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Wolfgang Thierse
Globalisierung und nationale Sozialpolitik


Als die Friedrich-Ebert-Stiftung sich vor nunmehr fast drei Jahren entschloß, die Zusammenhänge zwischen den wirtschaftlichen Globalisierungsprozessen und den sozialpolitischen Gestaltungsmöglichkeiten zu untersuchen, war dies ein Thema, dessen Diskussion sich eher auf die Fachöffentlichkeit beschränkte.

Wer wollte bestreiten, daß sich das mittlerweile grundlegend geändert hat. Die Herausforderungen und die Konsequenzen des Globalisierungsprozesses sind herausragende Themen in einer breiten öffentlichen Diskussion in fast allen Ländern geworden. So gesehen darf man der Friedrich-Ebert-Stiftung und der von ihr unter Leitung von Rudolf Dreßler und Heiner Flaßbeck eingesetzten Projektgruppe Spürsinn bescheinigen.

Ich will mit Blick auf die Globalisierungsdiskussion in Deutschland nicht verhehlen, daß mich so manches Mal Zweifel an ihrer Angemessenheit, an ihrer Ehrlichkeit, vor allem aber an ihrer Qualität überkommen. Den Eindruck jedenfalls, daß es manchem Diskutanten weniger um die Folgen von Globalisierung, sondern weit eher um eine innenpolitisch motivierte Instrumentalisierung dieses Themas geht, den habe nicht nur ich.

Denn es geht oft nicht um eine Bewertung der Globalisierungsfolgen und um die sich daraus ergebenden Veränderungsnotwendigkeiten, sondern es geht offenkundig um den umgekehrten Weg, also um die inhaltliche Vorabfestlegung erwünschter Veränderungen und die interpretative Nachlieferung der dazu passenden Folgen.

Ich hoffe, ich enttäusche niemanden, wenn ich feststelle: Auf dieses Parkett werde ich mich nicht begeben. Denn die tiefgreifenden Veränderungen, die der Globalisierungsprozeß schon heute zeitigt und in Zukunft noch notwendig macht, verlangen nach unvoreingenommener Bewertung. Gesellschaftspolitische Sandkastenspiele sind dabei überflüssig.

Lösen wir uns also von den politischen Sprechblasen. Denn Globalisierung, Standortpolitik, Wettbewerbsfähigkeit oder Flexibilisierung sind wichtige Fragen für unser Land. Es sind keine Modeworte, sondern epochale Veränderungen,

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die tief in die Strukturen und den Zusammenhalt unserer Gesellschaft eingreifen und sie nachhaltig verändern werden.

Was wir brauchen, ist also zunächst eine Verständigung darüber, was Globalisierung überhaupt ist. Ich kann dies nur in aller Kürze tun, möchte aber zugleich darauf verweisen, daß die Grundwertekommission beim Parteivorstand der SPD unter meiner Leitung hierzu gerade ein Memorandum veröffentlicht hat.

Die Globalisierung hat ein Doppelgesicht. Einerseits ist sie eine vielfache Realität: Die Handelsschranken auf diesem Globus sind weitgehend gefallen. Nahezu überall sind dieselben Waren erhältlich. Die ökonomische Entgrenzung geht auch mit der kulturellen Überformung tradierter Gewohnheiten und regionaler Eigenarten durch die großen globalen Wettbewerber einher. Zur dominierenden Größe sind die internationalen Finanzströme und -märkte geworden. Währungsschwankungen und Spekulationen, die Explosion von Aktien, Anteilscheinen und sonstigen Derivaten haben zu einer gefährlichen Abkopplung des internationalen Finanzmarktes von den produzierenden Sektoren geführt. Produktions- und Arbeitsabläufe können aufgrund neuer technologisch gesteuerter Produktionsverfahren und binnen Sekundenschnelle überall auf dem Globus verfügbarer Informationen zerlegt und verlagert werden. Globale ökologische Gefährdungen machen nicht an nationalen Grenzen halt.

Andererseits ist Globalisierung ein ideologischer Kampfbegriff: globaler Wettbewerb als Daumenschraube. Mit dem Hinweis auf die „Zwänge des Weltmarkts" wird der Politik nur noch die Aufgabe zugewiesen, durch Steuer- und Kostensenkungen die Wettbewerbsbedingungen für den „Standort Deutschland" zu sichern bzw. zu verbessern. Wer die Aufgaben von Politik so reduziert, hat den Wettlauf im globalen Wettbewerb schon verloren.

Wir müssen zwischen dem „Neuen" der Globalisierung und der schon länger zu beobachtenden Internationalisierung der Wirtschaft unterscheiden lernen. Die Internationalisierung von Handel und Wettbewerb in Richtung auf einen Weltmarkt ist ein alter Prozeß seit den Seefahrern früherer Jahrhunderte. Sie hat sich aber seit den siebziger Jahren - im Zuge der „mikro-elektronischen Revolution" wie aufgrund politischer Deregulierungsentscheidungen - und besonders seit dem Fall der Grenzen in Europa 1989 bis 1991 rasant beschleunigt. Sein eigentliches Zentrum hat dieser Prozeß deshalb

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in den Ländern der Triade, hier erscheint er als Restrukturierung des Kapitalismus nach dem Ende der West-Ost-Systemauseinandersetzung.

Dieser jüngste Schub hin zu einer wirklichen „Globalisierung" rüttelt aber zugleich an den Grundfesten der Demokratie. Mehr denn je überlagern und bedrohen heute wirtschaftliche Prozesse die demokratisch legitimierten Entscheidungen. Scheinbare Zwänge des globalen Wettbewerbs hebeln mühsam Erstrittenes aus. Allein im - weltweit betrachtet - immer noch extrem reichen Europa werden 57 Millionen Arme registriert, denen weniger als 50% des Durchschnittseinkommens ihres Landes zur Verfügung steht. Im Industrie- wie im Dienstleistungsbereich ist der Trend zu wachsender Massenarbeitslosigkeit nicht gestoppt.

Deutschland kann sich dem historischen Prozeß der wirtschaftlichen Globalisierung nicht entziehen. Dieser hat auch große Vorteile: Er befördert den wirtschaftlichen und damit den kulturellen Austausch zwischen den Völkern. Völker, die miteinander Handel treiben, gefährden diesen nicht durch kriegerische Konflikte. Gerade der „Exportweltmeister" Deutschland profitiert von einer globalisierten Wirtschaft. Internationale Vereinbarungen statt nationaler Hemmnisse, stimulierende Anstöße durch Wettbewerb statt bürokratischer Restriktionen vermögen die Effizienz des Wirtschaftsgeschehens zu erhöhen und den verteilbaren Wohlstand entsprechend zu vermehren. Andererseits kann der Markt auf Dauer nur zum Wohle der Menschen funktionieren, wenn er durch politisch vorausschauende Regulierungsinstrumente ergänzt wird und in einen verläßlichen rechtlichen Rahmen eingebettet ist. Auch müssen die Mechanismen der Mitbestimmung und der Demokratie im Marktgeschehen wirksam bleiben.

Obwohl also die Globalisierung für ein exportorientiertes Land wie Deutschland ungeheure Chancen bietet, überwiegt bei den Menschen auch in unserem Land immer noch das Gefühl der Angst.

Bedrohlich daran ist aber vor allem eines, nämlich, daß diese weltweite Entwicklung von immer mehr Regierungen - auch von der deutschen - einfach sich selbst überlassen wird.

Das Gegenteil aber ist erforderlich. Globalisierung braucht politische Gestaltung. Die Menschen erleben statt dessen politische Verweigerung. Das ist es, was ihnen angst macht.

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Wer wollte bezweifeln: Der Globalisierungsprozeß bietet Chancen, aber er enthält auch Risiken. Politik ist aufgefordert, entschlossen auf die Chancen zu setzen, statt ständig die Risiken beschwörend vor sich her zu tragen. Denn eine Erfahrung ist unbestreitbar: Nur wer Chancen entschlossen nutzt, macht Risiken beherrschbar.

Die Botschaft muß also sein: Wir haben keine Angst vor der Globalisierung! Wir wollen sie! Wir wollen verstärkten Wettbewerb und internationalen wirtschaftlichen Austausch. Aber wir wollen sie zum Wohle aller und nicht zum Nutzen von nur wenigen Gruppen.

