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Lothar Späth
Sozialstaat Deutschland - positiver oder negativer Standortfaktor im Globalisierungsprozeß?


Ist der Sozialstaat ein negativer oder positiver Standortfaktor? Die Frage kann ich so nicht beantworten. Im Prinzip sehe ich jedoch in dem Sozialstaat einen positiver Standortfaktor.

Ich möchte das Thema aber von einem anderen Punkt her angehen. Ich habe den Eindruck, daß wir Deutschen bei dem Problem typisch deutsch vorgehen. Wir versuchen vor allem, das zu beeinflussen, was wir nicht beeinflussen können. Damit kommen wir nicht dazu, das zu verändern, was wir verändern können, um den Sozialstaatsgedanken zu erhalten.

Fange ich mit dem an, was wir nicht verändern können? Das ist die Funktion von Wettbewerb in der Marktwirtschaft. Globalisierung heißt in diesem Zusammenhang, daß sich die wirtschaftliche Landkarte langsam, aber sicher von der politischen ablöst. Obwohl wir das alle nicht wahrhaben wollen, passiert es ganz automatisch. Trotzdem versuchen wir etwas dagegen zu unternehmen. Wir versuchen einen geschlossenen Binnenmarkt, während GATT (Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen), WHO (Weltgesundheitsorganisation) und WTO (Welthandelsorganisation) das Ganze schon wieder auflösen. Und wenn wir gegenüber dem GATT am Ende erfolgreich sind, dann haben wir einen Binnenmarkt, und zwar den bürokratischsten in Europa.

Beispielsweise wird es dem Verband Südostasiatischer Staaten (ASEAN), der asiatisch-pazifischen wirtschaftlichen Zusammenarbeit (APEC) oder dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (NAFTA) nie gelingen, eine einheitliche Kernlänge des Karamelbonbons zu bestimmen, was wir in Europa geschafft haben. Die Verordnung ist etwa doppelt so umfassend wie die amerikanische Unabhängigkeitserklärung.

Meine Sorge ist, daß wir immer noch als Schiedsrichter die Spielregeln für das ganze Geschehen festlegen, während die anderen einfach ohne Regeln spielen. Und wenn ich montags den Sportteil aufschlage, habe ich immer Bedenken, denn über die Schiedsrichter wird nur berichtet, wenn sie schlecht

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gepfiffen haben. Die Stürmer und ihre Tore sind hingegen immer die Schlagzeilen.

Mit anderen Worten: Wir müssen aufpassen, daß wir die Globalisierung im Grunde nicht so beeinflussen wollen, daß wir sagen, wir wollen eine besondere Ökonomie entwickeln, die sozial gerecht ist. Das können wir in dieser Ökonomie nicht machen, weil diese Ökonomie und der Markt ein Prinzip sind. Das heißt jedoch nicht, daß wir nicht die soziale Gestaltung einer Gesellschaft auf sehr unterschiedliche Weise machen können. Wir müssen nur zwei Dinge wissen: Erstens ist der deutsche Sozialstaat im Wettbewerb mit dem schwedischen, mit dem französischen, mit dem spanischen, mit dem irischen, mit dem englischen und anderen Sozialmodellen. Außerdem müssen wir immer gesellschaftspolitische und keine ökonomischen Antworten auf die Herausforderungen geben.

Das muß man einfach auseinanderhalten. Dann kann man mit der Politik beginnen und muß sich überlegen, welche Gesellschaft entwickelt sich, und welche sozialen Aspekte braucht diese Gesellschaft? Wenn wir dabei die Globalisierung beobachten, dann führt sie uns, unter der Voraussetzung, wir wollen ihren Wohlstand halten, zwangsläufig von der Industrie- in die Dienstleistungsgesellschaft, ob uns das nun paßt oder nicht. Der globale Wettbewerb ist letztlich die Ablösung der nationalen Komponente in eine internationale.

