Wirtschaftspolitik nicht mehr von Parlamenten und Regierungen gesetzt werden, sondern von anderen Handelnden, die von der politischen Demokratie nicht kontrolliert werden können. Es gibt zwei Grundlagen für die Macht in einer Demokratie - in der Politik und in der Wirtschaft - politische Macht und wirtschaftliche Macht. Die Konsequenz der Deregulierungen ist eine Machtverschiebung von der politischen/wählerbestimmten Macht hin zur wirtschaftlichen Macht.

Schaut man auf die Entwicklung der gewerkschaftlichen Organisationen in diesem Jahrhundert, so kann man behaupten, daß wir von einer destruktiven zu einer konstruktiven Machtausübung übergegangen sind. Es waren schließlich Streiks oder die Androhung von Streikmaßnahmen, die wir anwenden mußten, um überhaupt etwas mitbestimmen zu können respektiv( das Recht zu bekommen, für die Interessen unserer Mitglieder wirken zu dürfen.

Bis zum Beginn der achtziger Jahre waren wir als legitime Organisationen akzeptiert und durften in vielen Fällen aktiv am Aufbau der Gesellschaft mitwirken. Dies ermöglichte uns, von einer destruktiven zu einer konstruktiven Machtausübung überzugehen. Mit der Durchsetzung der neoliberalen Ideen in den achtziger Jahren in Europa veränderte sich wieder die Sicht auf die gewerkschaftlichen Organisationen. In Großbritannien sprach Mrs. Thatcher davon, „die Gewerkschaften zu zähmen", und wir wurden plötzlich „den Markt störende Elemente" genannt. Das Prädikat „marktstörende Elemente" traf im übrigen nicht nur uns. Auch ein großer Teil des Regelwerks, das ich erwähnt habe, wurde als störend für den Markt betrachtet.

Die Deregulierung hat jedoch noch andere, viel weitergehende Effekte gehabt. Die Deregulierung der Kapital- und Kreditmärkte war die Voraussetzung zur Entwicklung des globalen Finanzkapitals. In den sechziger und siebziger Jahren entsprach der Umsatz auf dem globalen Währungsmarkt irr großen und ganzen dem Handel, d.h. die Währungsströme, die sich zwischen den Ländern und Kontinenten bewegten, dienten in erster Linie der Bezahlung von Waren und Dienstleistungen. Heute ist der jährliche Umsatz

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an Währungen auf dem Währungsmarkt 30 x größer als die Summe der gehandelten Waren. Und das ist eine Entwicklung, die unglaublich schnell gegangen ist. Der Umsatz hat sich von 1989 bis 1995, also in sechs Jahren, verdoppelt. Jeden Tag wechseln 1.200 Milliarden Dollar auf dem Währungsmarkt den Eigentümer. Das entspricht im großen und ganzen zwei Drittel dessen, was Sie hier in Deutschland in einem Jahr produzieren. Und das also jeden Tag! Ich behaupte, daß dies zu einer sehr großen Machtverschiebung geführt hat, einer so großen Machtverschiebung, daß wir uns über die Konsequenzen noch immer nicht im klaren sind.

Da kann man sich ja wohl fragen: Wie konnte das geschehen und warum? Einerseits muß man natürlich die Deregulierung der Währungs- und Finanzmärkte zu begreifen versuchen auf dem Hintergrund des allgemeinen Vertrauens auf, oder wohl eher dem Aberglauben an, die freie Marktwirtschaft, wie sie Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre gegeben war. Die Deregulierung war das Gute an sich. Wenn man nur alle Regelungen beseitigte, würde der freie Markt dafür sorgen, daß sich alles auf das Beste entwickeln würde.

Eine andere wichtige Erklärung ist die unerhört schnelle Entwicklung der Informationstechnologie, die keiner voraussehen konnte. Sie ermöglichte den Akteuren auf den Währungs- und Kapitalmärkten die volle Ausnutzung der Deregulierung. Die Informationstechnologie ermöglichte es den Akteuren auf diesen Märkten buchstäblich gesprochen jede Sekunde, jede Information aus jeder Ecke der Welt einzuholen und genauso schnell darauf zu reagieren. Heute haben wir ein globales System, in dem die nationalen Märkte mit Hilfe der neuen Technik so agieren können, als wären sie alle an Ort und Stelle, obwohl sie physisch weit voneinander entfernt sind.