Letzteres ist nicht nur notwendig, es ist auch möglich. Die modernistischen Apologeten des Eigennutzes, die es gerade zur Gesetzmäßigkeit von Globalisierung machen möchten, daß jeder zunächst an sich selbst denkt, verdienen entschiedenen Widerspruch. Die soziale Dimension moderner Gesellschaften und die ökonomische Globalisierung sind keine Gegensätzlichkeiten.

Im Zuge der allgemeinen Thatcherisierung des gesellschaftspolitischen Denkens in den Industriestaaten spielt in diesem Zusammenhang die Privatisierung sozialer Leistungen in der öffentlichen Diskussion eine besondere Rolle. Privatisierung - das ist der ideologische Fetisch einer ganzen Generation von Politikern und Wissenschaftlern. Damit einher geht der Versuch einer Neudefinition von Subsidiarität, der die Legitimation staatlichen Handelns bis auf einen kümmerlichen, unverzichtbaren Rest weitgehend verneinen will.

Privatisierung - das bedeutet in dieser Diskussion nicht nur Entstaatlichung. Nein, mit Privatisierung ist auch eine weitgehend privatisierte Leistungserbringung gemeint, privatisiert im Sinne von „zur Gewinnerzielung geeignet oder freigegeben".

Vor allem aber: Privatisierung bedeutet einen Wechsel von öffentlich organisierten und solidarisch finanzierten Gesamtsystemen zu privatwirtschaftlich organisierten und meist risikoorientiert finanzierten Einzelsystemen.

Einem solchen Wechsel liegt nicht nur ein eigentümliches Gesellschaftsverständnis zugrunde, sondern auch eine gezielte Mißdeutung der Legitimation staatlichen Handelns, so, als sei das die schlechtest denkbare Form oder der ungünstigste Weg einer Problemklärung.

Ich will in Erinnerung rufen: Der Schutz der Bürgerinnen und Bürger vor und in allgemeinen Lebensrisiken - auch der sozialen - ist staatliche Aufgabe.

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Ob der Staat diese Aufgabe selbst wahrnimmt oder sie anderen Organisationen überträgt oder überläßt, ist seine ureigene Entscheidung. Man mag dies als etatistische Anwendung von Verfassungsprinzipien bezeichnen, aber sie entspricht den Tatsachen. Und vor allem: Den aus der Globalisierung folgenden Notwendigkeiten zur gesellschaftspolitischen Veränderung widerspricht das nicht.

Ein Weiteres scheint mir unabdingbar. Unsere Gesellschaft muß sich darüber klar werden, welche Rolle die Ökonomie in Zukunft zu spielen hat. Für mich ist klar: Wir müssen uns der Durchökonomisierung aller Lebensbereiche entschlossen in den Weg stellen. Die Ökonomie muß dem Menschen dienen, sie darf ihn nicht beherrschen. Denn eine Gesellschaft ist mehr als die Summe der guten Geschäfte, die sich in ihr erzielen lassen.

Der Markt ist unverzichtbares Organisationsprinzip für das wirtschaftliche Geschehen. Ordnungsprinzip für unsere Gesellschaft aber, das kann er nicht sein. Denn die wird nicht von Rentabilitäten oder Zinsfüßen, von Angebot und Nachfrage zusammengehalten, sondern von Werten, von Moral, Humanität und Mitmenschlichkeit.

Es gilt: Nicht alles, was ökonomisch erfolgreich ist, ist gesellschaftspolitisch sinnvoll. Wir müssen uns die wertorientierte Letztentscheidung vorbehalten, statt uns den ökonomischen Prozessen oder ihren wertneutralen, besser „werte-losen" Gesetzmäßigkeiten widerstandslos unterzuordnen.

Deshalb will ich festhalten: Unternehmerisches Handeln ist nicht nur eine betriebswirtschaftliche Kategorie. Es ist vielmehr aktive demokratische Mitgestaltung an unserem Gemeinwesen. Unternehmer haben nicht nur eine ökonomische, sie haben eine gesellschaftliche Funktion.

Auch sie stehen im Dienste am Gemeinwesen, das ihnen durch seine Aktivitäten - von der Infrastruktur bis zum Bildungswesen - erst die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Tätigkeit schafft. Kein Unternehmen kann Erfolg haben ohne ein funktionierendes, belastbares gesellschaftliches Umfeld, ohne ein Grundvertrauen zwischen den wichtigen Gruppen.

Ich erlebe es als Alptraum, wenn in den Spitzenetagen einiger renommierter Unternehmen mittlerweile Staatsanwälte ein- und ausgehen. Wenn sich im Bewußtsein der Menschen erst der Eindruck festgesetzt hat, Unternehmer, das seien die, denen man eigentlich alles zutrauen könnte, dann wäre das für unsere Gesellschaft und ihren Zusammenhalt eine Katastrophe.

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Wir brauchen in Deutschland eine steuerliche Gesamtentlastung - auch unter den Erfordernissen des Globalisierungsprozesses. Daran zweifelt niemand! Aber wir müssen sorgfältig sein. Wir müssen die schwierige Finanzlage der öffentlichen Haushalte berücksichtigen. Gerechtigkeit ist ohne einen leistungsfähigen Staat nicht denkbar.

Denn weniger Steuern, das darf nicht heißen

  • weniger Kindergärten,

  • noch weniger Lehrer,

  • noch weniger Polizei oder

  • weniger öffentlicher Personenverkehr.

Eine steuerliche Entlastung, die zu weniger der von den Bürgerinnen und Bürgern dringend benötigten öffentlichen und sozialen Infrastruktur führt, schafft nicht mehr, sie schafft weniger Gerechtigkeit.

Neues Denken und eine andere Politik, das beginnt damit, die zentralen Werte einer Gesellschaft wieder in den Mittelpunkt des politischen Handelns zu stellen und sie zeitgemäß zu definieren, in Deutschland wie anderswo! Wir brauchen endlich wieder einen wertorientierten gesellschaftspolitischen Diskurs.

Wenn wir - und dieses „wir" meine ich gruppen- und parteiübergreifend - die Menschen von der Notwendigkeit der Veränderung und des Wandels überzeugen wollen, wenn wir ihnen klar machen wollen, daß im Zuge der weltweiten Neuorientierung auch wir in unserem Land dringend einen neuen Anfang brauchen, dann müssen wir ihnen sagen, woran wir uns mit unserer Politik ausrichten. Es gilt: Wandel braucht Richtung!

Orientierungslose Politik bewirkt eine tiefe Verunsicherung. Dabei müßten wir doch wissen: Nur wer festen Boden unter den Füßen hat, ist bereit, die unweigerlichen Risiken von Veränderung auf sich zu nehmen. Deshalb gilt auch: Wandel braucht Sicherheit!

Wir müssen aufhören, ökonomischen Moden hinterherzulaufen und die Inhalte unserer Politik der Beliebigkeit anheimzugeben. Heillose Unordnung im Politikbetrieb, ein ständiger Wechsel zwischen Hü und Hott erzeugt Verdrossenheit und lahmt die Initiative der Menschen. Deshalb gilt schließlich:

Wandel braucht Ordnung!

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Hüten wir uns vor dem kritiklosen Nachplappern scheinbar moderner Vokabeln und Forderungen. Prüfen wir sie erst auf ihre inhaltliche Substanz.

Halb Deutschland redet davon, wir brauchten eine Deregulierung, die Globalisierung gebiete das.

De-Regulierung? Also die Beseitigung der Regeln? Das muß wohl ein Irrtum sein. Nein, wir brauchen Re-Regulierung.

Wir wollen die Regeln doch nicht abschaffen, sondern wir wollen alte, hinderliche, unzeitgemäße und inflexible ersetzen durch zeitgemäße, zukunftsfähige, flexible und neue. Und wenn die ganze Operation zu ein paar weniger Regeln führte, wäre das ja auch nicht von Pappe.

Neues Denken und eine andere Politik, das heißt allerdings nicht nur, die zentralen Werte in den Mittelpunkt des Handelns zu stellen, sondern das heißt auch, sie zeitgemäß zu interpretieren. Solidarität und soziale Gerechtigkeit sind Grundpfeiler gesellschaftlichen Zusammenlebens. Aber als einfache Verlängerung dessen, was sie in der Vergangenheit bedeutet haben, sind sie in den Köpfen der Menschen nicht lebensfähig.