Lassen Sie es mich an einem Beispiel sagen. Das „Made in Germany" können Sie vergessen. Das ist für einen Facharbeiter mental eine katastrophale Situation. Wenn ich an unsere süddeutschen Daimler-Arbeiter denke - ich denke jetzt an die Zeit, als die Autos noch auf der Straße blieben -, da haben wir Süddeutschen bei der Aussage „Mercedes ist ein deutsches Auto" vehement widersprochen und gesagt, es sei ein schwäbisches Auto. Die Badener durften beim Lkw- und Busbau noch mitmachen. Und als die ersten Mercedes in Bremen produziert wurden, sagten wir Schwaben, das könne gar nicht gut gehen, wenn die mit den großen Händen vom Schiffsbau an unsere zarten Sportwagen gehen würden, die Produktion käme bald wieder. Damals war es eine Philosophie von Daimler Benz: Der Pkw -die einzige Ausnahme war Südafrika - wird in Süddeutschland produziert und sonst nirgends. Diese Philosophie galt lange bei Daimler Benz. Heute sagt Daimler Benz, den Geländewagen machen wir in Alabama, das Swatch-Auto machen wir in Lothringen, und wenn wir in Australien einen

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Lkw verkaufen, sind die Achsen aus Brasilien, der Aufbau aus Jakarta usw. Aus Stuttgart kommt am Schluß noch das Zertifikat „ist ein Mercedes", und das ist auf tschechischem Papier gedruckt, möglicherweise gedruckt in Ungarn.

Das bedeutet schlicht, es hat überhaupt keinen Sinn, das national „einfangen" zu wollen. Es heißt dann „Made by Mercedes Benz", egal, wo auf der Welt. Nestlé ist auch dann noch ein Schweizer Konzern, wenn die in der Schweiz nichts mehr verkaufen und produzieren würden. Das würden die in der Bilanz nur hinterm Komma merken. Was glauben Sie, was Nestlé passiert, wenn die in der Schweiz keinen Nescafé mehr verkaufen? Es passiert nichts. Die produzieren in 130 Ländern und arbeiten in 130 Ländern. Ob Sie jetzt die Konzerne mögen oder nicht, die Konzerne lösen sich von den nationalen Entwicklungen total ab. Das ist das Schlimme.

Daraus erwachsen natürlich auch für den Staat enorme Friktionen. Sie können sich konkret fragen: Was macht ein deutscher Wirtschaftsminister, wenn keine Messe zu eröffnen ist? Was macht der Arme? Dabei ist es völlig gleichgültig, wer amtiert.

Entscheidend bei dieser Frage sind zwei Dinge, die zudem den Wettbewerb spannend machen: Erstens, was ist auf den internationalen Finanzmärkten los? Dabei ist es hochinteressant, daß die Entwicklung in Thailand und der Crash in Hongkong die deutschen Finanzmärkte viel stärker beeinflußt haben als der Regierungswechsel in London oder Paris. Letzteres hat genau 24 Stunden gedauert, dann war das Ereignis von den deutschen und internationalen Finanzmärkten in Europa absorbiert. Es war genausowenig Thema, wie wenn die Italiener gerade wieder keine Regierung haben. Da ist dann wenigstens die Lira besonders stabil. Daraus können wir Schlüsse ziehen.

Vor allem können wir den Schluß ziehen: Die ganzen internationalen Interessen konzentrieren sich auf die Entwicklung der Geld- und der Finanzmärkte. Ich will es konkreter ausdrücken: Was ist da mit dem Dollar passiert? Was ist gestern mittag mit dem Dow Jones passiert? Was ist heute vormittag, d.h. am Abend in Japan passiert? Alle interessieren sich inzwischen für das Thema. Sogar die öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten bringen jetzt die Börsenkurse in den Nachrichten. Das haben sie früher nie gemacht. Das hat niemanden besonders interessiert. Heute kann darauf nicht mehr verzichtet werden. Die Leute interessiert heute: Was machen die

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Zentralbanken? Was machen die Finanzminister? Was macht die G7? Was macht die G6 oder gar die G8? Der Wirtschaftsminister ist dafür in Deutschland nicht zuständig. Der ist mal auf einem Gruppenfoto zu sehen, sonst spielt er keine Rolle.