Im Verhältnis zum globalen Finanzkapital möchte ich behaupten, daß Arbeitnehmer, Politiker und Unternehmen sich mehr oder weniger in der gleichen Situation befinden. Wir haben auf unterschiedliche Art und in verschiedenem Grad unsere Verankerung im realen Kapital und damit nicht die Möglichkeiten des Finanzkapitals, uns frei über den Globus zu bewegen.

Wenn ich das sage, bin ich mir natürlich bewußt, daß es hier und da passiert, daß Unternehmen ihre gesamte Tätigkeit oder Teile davon in andere Länder verlegen. Aber das ist unerhört viel komplizierter und schwerfälliger und deswegen trotz allem nicht so normal, ein Unternehmen zu verlegen

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wie Geld zu bewegen. Genauso weiß ich, daß es auf der Welt ca. 37.000 multinationale Unternehmen gibt. Auf der anderen Seite beschäftigen die nur 3% der Arbeitskräfte dieser Welt oder 6%, wenn man alle Unterlieferanten mitrechnet. Außerdem ist es ja wohl so, daß auch diese großen, globalen Unternehmen hochgradig von den Währungs- und Finanzmärkten abhängig sind. Bei diesen Unternehmen ist heutzutage die Verwaltung ihrer Finanzmittel oft wichtiger für das Endresultat als die eigentliche Produktion.

Aber selbst die Unternehmen, die nicht direkt vom Finanzsystem abhängig sind, werden davon beeinflußt. Das geschieht vor allem dadurch, daß das Niveau der Profite auf den Finanzmärkten die Forderungen nach Profit auch in diesen Unternehmen in die Höhe treiben. Das ist u.a. der Grund, warum Unternehmen wegziehen, um die Produktionskosten zu reduzieren und damit die Profite zu erhöhen.

Die Globalisierung der Währungs- und Finanzmärkte hat zu einem kräftigen Druck in Richtung auf eine stärkere Koordinierung der nationalen Wirtschaftspolitik geführt. Das gilt besonders für die Industrieländer und ganz besonders für kleine, verschuldete, offene Wirtschaftsräume wie z.B. Schweden. Die wirtschaftlichen und politischen Handlungsspielräume sind heutzutage z.B. für den schwedischen Finanzminister unerhört viel enger als noch vor 20 bis 30 Jahren. Nationale Wirtschaftspolitik heute wird nicht in erster Linie von den eigenen Wählern, den eigenen Bürgern geformt, sondern in mindestens gleich großem Grad von den Akteuren auf den Währungs- und Finanzmärkten.

Selbst die Zentralbanken sind in gewissem Sinne Opfer der Währungs- und Finanzmärkte. Die Zinspolitik der Zentralbanken ist selbständig nur im Verhältnis zum eigenen Land, nicht jedoch im Verhältnis zu den Währungs- und Finanzmärkten.

Die Schlußfolgerung aus meiner Argumentation lautet, daß die reale Wirtschaft in großem Ausmaße von der Finanzwirtschaft gesteuert wird. Zinssatz und Kreditwürdigkeit sind die Verbindungsglieder und Steuerinstrumente zwischen den beiden Ebenen. Und vieles deutet darauf hin, daß es weder die Politiker noch die Unternehmen sind, die den Markt gestalten, sondern vor allem die Akteure auf den Finanzmärkten.

Die Macht, die diese ausüben, möchte ich als überwiegend destruktiv bezeichnen, destruktiv in dem Sinne, daß sie keine langfristige Verantwortung

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für die Entwicklung der realen Wirtschaft übernimmt. Das Risiko ist darüber hinaus, daß sie auch die gewerkschaftlichen Organisationen zurück in eine destruktive Machtausübung zwingt. Das wäre nicht gut für das europäische System, das auf Konsens aufbaut. Dieser Machtwechsel ist das Große und Wichtige, was in den letzten Dezennien passiert ist, und wir haben noch immer nicht voll verstanden, was das bedeutet.