Die Forderung nach gesellschaftlicher Solidarität ist übrigens nichts, wofür sich Politik zu schämen hätte. Sie ist auch nichts, für das man nur hinter vorgehaltener Hand oder nur flüsternd wirbt, um nicht in bestimmten gesellschaftlichen Kreisen als vermeintlich unmodern zu gelten.

Nein, wer die gesellschaftlichen Zustände nicht nur in unserem Land bilanziert - und zwar von der Einkommensverteilung über den Arbeitsmarkt bis zur Sozialversicherung - der weiß: Die Revitalisierung des Solidargedankens muß wieder in den Mittelpunkt der Politik gestellt werden.

Die Verschärfung des internationalen Wettbewerbes, die wechselseitige Durchdringung der Märkte erfordert eine Verbesserung der ökonomischen Leistungsfähigkeit unseres Landes. Ob allerdings die dazu seit geraumer Zeit geführte Standortdebatte hilfreich ist, bezweifle ich.

Sollte ich diese Debatte als Vorstandsvorsitzender eines Wirtschaftsunternehmens unter reinen Marketing-Gesichtspunkten qualifizieren müssen, so würde ich als erstes den Marketing-Vorstand meines Unternehmens entlassen. Denn selbst wenn der Standort so schlecht wäre, wie er derzeit geredet wird, würde für mich gelten: Leitende Mitarbeiter, die öffentlich machen,

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daß der eigene Betrieb nicht auf der Höhe der Zeit ist, gehören aus dem Verkehr gezogen. Wer kauft schon bei einem Unternehmen, das öffentlich seine mangelnde Wettbewerbsfähigkeit und Leistungskraft problematisiert?

Aber so schlecht ist der Standort Deutschland ja gar nicht - im Gegenteil. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Wer - wie Deutschland - im zu Ende gehenden Jahr abermals einen rekordverdächtigen Außenhandelsüberschuß von wahrscheinlich 120 Mrd. DM ansteuert, der steht doch im globalen Wettbewerb nicht schlecht da.

Wer im eigenen Land für 120 Mrd. DM Güter und Dienstleistungen mehr produziert als dort benötigt werden und sie an andere Länder, die sie benötigen, verkauft, wer auf diese Weise also bewirkt, daß die Güter nicht in den anderen Ländern produziert werden, obwohl sie dort produziert werden könnten, der exportiert nicht Arbeit, wie immer behauptet wird, der exportiert Arbeitslosigkeit!

Es ist hohe Zeit, daß wir die Folgen des globalen Wettbewerbes und die Anstrengungen, in ihm zu bestehen, nicht nur unter nationalen ökonomischen Gesichtspunkten, sondern auch unter den Aspekten der internationalen Verteilungsgerechtigkeit bewerten. Ich will darauf an anderer Stelle noch eingehen.

Ich habe den Eindruck: Wer den Sozialstaat Deutschland gegen den Standort Deutschland ins Feld führt, der will nicht den Standort sichern, sondern den Sozialstaat beseitigen. Denn die Wahrheit ist doch: Die Qualität des Standortes Deutschland und der Sozialstaat bedingen einander. Ohne funktionierende sozialstaatliche Sicherungen ist die Qualität des Standortes Deutschland hinfällig.

Denn: Es gäbe keine stabilen Beziehungen zwischen weitgehend autonomen Sozialpartnern, es gäbe keine funktionierende soziale Infrastruktur, die kontinuierliche Produktionsprozesse absichert, es gäbe keine qualifiziert ausgebildeten Arbeitnehmer, die mitgestalten und mitverantworten.

Sozialer Ausgleich ist kein Abfallprodukt ökonomischer Prozesse, das die Qualität des Standortes belastet, er ist konstitutives Merkmal einer hoch leistungsfähigen, einer entwickelten Volkswirtschaft.

Niemand bezweifelt, daß wir angesichts der großen Veränderungen im weltwirtschaftlichen Gefüge, deren ökonomische wie soziale Konsequenzen

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bei weitem noch nicht erfaßt sind, nicht so weitermachen können wie bisher:

Konservative nicht durch Fortführung ihrer einfallslosen angebotsorientierten monetaristischen Wirtschaftspolitik, Sozialdemokraten nicht durch eine Flucht in die sozialstaatliche Idylle der siebziger Jahre.

Die meisten Menschen ahnen, viele von ihnen wissen gar, daß wir vor einschneidenden Veränderungen stehen. Wer aufmerksam beobachtet, stellt fest: Sie sind auch zu Veränderungen bereit.

Aber das heißt nicht, daß das Sozialstaatsgebot unserer Verfassung nicht mehr erfüllt werden muß. Das muß es - auch unter anderen internationalen Rahmenbedingungen. Aber wir müssen uns dem Kern der Probleme zuwenden und nicht auf Nebenkriegsschauplätze flüchten.

Erinnern wir uns, worauf das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes abzielt:

Der Sozialstaat ist die strukturelle und institutionalisierte Solidarität, die notwendige Antwort auf die in einer Marktwirtschaft unausweichlich immer neu produzierte Ungleichheit.

Deshalb ist sozialer Ausgleich immer neu notwendig, also die Intervention des Staates mit dem Ziel, Chancengleichheit und Verteilungsgerechtigkeit herzustellen. Eine Gesellschaft kann nicht funktionieren, die ihre Mitglieder zu reinen Wirtschaftsbürgern reduziert. Der Mensch ist nicht bloße Arbeitskraft und bloßer Konsument. Es geht um menschenwürdige Wohn- und Arbeitsverhältnisse, um gleichen Zugang zu Bildung, Ausbildung, Informationen, Kultur.

Die Marktwirtschaft belastet die Individuen mit Risiken, vor denen sie sich allein nicht ausreichend schützen können. Verhaltensweisen, die auf dem Markt Erfolg versprechen, reichen allein weder aus, um eine stabile Gesellschaftsordnung zu errichten, noch dazu, die Werte zu verwirklichen, die für menschliches Zusammenleben und gelingenden gesellschaftlichen Zusammenhang notwendig sind.

Sozialstaat ist allerdings nicht dasselbe wie Wohlfahrtsstaat oder wie der totale Fürsorgestaat nach Art der DDR. Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verlangen mündige Bürger, die ihre Geschicke selbst in die Hand nehmen. Das Leistungsprinzip darf also nicht außer Kraft gesetzt werden. Es darf aber weder alleiniger Maßstab sein, also verabsolutiert werden, noch Gerechtigkeit und Solidarität verdrängen.

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Im Gegenteil, das innere Prinzip des Sozialstaats, seine eigentliche und wesentliche Leistung gilt es zu erhalten: Der Sozialstaat verwandelt den Schwachen, den Hilfsbedürftigen aus einem Objekt gewiß löblicher und notwendiger Hilfsbereitschaft von einzelnen oder von Gruppen in ein Subjekt von Rechtsansprüchen - und gibt ihm so ein Moment von Würde zurück.

Wenn von der nötigen Reform des Sozialstaats die Rede ist, dann muß sie meines Erachtens dort beginnen, wo sozialstaatliche Regeln diesen Anspruch nicht mehr einlösen. Es gibt bei uns in Deutschland Regelungen, die im Ergebnis dazu führen - man merkt es schon an der Sprache -, den „Leistungsempfänger" in eine passive und abwartende Rolle zu drängen, in der er die Möglichkeit zu eigener Anstrengung einbüßt.

Ich plädiere für die Verteidigung und Bewahrung des europäischen Sozialstaatsprinzips; ich plädiere nicht dafür, alles zu belassen, wie es ist.

Gerechtigkeit herzustellen heißt, Ungleiches ungleich behandeln, ist also unausweichlich mit Umverteilung verbunden: Die Gesunden unterstützen die Kranken, die Arbeitenden die Arbeitslosen, die Jungen die Alten. In einer solchen Umverteilung verwirklicht sich erst das Prinzip der Solidarität, ohne die soziale Gerechtigkeit nicht möglich ist.

Ohne gerechte Verteilung von Lasten und Chancen, ohne Steuergerechtigkeit, ohne gerechte Verteilung der Arbeit, ohne Chancengleichheit bei Bildung und Kultur, ohne Überwindung der Benachteiligung von Familien mit Kindern - ohne jedenfalls die sichtbare, erkennbare Bemühung für jeweils mehr Gerechtigkeit wird unsere Gesellschaft unfriedlicher, wird unsere Demokratie gefährdet, wird die Freiheit bedroht. Denn der rechte Gebrauch der Freiheit ist an Voraussetzungen gebunden, für die Freiheit nicht schon selbst sorgt, sondern für die vernünftige Politik sorgen muß - eben Gerechtigkeitspolitik. Das ist für mich die eigentliche, die wichtigste Aufgabe des Staates.