Das zweite ist immer Infrastruktur. Sie können untersuchen, was Sie wollen, Sie landen immer bei der Infrastruktur. Wenn Sie die Sozialpolitik diskutieren, landen Sie beim Arbeits- und beim Sozialminister, aber nie beim Wirtschaftsminister. Der hat dafür keine Zuständigkeit. Diskutieren Sie die Bildungspolitik, dann landen Sie bei den 16 Kultusministern. Diskutieren Sie die Hochschulpolitik, haben Sie 16 Hochschulminister und einen Bundesminister, dessen Zuständigkeiten nicht geklärt sind. Sie können den Wohnungsbau nehmen, und Sie landen beim Wohnungsbauminister. Bei der Telekommunikation haben Sie noch einen Postminister. Beim Straßenbau ist der Verkehrsminister zuständig.

Bei allen wirtschaftlichen Fragen landen Sie am Ende entweder bei einem Infrastrukturthema, oder Sie haben ein globales Thema. Sie haben jedoch nie ein nationales Thema im Sinne einer steuerbaren Wirtschaftspolitik. Deshalb ist zum Beispiel heute die ganze Keynesianische Lehre ungeeignet zur Steuerung der wirtschaftlichen Situation. Die Japaner versuchen immer noch verzweifelt, mit Konjunkturprogrammen die Wirtschaft zu stimulieren. Die internationalen Finanzmärkte freuen sich, weil es da wieder was abzuschöpfen gibt.

Dies stellt die totale Veränderung dar, von der aus wir nun Überlegungen anstellen müssen: Wie müssen wir operieren, da die Welt sich so verändert hat? Ich sage es noch mal mit anderen Worten: Im Grunde gehen wir immer noch davon aus, daß irgend jemand, der in Deutschland investieren will, sich an die deutschen Spielregeln halten muß. Wenn Sony jedoch in Europa investieren will, weil es auf den europäischen Markt will, dann machen sie ein „bench marking". Darunter verstehen sie ein Fünf-Punkte-Programm. Sie nehmen die deutschen Steuersätze, die deutschen Lohnkosten und Lohnnebenkosten, die deutsche Infrastruktur und, ganz wichtig, die deutsche Qualifikation. Daraus machen sie ein Punktesystem und setzen daneben die Engländer, die Spanier, die Iren, die Griechen und noch andere. Sie kommen dann fröhlich zu dem Ergebnis, daß nach „bench marking" der Standort Süd-Wales geeignet ist und gehen dorthin. Wenn wir die japanischen Investitionen der letzten fünf Jahre nehmen, dann war Süd-Wales im

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„bench marking" vorn, und Deutschland war hinten. Wir bekamen also keine ausländischen Investitionen.

Das Neue an dieser Situation ist: Die Konzerne sind in der Lage, mit den Spielregeln der Nationen zu spielen. Sie müssen aber nicht nach den europäischen Spielregeln spielen. Sie sind in dem europäischen Markt und können sich das Menü auswählen, in dem sie investieren wollen. Und das machen die gnadenlos.

Sie können jetzt im Handstand durch die Landschaft gehen und sagen, das ist alles unsolide und nicht in Ordnung, wir brauchen Weltspielregeln. Der Ansatz von Oskar Lafontaine ist gar nicht schlecht. Die große Frage ist nur:

Wie kriegen Sie Weltspielregeln mit den Chinesen hin?

Sie können noch etwas zweites beobachten. Sie können Spielregeln notfalls noch im Dienstleistungsbereich orten, weil dieser lokal ist. Der Dienstleistungsbereich in Ostdeutschland funktioniert im Grunde gut, da er vom Volkseinkommen und von der daraus resultierenden Nachfrage abhängig ist. Solange die Transferleistungen nach Ostdeutschland bezahlt werden können, ist dort in den Sektoren Einkauf, Wohnen, Finanzdienstleistungen und Serviceeinrichtungen alles in Ordnung. Das gilt nicht für die Produktion. Das ist auch logisch. Die Zahl der Kölner, die zum Friseur nach New York gehen, wird sich immer in Grenzen halten, obwohl der Friseur dort deutlich billiger ist. Und Sie können auch diese Konferenz nicht ohne weiteres -sagen wir mal - in Sri Lanka machen, obwohl Sie dort wahrscheinlich billigere Fazilitäten kriegen würden.