Wenn man Demokratie so definiert, wie wir das in der schwedischen Verfassung tun, nämlich daß „alle Macht vom Volke ausgeht", muß man zugeben, daß dies nicht länger so ist. Es ist eine Kluft entstanden zwischen dem, was Demokratie behauptet, tun zu können, und dem, was sie wirklich kann. Das schwächt das Vertrauen der Menschen in die Demokratie und in die Politik. Auf Sicht ist dies eine sehr gefährliche Entwicklung.

Traditionell gab es einen Unterschied zwischen dem transatlantischen Kapitalismus und dem europäischen. Während der erstere kurzsichtig und ohne größere soziale Rücksichtnahme agierte, handelte der zweite mehr langfristig und war bereit, eine gewisse soziale Verantwortung zu übernehmen. Das ist einer der grundsätzlichen Unterschiede zwischen dem amerikanischen und dem europäischen Modell.

Die Globalisierung der Währungs- und Finanzmärkte hat dazu geführt, daß dieser Unterschied nun immer geringer geworden ist. Das transatlantische Modell ist dabei, die Vorherrschaft zu gewinnen. Die Forderungen nach schnellen und großen Gewinnen nehmen zu und machen es schwerer, am Handeln auf lange Sicht und an der sozialen Verantwortung festzuhalten. Das sollte nicht zuletzt für die EU eine Hauptfrage sein, wenn wieder einmal gesagt wird, wir müßten das europäische Modell bewahren und entwickeln.

Die Demokratie, wie wir sie kennen, ist, historisch gesehen, eine relativ neue Entwicklung. Sowohl hier in Deutschland als auch in Schweden kann man behaupten, daß sie sich erst nach dem ersten Weltkrieg voll etabliert hatte. Ich meine, daß die „Herrschaft durch das Volk" jetzt bedroht ist. Die Regierungen, besonders in den kleineren Ländern, haben immer größere Schwierigkeiten, eine selbständige Wirtschaftspolitik zu führen. Der Wille des Volkes muß immer häufiger zurücktreten zugunsten der Forderungen des Marktes, was man auch gerne als „wirtschaftliche Notwendigkeit" bezeichnet.

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Im schwedischen Gewerkschaftsbund haben wir einen neuen Begriff geprägt - „Der zweite Kampf um die Demokratie". Wir meinen, daß wir vor einem solchen zweiten Kampf um die Demokratie stehen. Der erste berührte die Machtfrage im Rahmen des Nationalstaates, das allgemeine und gleiche Stimmrecht, die politischen Freiheiten und Rechte, das Recht auf die Bildung gewerkschaftlicher Organisationen.

Nunmehr geht es um die Macht auf globaler Ebene. Wir haben eine eigene Untersuchung zur Demokratie eingeleitet, wobei eine der wichtigsten Fragen sein wird: Wie können wir die politische Demokratie in einer globalen Wirtschaft verteidigen und entwickeln? Es ist klar, daß dies Einsatz an vielen Fronten erfordert, es erfordert darüber hinaus internationale Abkommen und Regeln, Sozialklauseln, Besteuerung des beweglichen Kapitals usw. Worauf wir uns bisher konzentriert haben, ist, ob und wie wir die eigenen Finanzmittel der Arbeitnehmer einsetzen können. Schließlich bilden die Pensionsfonds der Arbeitnehmer einen großen Teil des globalen Kapitales.

Ist es z.B. denkbar, daß die Gewerkschaftsbewegung auf der Grundlage ihres Wertesystems eine eigene Kapitalanlagephilosophie ausarbeitet, die zur Gegenkraft auf den Finanzmärkten werden kann?

Lassen Sie mich ein Gedankenexperiment vornehmen. In Europa gibt es ca. 150 Millionen Arbeitnehmer. Wenn diese nur 0,5% ihrer Lohnsumme eines Jahres einsetzen würden, entspräche dies 1.000 Milliarden schwedischer Kronen oder etwas über 200 Milliarden DM. Würde man daraus eine Gegenkraft machen können? Wir diskutieren ebenfalls, welche Möglichkeiten im lokalen Arbeitnehmereigentum liegen. Bis zu unserem Kongreß im Jahre 2000 werden wir dies alles diskutieren, und ich hoffe, daß wir dann ein paar kluge und realistische Vorschläge vorlegen können. Ich betrachte ebenso diese heutige Diskussion hier als sehr wichtig für die zukünftige internationale gewerkschaftliche Zusammenarbeit.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2000

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