Die Gefährdung des Sozialstaates kommt nicht von ungefähr; sie gründet nicht in der neoliberalistischen Ideologie, sondern erwächst aus den revolutionären Veränderungen, die sich in den bisherigen Industriegesellschaften vollziehen.

Alle Prognosen darüber, wie unsere Gesellschaft aussehen wird, wenn die digitale Revolution vollendet und die Globalisierung entfaltet sein wird,

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müssen nicht eintreffen. Aber mit der Tendenz, daß wir in nicht allzu ferner Zukunft nur 20% der heute aufgewendeten Arbeitskraft benötigen, um dieselbe Wertschöpfung zu erarbeiten, ist die wesentliche materielle Gefährdung der gesellschaftlich organisierten Solidarität, der Politik für mehr Gerechtigkeit beschrieben.

Eine zweite materielle Gefährdung kommt hinzu und ist schon heute wirksam: Den europäischen Nationalstaaten kommt die Fähigkeit abhanden, selbst bescheidene Umverteilung von materiellen Ressourcen zu bewirken. Das Kapital ist mobiler denn je: Wenn wir es besteuern wollen, ist es gerade nicht da, sondern lagert anderswo in der Welt, wird investiert oder zur spekulativen Vermehrung eingesetzt, ist dadurch entweder sowieso von der Steuerpflicht befreit oder eben nicht nachweisbar.

Neoliberalismus ist nur die ideologische Rechtfertigung und Konsequenz aus diesen realen Vorgängen. Er empfiehlt, die sozialstaatlichen Ziele aufzugeben, weil es schwieriger geworden ist, sie mit nationalstaatlichen Mitteln zu erreichen.

Der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Hans-Olaf Henkel, ist ein glühender Vertreter der These vom „trickling down". Sie besagt, wenn es den Starken gut gehe, sei das schließlich auch von Nutzen für die Schwachen.

Das ist voraufklärerisches Denken. Das verletzt die Menschenwürde. Das Beharren darauf war Ursache von Revolutionen. Die Menschen, die gezwungen werden, sich von den Krümeln zu ernähren, die von den Tischen der Reichen herabfallen, lehnen sich gegen diese Zumutung auf. Die Starken, die erklären, wenn ihre Tische nicht so voll beladen wären, hätten die Schwachen doch nicht einmal die Krümel, provozieren Gewalt. Das ist die europäische Erfahrung.

Die gehobene Variation dieser „trickling down"-These ist die Behauptung, der Sozialstaat sei zu teuer geworden. Sie ist Grundlage der Politik der deutschen Bundesregierung, die sie auch in der Europäischen Union durchzusetzen versucht. Die Ansprüche der Menschen seien zu groß, ihnen müsse mit Selbstbeteiligungsstrukturen und Leistungskürzungen begegnet werden.

Dem widerspricht schon ein recht simpler Zahlenvergleich: Der Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt ist seit Mitte der siebziger Jahre

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praktisch nicht mehr gestiegen. 1975 lag die Quote bei 33,9% und bewegt sich heute nach einigen Schwankungen trotz der historisch einmaligen Belastung durch die deutsche Vereinigung bei gut 33%.

Dieser allzu einfachen, sich auf die Kostenseite beschränkenden Sicht steht eine andere gegenüber, die die Gefährdung des Sozialstaats leugnet und so die dringend notwendige Schärfung unseres Problembewußtseins partiell unterbindet. Der Chef der Hamburger Landeszentralbank, Prof. Hans Jürgen Krupp, z.B. meint, in der - wie er es nennt - „kurzfristigen finanziellen Krise der sozialen Sicherungssysteme" komme immer noch ihre Leistungsfähigkeit zum Ausdruck.

Meine These lautet, die reale Krise unserer sozialen Sicherungssysteme hat ihre Ursache in der Verknüpfung der Abgaben und Leistungen mit lebendiger Arbeit. Das war die historische und über eine lange Periode fruchtbare Antwort der Industriegesellschaft auf die Frage nach sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit. Sie führt jetzt in eine Sackgasse. So wie die Arbeitsgesellschaft in die Krise geraten ist, so muß unweigerlich der an sie geknüpfte Sozialstaat von dieser Erosion erfaßt werden. Auch hierzu ein kurzer Zahlenvergleich: Mittlerweile ist der Anteil der Arbeit an der gesamten Wertschöpfung auf ein historisches Tief gesunken und betrug 1995 lediglich 68,2%, nachdem er in seinen besten Zeiten 1975 bei immerhin 75,2% gelegen hatte. Ich werde auf die daraus zu ziehenden Konsequenzen zurückkommen.

Zunächst müssen wir allerdings das genauer betrachten, was ich als die Krise der Arbeitsgesellschaft bezeichnet habe. Ich kann dies nur in knappen Zügen skizzieren. Die unter den Stichworten Mikroelektronik, Computerisierung, Telekommunikations- oder Informationsgesellschaft zusammengefaßte Revolutionierung unserer Arbeits- und Lebensbeziehungen hat zwar auf der einen Seite völlig neue Produktionszweige entstehen lassen, sie bewirkt aber den schon genannten, ungeheuren Rationalisierungsschub. Mit immer mehr an Wissen und Information, mit intelligenteren Verfahren und Lösungen läßt sich heute von weniger Menschen eine ungleich größere Zahl an Produkten (bei gleichzeitig gewachsener Produktvielfalt) herstellen.

Wachsender internationaler Konkurrenzdruck, die Abkoppelung der Prozesse auf den Finanzmärkten vom produktiven Sektor, Währungsschwankungen, der Wegfall von Handelsschranken (im übrigen gerade auch durch den

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ehemaligen Eisernen Vorhang), die Existenz von Billiglohnländern erhöhen den Druck in Richtung auf eine generelle Senkung der Arbeitskosten. Selbst in Phasen vorsichtigen Wachstums und bei allen Anstrengungen um Arbeitszeitverkürzungen gelingt es kaum noch, stärkere neue Beschäftigungsimpulse auszulösen.

Die Zahlen über den Sockel der Arbeitslosigkeit in Deutschland sind Ihnen bekannt. Die Erosion der Arbeitsgesellschaft zeigt sich auch in der sprunghaften Zunahme ungeschützter Beschäftigungsverhältnisse, von 610-DM-Jobs, von Schwarzarbeit, von Scheinselbständigen und kaum lebensfähigen Selbständigen. Die steigenden Konkurszahlen beweisen es. Die Entkoppelung der einzelnen Produktions- und Arbeitsvorgänge trennt in den USA heute schon für eine große Zahl von Beschäftigten Firmensitz und Arbeitsplatz, läßt sie ihre Arbeit vom Heimcomputer aus verrichten. Dieser Trend wird auch bei uns deutlich an Tempo gewinnen. Wo Information zur Produktivkraft Nr. 1 wird, wachsen zugleich die Anforderungen an Ausbildung und Kompetenz, an das Know-how des einzelnen Beschäftigten für jeweils neue Tätigkeiten. Da die Firmen immer mehr zu Outsourcing und Leiharbeitsverhältnissen übergehen, wird immer mehr Beweglichkeit und Flexibilität verlangt. Lebensbegleitendes Lernen wird zu einem Normalfall vieler Arbeitsbiographien werden, Vollzeitarbeit, Ausbildungsphasen, Sabaticals, Teilzeitphasen und Erziehungszeiten werden sich ständig abwechseln. Das sogenannte Normalarbeitsverhältnis wird schon heute eher die Ausnahme, wird jedenfalls in dem beschriebenen Prozeß weiter dramatisch an Bedeutung verlieren. Wollen wir zudem die Arbeitslosigkeit realistisch herabdrükken, wollen wir dazu noch Frauen und Männer gleichberechtigt am Erwerbsleben beteiligen, werden wir um eine Ausweitung von Teilzeitarbeit oder generelle Arbeitszeitverkürzung überhaupt nicht herumkommen.

Die deutsche Altersvorsorge, die gesetzliche Rente, basiert dagegen auf der Fiktion eines ununterbrochenen, 45-jährigen Arbeitslebens mit beitragspflichtigen Einkommen. Schon heute erfüllen die meisten Arbeitsbiographien diese Bedingungen nicht. Das bedeutet, daß schon jetzt die Mehrheit das Ziel verfehlt, im Alter etwa 70% der Nettoeinkünfte der letzten Jahre des Arbeitslebens zu erhalten.