Damit wird deutlich, daß ein großer Teil der Dienstleistung, vor allem der, der personenorientiert ist - das sind immerhin noch 40% der Dienstleistungen -, auf jeden Fall lokal ist. In 20 Jahren kann das schon wieder anders aussehen. Dann kommen diese Software-Ingenieure in Bangalore, und dann haben wir wieder ein Problem. Langfristig sind jene Dienstleistungen jedoch lokal. Früher hieß es mal: „All service is local". Das gilt nicht mehr. Aber Sie können es mit Einschränkung noch sagen.

Diese lokale Wettbewerbssituation in der Dienstleistung ist vergleichbar. In der Produktion ist sie das nicht mehr. Europa wird uns nicht vor einem verschärften Wettbewerb retten, sondern die eigene Wettbewerbslage gegenüber den Asiaten, den Südamerikanern oder wem immer. Verglichen wird schlicht und einfach: Produktpreis bei uns und Importpreis aus den drei

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Komponenten Zölle, die abgebaut werden sollen, Transportkosten und Herstellung. Dies ergibt sich aus der Globalisierung, die im Grunde ein Ergebnis der Informationsgesellschaft ist. Noch vor 20 Jahren waren wir fünf Stunden beschäftigt, bis wir eine Verbindung nach Südamerika oder Südostasien hatten, und die brach nach drei Minuten zusammen. Das können wir heute noch in Obervolta nachvollziehen, aber wer geht schon nach Obervolta.

Heute rennen doch alle aus dem Büro raus und faxen das Zeug, ich faxe zurück, die ganze Welt faxt. Was glauben Sie, was unsere Kinder tun, wenn sie zu Hause am Faxgerät sind. Die Kleinen faxen sich die Spickzettel und die Größeren die Liebeserklärungen. Die ganze Welt faxt. In meiner Jugend war Faxen noch was anderes. Da hat der „Alte" gesagt, jetzt hört es mit den Faxen auf.

Nehmen wir beispielsweise diesen Bereich. Es heißt eben, wenn wir überhaupt keine Informationsproblematik mehr haben, dann haben wir die ganze Welt. Es kommt zur Arbeitsteilung, auf die wir uns immer verlassen haben. Wir haben früher immer gesagt, die Industrienationen, wir Europäer, Amerikaner und Japaner, wir bauen die anspruchsvollen Dinge, und die anderen machen eben das andere, weil sie entweder die Rohstoffe haben oder sie machen Billiglohnschichten. Das war ganz in Ordnung. Das haben wir noch bei der Uhrenindustrie, bei der Fotoindustrie und bei der Textilindustrie verkraftet. Aber jetzt passiert das in allen industriellen Bereichen.

Wir Deutschen wären im Bereich der Innovation eigentlich recht gut. Doch wir haben uns in den letzten 20 Jahren nicht zu Neuerungen durchgerungen. Vor lauter Angst vor dem technischen Fortschritt haben wir viele Dinge verdrängt. Statt dessen machen wir jetzt Wettbewerbe für Bioregionen und holen uns da ein paar Ingenieure aus Amerika zurück, die wir vor 20 Jahren vertrieben haben. Das ist ein ganz interessanter Vorgang.

In Wirklichkeit können wir in dem Bereich der Produktion, im Gegensatz zur Dienstleistung, nur mit drei Strategien reagieren. Erstens können wir Produkte herstellen, die außer uns niemand kann. Dann können wir unser Niveau halten, weil wir letztlich jeden Preis dafür bekommen können.