Für alle, denen dieser Prozentsatz hoch erscheint, mache ich darauf aufmerksam, daß vollbeschäftigte westdeutsche Arbeitnehmer netto durchschnittlich ca. 3.200 DM verdienen, das ergäbe nach 45 Jahren eine Rente

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von 2.240 DM. Für Ostdeutschland lauten die entsprechenden Werte ca. 2.350 DM Nettoverdienst und 1.645 DM Eckrente. Die tatsächlichen Renten sind weitaus niedriger und würden unter den beschriebenen Bedingungen sehr rasch unter die Armutsgrenze sinken.

Was also ist zu tun? Sie wissen, daß die SPD eine ganze Reihe durchaus realistischer Vorstellungen dafür entwickelt hat, wie zumindest kurzfristig den größten Bedrohungen der verschiedenen Sozialsysteme entgegengewirkt werden kann. Dazu gehören Umfinanzierungen bei der Bundesanstalt für Arbeit, die Steuerfinanzierung sogenannter versicherungsfremder Leistungen auch in der Rentenversicherung, die Einführung der Positivliste in der Krankenversicherung. Ich will darauf nicht detaillierter eingehen. Diese Maßnahmen sind sinnvoll und notwendig, aber sie geben uns nicht mehr als eine Atempause, eine Chance zur nüchternen Bestandsaufnahme, infolge derer wirkliche strukturelle Umbaumaßnahmen vorgenommen werden müssen.

Das Ergebnis einer derartigen gesellschaftlichen Debatte kann ich nicht vorwegnehmen. Denn es ist nicht geklärt, welchen Aufwand die Gesellschaft zu leisten bereit ist, um den Nutzen des Sozialstaats zu ernten.

Die deutsche Unlust, Kosten des Sozialstaats zu tragen, behindert das Nachdenken über deren Ertrag. Kosten-Nutzen-Analysen können mit dem Wert der Menschenwürde, den ich genannt habe, nicht viel anfangen. Aber unser Diskurs ist inzwischen so vernebelt, daß er nicht einmal ganz simple, praktische Erträge erwägt. Zu den Erfahrungswerten des „rheinischen Kapitalismus" gehört, daß der soziale Friede ein Produktivfaktor ist. Alle haben etwas davon, wenn es nur wenige Streiktage gibt; wenige Streiktage gibt es, wenn die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihren Anteil am volkswirtschaftlichen Reichtum als gerecht empfinden. Möglichst geringe Kriminalität, die Vermeidung marodierender Gewalt, von Plünderungen und blinden Aufständen bescheren uns nicht nur ein ruhigeres Leben, sondern sie sind Produktionsfaktoren; sie ermöglichen ruhige Arbeit und schalten an dieser Stelle vermeidbare Vernichtung von Kapital aus.

Ich male hier keinen Teufel an die Wand. Ein Blick etwa nach Los Angeles oder die Erinnerung an die spontanen, gewalttätigen Jugendunruhen in englischen Arbeitervierteln in der Regierungszeit von Frau Thatcher sollten uns daran erinnern, wie leicht und schnell die Grenzen zu solchen Entwicklungen überschritten werden können.

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Ich will auch festhalten, daß es noch in keinem der europäischen Sozialstaaten Slums gibt. Aber es gibt bereits Ansätze dazu in manchen der großen Ballungsgebiete. Dort leben bereits Massen von Menschen von den Krümeln, die vom Tisch fallen. Die dauerhafte Ausgrenzung so vieler Menschen kann - abgesehen davon, daß sie moralisch unerträglich ist - in der Informationsgesellschaft nicht gelingen.

Ich argumentiere keineswegs nur mit europäischen Grundwerten des Christentums, der Aufklärung und der Arbeiterbewegung, keineswegs nur mit Moral, sondern beim Ertrag des Sozialstaats vor allem funktional.

Die Ausgrenzung der Menschen, die von den herabfallenden Krümeln leben sollen, bedeutet auch ihren Ausschluß von den Leistungen, die doch möglichst viele zu unserem Wohlstand beitragen sollen - und wollen, wenn wir im globalen Wettbewerb mithalten wollen.

Lassen Sie mich die Richtung, in die meines Erachtens die Debatte über unsere eigenen Anstrengungen zur Veränderung und damit Sicherung unseres nationalen Sozialsystems gehen müßte, in fünf Punkten skizzieren:

1. Wir brauchen eine Neujustierung des Verhältnisses von staatlichen Aufgaben und Eigenverantwortung.

Prof. Joseph Huber hat zu Recht darauf hingewiesen, daß ein umfassend sichernder und fürsorgender Staat auch Eigeninitiative lähmen kann. Die gesamte Debatte der amerikanischen Kommunitaristen ist von der Grundfrage geprägt, in welchem Verhältnis Rechte und eben auch Pflichten des einzelnen gegenüber der Gesellschaft als Ganzes wie gegenüber kleineren, ebenfalls Teile von Versorgung und Sicherung übernehmenden Gemeinschaften stehen.

Schauen wir hier auf das Beispiel der Arbeitslosenversicherung. Beim augenblicklichen Ausmaß von Arbeitslosigkeit bin ich weit davon entfernt, in den Chor derer einzustimmen, die fehlende Abstandsgebote zwischen Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe und den unteren Lohngruppen zum zentralen Moment angeblich mangelnder Arbeitsaufnahmebereitschaft machen. Aber umgekehrt gibt es eben auch keine positiven Anreize, die neue Übergänge ins Arbeitsleben schaffen. Der Gedanke der negativen Einkommenssteuer, der die bisherige Schranke der nur minimalen Zuverdienstmöglichkeit durchbricht, schafft möglicherweise neue Chancen der Finanzierung von Arbeit

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statt Arbeitslosigkeit. Es garantiert uns keiner den Erfolg dieses Versuchs. Aber wir sollten den Weg gehen, damit die doppelte Falle von Arbeitslosigkeit plus Schwarzarbeit endlich ein Ende findet.

2. Wir brauchen in diesem Zusammenhang eine Neubestimmung von staatlichen Rahmenaufgaben und der Herstellung eines Effizienzwettbewerbs von Anbietern, z.B. im Gesundheitswesen.

Konkurrenz belebt, macht erfinderisch und zwingt zu kostengünstigem Verhalten. Deshalb sollen Anbieter um die beste Versorgung der Patienten wetteifern und vom Erfolg einen Vorteil haben. Der Wettbewerb muß aber sehr präzise gesteuert werden, sonst belohnt er nicht den besten, sondern nur den frechsten oder den schlampigsten Anbieter.

Dies bedeutet aber: Ambulante und stationäre Versorgung, Pflege und Rehabilitation haben ein gemeinsames „Problem": den kranken Menschen, und sie müssen es nach Maßgabe dieser Bedürfnisse gemeinsam optimal lösen. Es darf nicht so kommen, daß alle vier sich um bestimmte Patienten schlagen und anderen gleichermaßen die kalte Schulter zeigen.

Ein vernünftiges Gesundheitssystem leitet also seine Rechtfertigung nicht aus möglichst vielen Krankheiten ab, die es dann mit Feuereifer wieder heilt, sondern aus der Gesundheit in einer Gesellschaft. Es muß auch an Prävention ein Interesse haben.

Das Management im Gesundheitswesen muß alle modernen Entwicklungen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst mit vollziehen: autonome Einheiten schaffen, die selbständig und kostenbewußt wirtschaften und den Patienten nicht als zu versorgendes Objekt, sondern als selbstbewußtes Subjekt des Gesundheitswesens begreifen.

Das Gesundheitswesen muß Qualität produzieren, die nachvollziehbar und kontrollierbar ist: Gute Ärzte etwa sollen sich freuen dürfen auf Qualitätsprüfungen, weil sie ihnen bescheinigen, daß sie etwas können - statt widerwillig mißtrauischen Schnüfflern die Tür zu öffnen, die stets nur Pfusch und Betrug wittern. Jeder Handwerker, jedes Unternehmen ist auf Qualitätsarbeit zu Recht stolz. Warum nicht auch ein Arzt oder ein Krankenhaus?

3. Wir brauchen die schrittweise Entkoppelung unserer Sozialsysteme von der alleinigen Anbindung an lebendige Arbeit.

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Schon die Debatte ab Ende der siebziger Jahre über eine sogenannte „Maschinensteuer" war eine erste Antwort auf das heute immer schärfer zutage tretende Problem. Unser Sozialsystem „belohnt" die Unternehmen, die mit möglichst geringem Beschäftigtenstand produzieren. Das ist schlicht widersinnig. Die Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung brauchen also dringend eine eigenständige Wertschöpfungskomponente.

Dies wird aber aus den beschriebenen Gründen der Erosion des Normalarbeitsverhältnisses nicht ausreichen. Steuerfinanzierte Grundsicherungselemente müssen in allen Sozialversicherungsfragen hinzukommen. Wir müssen z.B. über Mindest- und Höchstrenten nachdenken, oberhalb derer die notwendige Eigenvorsorge Platz greifen muß. Hier können neue Unternehmensbeteiligungsmodelle, Investivlöhne und die Begünstigung privater Vorsorgemodelle eine wichtige Rolle spielen. Schließlich leben wir - zumindest im Westen - in einer Erbengesellschaft, in der durchaus die materiellen Vermögensreserven für größere private Vorsorge vorhanden sind.

4. Wir brauchen eine stärkere Belastung von Energie-, Material- und Rohstoffeinsatz zur gleichzeitigen Reduzierung der Arbeitskosten. Dies hat zum einen eine gewünschte Lenkungswirkung im ökologischen Sinne. Es befördert den Übergang von einer arbeitsrationalisierenden Produktionsweise zu einer solchen der Effizienzrevolution, wie es uns Ernst Ulrich von Weizsäcker u.a. unter dem Stichwort Faktor 4 anhand vieler kluger Beispiele als realistische Perspektive vorrechnet. Und es schafft neue staatliche Einnahmen, mit denen die erodierenden Sozialsysteme gestützt werden können.

5. Wir brauchen den Abschied von vielen alten Zöpfen einer möglichen Ab- und Auskoppelung von bzw. aus den Systemen sozialer Sicherung.

Richtig betrachtet ist die Konstruktion eines Sozialstaates so etwas wie ein Gesellschaftsvertrag, in dem sich alle Teile und Gruppen der Gesellschaft darauf verständigen, daß es zum Nutzen aller ist, wenn ein bestimmtes Niveau von Armut und sozialer Ausgrenzung nicht unterschritten werden darf, wenn eine angemessene Gesundheitsversorgung für alle gewährleistet ist und niemand Angst um seinen Lebensunterhalt im Alter haben muß.

Dazu sollen und müssen alle im Rahmen ihrer Leistungsfähigkeit beitragen. Nun wissen wir alle, wie ungerecht es schon in unserem Steuersystem zugeht, das es den Vermögenden ermöglicht, sich über allerlei Schlupflöcher und Abschreibungsmodelle ihrer Steuerverpflichtung zu entziehen. In den

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Sozialsystemen ist es da nicht viel besser bestellt. Ich weiß, daß ich mir mit diesen Vorstellungen nicht überall Freunde mache, aber es muß endlich einmal mit auf den Tisch dieser Debatte:

  • Welchen Sinn macht es, daß es für Beamte ein besonderes Leistungssystem in der Krankenversicherung, die Beihilfe, gibt?

  • Welchen Sinn macht es, daß diejenigen, die noch nicht einmal Angst vor Arbeitslosigkeit haben müssen, nochmals die Beamten, nicht einmal als Ausgleich zu den Kosten der Aufwendungen für das Arbeitslosigkeitsrisiko der anderen etwas beitragen müssen?

  • Welchen Sinn macht es, daß Selbständige von den diversen Verpflichtungen der Sozialkassen generell ausgenommen sind?

  • Welchen Sinn macht es, daß auch diejenigen in großzügigster Weise von der solidarischen Versicherung profitieren, die, wie z.B. hochbezahlte Fußballprofis von ihren bisherigen Gehältern, Prämien und Werbeeinnahmen für weit längere Zeiträume selbst versorgen können und auch meist vorgesorgt haben?

  • Welchen Sinn macht es, daß zwar am unteren Ende selbst der kleinste Verdienst (über 610 DM hinaus) in die Sozialversicherungspflicht einbezogen ist, während aber oben großzügige Beitragsbemessungsgrenzen ganze Einkommensanteile aus dieser Pflicht herausnehmen?

Ich möchte nur bezüglich des Gerechtigkeitsaspekts und seiner eklatanten Verletzung für letzteren Gesichtspunkt ein Beispiel nennen: Wer ein schon hohes Jahreseinkommen von 100.000 DM hat, zahlt 17.764 DM als Höchstbeitrag zur Sozialversicherung. Diejenigen, die das Zehnfache oder noch mehr verdienen, Einkommensmillionäre also, zahlen ebenfalls - wenn überhaupt - nur diesen Höchstbetrag. Ungerechter kann man den Sozialstaat nicht finanzieren.

Nochmals: Nur wenn eine gesellschaftliche Debatte gelingt, die diese strukturellen Herausforderungen annimmt, den notwendigen Umbau des Sozialstaates gerade als Aufgabe seiner Rettung begreift, wird die augenblickliche verheerende enge Kostendebatte aufgebrochen und überwunden werden können. Sie hat möglicherweise einen weiteren höchstgefährlichen Effekt, dessen Folgen wir erst in einigen Jahren mit voller Wucht spüren werden. Für viele gerade jüngere Menschen ist überhaupt nicht mehr faßbar,

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daß die sozialstaatlichen Sicherungen zugleich Generationenverträge enthalten, die auch ihre eigene Zukunft sichern. Schwindet das Zutrauen in derartige gesellschaftliche Verabredungen, Vereinbarungen setzt sich der Trend zur ungehemmten Orientierung nur auf den eigenen Nutzen und die eigene Absicherung fort.

Gesellschaftliche Lösungen bedürfen sicherlich der Eigeninitiative, der Eigenvorsorge, aber wenn letztere zur alleinigen Maxime werden, zerfällt die gesellschaftliche Bindekraft, werden Krankheit, Alterspflegebedürftigkeit, Behinderung, Arbeitslosigkeit und Armut endgültig zum privaten Schicksal, für das weder der nächste, der Nachbar, noch eine Gemeinschaft oder die Gesellschaft Sorge aufzubringen hätten.

Es wäre der Rückfall ins 18. Jahrhundert, allerdings unter den Bedingungen des 21. - hohe Mobilitätsanforderung, Vereinzelung und die Lockerung der sozialen Bindungen. Der sozial ungesicherte Arbeitsnomade des 21. Jahrhunderts wäre gegenüber seinem Schicksalsgefährten dieser Zeit um ein Vielfaches stärker gefährdet. Er wäre wahrlich nicht zu beneiden.

Solidarität, die für derartige Einsichten unverzichtbare Ressource, stellt sich heute nicht mehr aus lebensweltlichen Milieus quasi von selbst her. Sie muß immer neu erarbeitet und entwickelt werden. Sie ist unter den heutigen gesellschaftlichen Lebensbedingungen auch nicht mehr im Gegensatz zum Eigennutz, sondern nur noch in einer Verknüpfung mit ihm entwickelbar. Gerhard Schulze, der Soziologe der „Erlebnisgesellschaft", hat die Chancen, die dazu heute gleichwohl noch bestehen, zutreffend so beschrieben:

„Arbeit teilen, um die Entstehung einer breiten Schicht sozial Deklassierter zu vermeiden, die dem relativen Frieden im Land schnell ein Ende machen könnten; das internationale Gefälle zwischen Arm und Reich zumindest nicht noch planvoll vergrößern, um chaotischen Entwicklungen vorzubeugen; die Natur schonen, um selbst zu überleben: Begründungen dieses Typs haben eine gewisse Chance, das Bewußtsein der Adressaten zu erreichen, weil sie Altruismus in den Dienst des Egoismus stellen."

Es gibt also durchaus strukturelle Umbauanforderungen an unsere Sozialsysteme, die mit den beschriebenen Prozessen der Globalisierung verknüpft sind. Aber nicht alles, was uns hier an Rezepten angeboten wird, macht auch wirklich Sinn.