Zweitens können wir mit immer weniger Leuten immer mehr produzieren. Die Autoindustrie hat jedoch ihre Wettbewerbsfähigkeit gegen Japan nicht allein dadurch erzielt, daß sie den Lohnkostenanteil an den Produktionskosten gesenkt hat. Deshalb ist diese Strategie nicht ausreichend. Es handelt

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sich dabei nicht um die Rotstiftthese. Sie können vier Sparprogramme machen in jedem Betrieb, das fünfte macht in der Regel der Konkursverwalter. Denn wenn Sie nach vier Sparprogrammen immer noch keine neuen Produkte und Ideen haben, sind Sie weg vom Fenster. So einfach ist das.

Drittens können wir durch die Verlagerung der Produktion ins Ausland die Arbeitsteilung nutzen. Heute können Chips in Malaysia und irgendwo sonst produziert werden. Da Chips ein Gut mit einer hohen Wertschöpfung und mit geringen Transportkosten sind, können wir ein Kilo Chips von der Siemens-Fabrik in Singapur nach Frankfurt für DM 4,80 über Nacht transportieren. Es gehen jede Nacht drei Jumbos von Singapur nach Frankfurt. Hauptinhalt sind deutsche Touristen, aber dazwischen gibt es noch Platz für Chips. Und ein Kilo Chips kostet DM 4,80 Luftfracht. Wenn wir die Chips nicht anschließend mit der Bundespost nach Köln befördern, kommen wir gut zurecht, zeitlich und preislich.

Das ist die Arbeitsteilung. Gegen diese Entwicklung können wir relativ wenig tun. Das wird dahin führen, daß sich die Situation, wie wir sie heute in Ostdeutschland haben, auf Gesamtdeutschland ausbreiten wird. Wir sind gewissermaßen die „Minenhunde" für Westdeutschland. Deshalb freuen sich die Wessis immer noch über Dinge bei den Ossis. Die werden sich wundern, wie ungemütlich die Situation in Westdeutschland noch werden wird. Wir haben es schon hinter uns. Wir haben schon 80% der Menschen in der Dienstleistung. Dies geschah nicht, weil die alle dort hinwollten, sondern weil es in der Produktion die Arbeitsplätze nicht mehr gibt. Dort wird sich nicht der Osten dem Westen anpassen, sondern der Westen dem Osten. Die Situation haben die Westdeutschen spätestens in zehn Jahren. Sie werden höchstens noch 20% der Menschen in der Produktion haben.

Im Gegensatz dazu kann die Wertschöpfung in der Produktion gewaltig steigen. Wir erleben die Abkopplung der Arbeitsplätze vom Wirtschaftswachstum, so wie sich vor 20 Jahren die Energiebedürfnisse vom Wirtschaftswachstum abgekoppelt haben. Das ist unser spannendstes Phänomen. Vor 20 Jahren haben wir als Politiker in den Parlamenten dauernd die Lichter ausgehen lassen, wenn keine neuen Kernkraftwerke gebaut wurden. Es sind keine mehr gebaut worden, und die Lichter brennen immer noch. Das heißt, wir haben gelernt, daß wir eine Steigerung des Sozialprodukts mit immer weniger Energiewachstum schaffen.

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Jetzt kommt die nächste Runde. Jetzt kriegen wir immer mehr Sozialprodukt mit immer weniger Leuten. Und wenn der Herr von Pierer vor kurzem gesagt hat, Siemens hat 3% Produktivitätsfortschritt pro Jahr, wir brauchen 7, Endziel sind 15, dann heißt meine Antwort darauf: Dann werden wir in Kürze 4 bis 5% Wachstum haben ohne ein Wachstum an Arbeitsplätzen. So einfach ist das. Und dagegen können wir nichts tun. Wie sollen wir denn reagieren, wenn wir unseren Lebensstandard halten wollen gegen Billiglohnländer?