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Der weltwirtschaftliche Wettbewerb, so wird in Deutschland suggeriert, sei nur zu bestehen, wenn der in langen Jahren erzielte gesellschaftspolitische Fortschritt und die Teilhabe breitester Bevölkerungsschichten an der ökonomischen Entwicklung rückgeführt werde. Es wird behauptet, im internationalen Wettbewerb sei derjenige im Vorteil, der Waren und Dienstleistungen zu den günstigsten Kosten herstellen könne, deren Höhe im wesentlichen durch Ausmaß und Umfang der nationalen Sozialsysteme bestimmt sei.

Unzulässigerweise wird dabei verglichen, was unvergleichbar ist: Volkswirtschaften und Gesellschaften auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen! Bei diesem Vergleich geben naturgemäß jene den Takt an, die zu den niedrigsten sozialen Kosten arbeiten.

Ein solcher Vergleich ist schief. Akzeptierte man ihn, so gäbe es darauf nur eine Konsequenz: ein internationaler Wettbewerb um die niedrigsten sozialen Bedingungen und Standards, eine Spirale nach unten, aus der ein Entrinnen schlechterdings unmöglich wäre. Die sozialen Verheerungen, die eine solche Entwicklung in allen Gesellschaften anrichten würde, wären vorgezeichnet.

Ein Beispiel: Angesichts der erheblichen Unterschiede im Lohnniveau zwischen Deutschland und Indonesien macht - bei ähnlicher Produktivität - ein Wettbewerb zwischen beiden Ländern bei bestimmten Produkten - etwa der Textilindustrie - keinen Sinn. Die Kostenlage ist eindeutig, der indonesische Wettbewerbsvorteil wird nie aufzuholen sein; Arbeitsplätze also, die dorthin abgewandert sind, sind verloren.

Es ist ökonomisch falsch, einen solchen Kostenwettbewerb dennoch zu versuchen oder eine solche Entwicklung durch Subventionen aufhalten zu wollen. Richtig hingegen ist es, sich aus diesem Produktionssegment zurückzuziehen und auf andere Bereiche auszuweichen oder den Wettbewerb in weniger kostenempfindliche Teilsegmente zu verlagern. Nur dies schafft Ausgleich für die verlorengegangenen Arbeitsplätze.

Die Behauptung, die Herausforderungen der Globalisierung bestehe der am ehesten, der in fast allen Produktbereichen wettbewerbsfähig sei, ist Fiktion. Globalisierung setzt vielmehr intelligente, internationale Arbeitsteilung, flexibles Reagieren auf veränderte Weltmarktbedingungen, vor allem aber eine entschlossene Förderung der Forschung und die zügige Umsetzung von Innovationen in neue marktgängige Produkte voraus.

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Ohne eine kontinuierliche Qualifizierung des Arbeitskräftepotentials und eine die Entwicklung unterstützende aktive Arbeitsmarktpolitik kann diese Herausforderung nicht bestanden werden. Genau das Gegenteil findet aber derzeit in Deutschland statt.

Wir brauchen eine Dynamisierung der sozialen Infrastruktur, nicht aber deren Zerstörung, wir brauchen eine Festigung der Sozialbeziehungen statt deren Durchlöcherung, einen Ausbau der Investitionen in Bildung und Forschung statt deren Ausdünnung. Wir brauchen eine Stärkung der Risikobereitschaft der Menschen statt deren Lähmung durch die Verbreitung von Unsicherheit.

Anhand von Fakten ist nachweisbar - und unsere Außenhandelszahlen habe ich genannt -, daß Deutschland und viele andere Industrieländer nicht auf der Verlierer-, sondern auf der Gewinnerseite der Globalisierung stehen. Denn unsere Überschüsse sind die Schulden und Defizite anderer.

Wer die Globalisierung der Weltwirtschaft als Chance begreift, der muß sie auch als Chance für die Schwellen- und Drittweltländer begreifen. Sie müssen endlich ein tragfähiges ökonomisches Fundament erreichen und sich aus langjährigen Abhängigkeiten befreien können. Mit ständig wachsenden Schulden, mit strukturell defizitären Handelsbilanzen kann das nicht gelingen.

Die Wirtschaftskraft der Schwellen- und Entwicklungsländer ist deutlich niedriger als diejenige der Industrieländer. Der wirtschaftliche Austausch zwischen beiden ist also für die Entwicklungsländer von wesentlich größerer wirtschaftlicher Bedeutung.

Die Industrieländer im Norden tragen daher eine besondere Verantwortung für die wirtschaftliche Entwicklung des Südens: Durch offene Märkte und unbeschränkten Kapitalverkehr erleichtert dieser Austausch die exportgetragene Industrialisierung der aufstrebenden Schwellen- und Entwicklungsländer und ermöglicht dort die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen und steigenden Einkommen.

Für den Süden ist der unbehinderte Zugang zu den Märkten des Nordens von wesentlich größerer Bedeutung als dessen Entwicklungshilfe. Er entspricht dem Grundsatz „Trade, not aid". Das müssen wir berücksichtigen, statt ständigen Rufen zu folgen, diese Länder wegzukonkurrieren.

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Die Förderung des Wirtschaftswachstums im Süden ist nicht nur aus entwicklungs-, sondern auch aus stabilitätspolitischen Gründen notwendig. Der politische Einfluß der bevölkerungsreichen Entwicklungsländer wird in den nächsten Jahrzehnten deutlich zunehmen. Nach westlichen Schätzungen werden bis zum Jahr 2000 bereits drei Dutzend von ihnen Massenvernichtungswaffen chemischer, biologischer, nuklearer oder gar thermonuklearer Herkunft besitzen.

Die überwiegende Mehrzahl dieser Länder verfügt, bedingt durch das rasche Bevölkerungswachstum, über eine sehr junge Bevölkerung. Wenn es nicht gelingt, die Voraussetzungen für angemessene Beschäftigung und steigende Einkommen dieser Menschen zu schaffen, kann sich aus dem Problem der großen weltweiten Einkommensunterschiede ein nicht zu unterschätzender sozialer und politischer Sprengsatz entwickeln. Was glauben wir eigentlich, wie lange diese Menschen akzeptieren, daß der Wohlstand im Norden des Erdballs wächst und sie die Verschuldung übernehmen, die dieses Wachstum erst möglich macht?

Die prinzipiell positiven ökonomischen Folgen der Globalisierung für die Entwicklungsländer zu akzeptieren, liegt also durchaus auch im Eigeninteresse der Industriestaaten - und die dazu notwendigen Anstrengungen, Umstellungen und Opfer auch.

In diesem Zusammenhang ist die Diskussion über internationale Sozialklauseln von besonderer Bedeutung. Auf der letzten Welthandelskonferenz in Singapur hat diese Frage eine zentrale Rolle gespielt.

Die Vorstellungen über das, was Sozialklauseln oder Sozialstandards sein könnten, gehen weit auseinander. Auf der einen Seite handelt es sich um Forderungen nach dem Verbot der Kinderarbeit, der Zwangsarbeit oder der Aufhebung des Verbots von gewerkschaftlicher Betätigung; auf der anderen Seite werden Mindestnormen beim Arbeitsschutz, bei der Gesundheitssicherung oder der Altersvorsorge angeführt.

Ich will klarstellen: Für mich ist Besorgnis angesagt, wenn grundlegende menschliche Werte und Rechte zu Sozialklauseln oder -Standards umdefiniert werden, über deren weltweite Einführung in internationalen Verhandlungen entschieden werden soll. Dem kann nicht energisch genug widersprochen werden.

Kinderarbeit, Verbot gewerkschaftlicher Betätigung oder Zwangsarbeit können nicht Verhandlungsgegenstand sein. Sie sind grundlegende Rechtsverstöße,

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die inakzeptabel sind, sie haben mit Sozialstandards nichts zu tun. Inwieweit der unverzichtbaren Forderung nach deren Beseitigung durch die Anwendung von Handelssanktionen Nachdruck verliehen werden sollte, ist eine andere Frage.

Die Diskussion dieser Frage in den Industriestaaten - auch in Deutschland - erscheint mir manchmal erstaunlich realitätsfern. Bestes Beispiel ist die Forderung nach dem Verbot der Kinderarbeit. Für die betroffenen Familien ist Kinderarbeit das Ergebnis existentieller, materieller Not. Sie ist der verzweifelte Versuch, dieser Not zu entrinnen.

Kein Zweifel, Kinderarbeit gehört zum Abscheulichsten, was diese Welt zu bieten hat. Das gilt erst recht für diejenigen, die daran verdienen. Der Ruf nach ihrem Verbot entlarvt sich allerdings dann als Luxusmoral, wenn er nicht zugleich von einem tragfähigen Angebot begleitet wird, wie man dieser materiellen Not auf andere Weise Herr werden kann.

Ein solches Angebot aber fehlt weitgehend. Kinderarbeit muß verboten werden, aber wer Kinderarbeit verbietet oder die Durchsetzung dieses Verbots mittels Handelssanktionen fordert, hat zugleich die Pflicht zu einer menschenwürdigen ökonomischen Alternative für die Betroffenen. Bietet er sie nicht, so macht er die Lage für die Kinder meist nur noch schlimmer. Er könnte die Folgen des Verbots dann in den einschlägigen Stadtvierteln von Bangkok, Bombay oder Manila besichtigen.

Diskutieren wir also nicht grundlegende menschliche Rechte, sondern die eigentlichen sozialen Normen und Standards. Die Forderung, sie sollten für alle Teilnehmer des internationalen Wettbewerbs verbindlich festgelegt werden, ist nicht immer frei vom Verdacht, dabei handele es sich um eine besonders geschickt getarnte Form des Protektionismus.

Es ist kein Zufall, daß das Interesse der Industriestaaten an den sozial und gesundheitlich zum Teil schlimmen Arbeits- und Produktionsbedingungen in den Entwicklungsländern merkwürdigerweise erst richtig erwacht ist, seit dort Waren und Dienstleistungen erstellt werden, die weltmarktfähig sind und die eine ernsthafte Konkurrenz bedeuten. Zu Zeiten, in denen sich die Produktpalette der Entwicklungsländer auf Rohstoffe und landwirtschaftliche Erzeugnisse beschränkte, interessierte man sich für die elenden Arbeitsbedingungen dort in den Industrieländern nur wenig.

[Seite der Druckausg.: 82 ]

Von sozialen Mindestnormen, die das Los der Menschen erleichterten, war kaum die Rede. Wir haben also den Eindruck zu entkräften, als forderten wir mit verbindlichen Sozialnormen Entscheidungen über das Lebensschicksal anderer Menschen, hätten dabei aber vor allem unser eigenes im Blick.

Tatsache ist, daß das niedrigere Lohn- und Sozialleistungsniveau in den Entwicklungs- und Schwellenländern Voraussetzung für deren Wettbewerbsfähigkeit in arbeitsintensiven Branchen ist. Es ist unmittelbarer Reflex des im Vergleich zu den Industriestaaten wesentlich niedrigeren Produktivitätsniveaus.

Die billige Arbeitskraft ist deren einziger Wettbewerbsvorteil. Fiele er weg, wäre die Wettbewerbsfähigkeit nicht mehr gegeben. Es ist daher kein Zufall, wenn viele Vertreter der Schwellen- und Entwicklungsländer sich mit Vehemenz gegen jede verbindliche Einführung von sozialen Normen oder Mindeststandards in internationalem Rahmen wehren.

Auch die Haltung der dortigen Gewerkschaften - so sie frei sind - ist eindeutig: Wir müssen unsere eigenen Mindestnormen und -standards finden und sie mit unseren eigenen gewerkschaftlichen Mitteln selbst erkämpfen oder durchsetzen, lautet die Botschaft. Dies ist übrigens nicht nur unter dem Blickwinkel gewerkschaftlicher Organisationspolitik eine nachvollziehbare, verständliche Position.

Aber dieser Weg ist auch ökonomisch vernünftig, weil er die Gefahr vermeidet, daß durch von außen gesetzte Normen die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit verloren geht. Die soziale Teilhabe aller Menschen am ökonomischen Fortschritt eines Landes kann nur im Lande selbst sichergestellt werden. Unterstützung verdienen also entsprechende Bemühungen im Land.

Ein Beispiel mag zeigen, daß die Forderung nach Verwirklichung sozialer Mindestnormen oder -standards schnell auch an soziokulturelle Grenzen stoßen kann. Die Forderung nach einer sozialen Mindestabsicherung im Alter wird meistens vor dem Hintergrund der Erfahrung der Industriestaaten mit ihren Alterssicherungssystemen und deren Finanzierungsnotwendigkeiten erhoben.

Ist bei der Forderung, dies schrittweise auch auf Entwicklungs- und Schwellenländer zu übertragen, je die Notwendigkeit kritisch hinterfragt worden?

[Seite der Druckausg.: 83 ]

Wohl zu selten, denn sonst wäre aufgefallen, daß viele dieser Länder funktionierende Altersversorgungssysteme besitzen - entsprechend ihrem kulturellen Hintergrund, entsprechend ihrer sozialen Entwicklung und ökonomischen Leistungsfähigkeit.

Die funktionierende Großfamilie etwa, die in vielen Ländern sowohl gemeinsam die Kinder erzieht als auch den Alten ein Auskommen gewährt, ist ein solches System. Bei der Bewertung, ob dies nicht vielleicht sogar eher den humanen Erwartungen an eine menschengerechte Altersversorgung entspricht als unsere naturgemäß anonymen Systeme, die die Einbindung in Gruppenverbände nicht leisten können, sollten wir selbstkritische Zurückhaltung walten lassen.

Zu oft, vor allem aber zu unkritisch legen wir bei der Forderung nach international verbindlichen sozialen Normen unsere eigenen Wertmaßstäbe an und setzen sie absolut. Soziale Sicherheit und soziale Einbindung können nur in wenigen Fällen allgemein verbindlich für alle Gesellschaften oder Kulturen festgelegt werden.

Allgemein festlegbar sind vielmehr die an „harten" Fakten orientierbaren Normen wie etwa - um ein Beispiel zu nennen - die Toleranz- und Belastungsgrenzen im gesundheitlichen Arbeitsschutz. Chlor ist überall gleich giftig, also müssen auch überall die gleichen Schutzgrenzen für die Menschen gelten.

Völlig anders ist die Lage bei den eher „weichen" sozialen Normen, wie - um wieder ein Beispiel zu nennen - Form und Umfang der Hilfe für Familien. Sollen diese „weichen" Normen den Menschen helfen, müssen sie den jeweiligen gesellschaftlichen Strukturen entsprechen. Sie müssen in den Staaten selbst entstehen und können nicht von außen vorgegeben werden.

Dies ist mein Schlußplädoyer auch für die Debatte, die ja auf dieser Konferenz noch am morgigen Vormittag vertieft zu führen sein wird: Wir sollten dem Eindruck entgegentreten, die Forderung nach internationalen Sozialstandards, erhoben im reichen Deutschland, sei nichts anderes als der Versuch, auch andere Produktionsstandorte „teurer" zu machen. Unterziehen wir uns der gewiß schwierigen Anstrengung, genau zu trennen und zu definieren, was wir meinen: allgemeine unveräußerliche Menschenrechte, sinnvolle internationale Übereinkünfte dort, wo sie auch von allen Wettbewerbern aufgrund gleicher Bedingungen erbracht werden können, und Respekt

[Seite der Druckausg.: 84 ]

vor regional und kulturell unterschiedlich gewachsenen Sozialstrukturen, die keinerlei schematische Angleichung von oben verdienen.

Internationale Sozialstandards sind, damit ich nicht mißverstanden werde, ein höchst sinnvolles Unterfangen. Aber sie können nur da segensreich Platz greifen, wo die ökonomische (manchmal auch die politische) Integration schon so weit vorangeschritten ist, daß sie gleichermaßen im Interesse der abhängig Arbeitenden wie der gerechten Chancenverteilung innerhalb dieses Wirtschaftsraums wirken können. Gerade aus diesen beiden Gründen insistieren wir Sozialdemokraten ja darauf, daß die europäische Integration kein rein ökonomischer Prozeß bleiben darf, die Europäische Union vielmehr auch zu einer europäischen Sozialunion zusammenwachsen muß.

Die Globalisierung hat die letzten Fesseln des kapitalistischen Weltmarkts gesprengt, auf vielfältige Weise alte Grenzen überwunden und aufgelöst. Die Politik ist erst langsam auf dem Weg, ihren Wirkungsgrad, ihre Reichweite der der entgrenzten Ökonomie wieder anzupassen. Zu dieser neu notwendigen politischen Gestaltung wird es auch gehören, sich auf tragfähige soziale Mindeststandards, ich betone: Mindeststandards zu verständigen, damit aus der Globalisierung kein sozialstaatlicher „Abrüstungswettlauf" wird!


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2000

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