Übrigens tritt nun alles das ein, was wir früher mal in Dritte-Welt-Diskussionen angeführt haben. Wir erinnern uns nur nicht mehr gern daran. Da haben wir immer gesagt, die arme Dritte Welt. Wir müssen endlich zugunsten der Dritten Welt auf was verzichten. Jetzt holen die es sich, und wir sind auch sauer. Die vielen Schwellenländer waren alle mal arme Entwicklungsländer, denen wir helfen wollten. Jetzt helfen die sich selber. Die haben nicht gewartet, bis unsere Hilfe kam. Sie machen das, was die Deutschen in der Nachkriegszeit unter dem Schutz der Erhardschen Vorschriften machten. Ludwig Erhard hat nicht die Konvertibilität der D-Mark eingeführt, sondern er hat die D-Mark dauernd abgewertet, damit wir bei DM 4,20 pro Dollar immer exportieren konnten.

Dieser Prozeß läuft nun ab. Davor können wir uns nicht schützen. Manchmal habe ich das Gefühl, wir sind wie die Tiere im Zoo. Wir haben uns an den Wärter und an das Futter gewöhnt. Wir haben aber immer die panische Angst, daß draußen die wilden Tiere um den Zoo rennen und müssen deshalb dauernd den Zoo gegen diese Tiere sichern. Aber irgendwann kommen die über den Zaun, und dann wird es verdammt ungemütlich.

Wir müssen uns über eine Gesellschaft Gedanken machen, die ihren Platz hat im internationalen Wettbewerb und dort auf einem hohen Standard bestehen kann. Die Frage ist: Wie geht das? Die Antwort lautet zunächst einmal nicht, daß wir hoffen, daß die Wertschöpfung in der Produktion nicht so gewaltig steigt, damit nicht zu viele Produktionsarbeitsplätze vernichtet werden. Durch die Wertschöpfung in der Produktion bekommen wir eine Auslese, die nur wettbewerbsfähige Unternehmen übrigläßt.

Die Praxis zeigt das schon. Die Industrien, die wir verteidigt haben in den neuen Bundesländern, sind inzwischen alle weg. Wir konnten sie nicht lange genug verteidigen, weil sich die Lohnstückkosten auf 130% des Westniveaus

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beliefen. Das ganze System erwies sich als nicht tauglich. Das ist jetzt unsere Quittung, die wir im Osten kriegen. Und die Quittung im Westen läuft in eine gleiche Richtung. Da soll sich niemand etwas vormachen. Wir können nur die Arbeitsplätze halten, die wir im internationalen Wettbewerb langfristig halten können. Wir können nur Anpassungsprozesse unterstützen.

Das zeigt sich auch in der ganzen Subventionsthematik. Im Osten haben wir im Grunde etwas ganz Falsches gemacht. Wir haben das Geld nicht als Risikokapital an neue und junge Unternehmer ausgegeben, sondern wir haben die Altersversorgung des Westens im Osten versucht. Wir haben doch inzwischen mehr Eigentumswohnungsbesitzer aus dem Westen als Besucher in den neuen Bundesländern. Die meisten müssen ihren Steuerberater fragen, wo ihre Wohnung liegt. Und jetzt funktioniert es natürlich nicht, weil die Ossis die Wohnungen nicht bezahlen können, und die Wessis sie sich nicht gegenseitig vermieten können, weil sie alle im Westen schon eine haben.

Insoweit ist das ein Lernprozeß. Die Deutschen lernen zum ersten Mal, daß Immobilienkapital Risikokapital sein kann.

Also konzentrieren wir uns auf die Frage: Welche neuen Dinge können wir machen? Dabei brauchen wir nur in die Fabriken schauen. Früher konnten wir in einer Autofabrik kaum die Maschinen sehen vor lauter Leuten, die da arbeiteten. Heute finden wir in dem neuen Motorenwerk von Daimler Benz in Untertürkheim kaum mehr als ein paar Leute zwischen den Robotern. Das heißt, wir können die Produktion halten, aber mit einer ganz anderen Wertschöpfungskette. Und diese heißt technische Innovation. Es heißt aber auch, wir werden in diesem Wettbewerb ein Arbeitsplatzproblem behalten. Und das können wir durch Neuverteilung der Arbeit nach Produktionsgesichtspunkten nicht lösen. Ich bin jedoch sehr für flexible Arbeitszeiten und für völlig neue Arbeitsformen.

Aber da können wir von den Holländern was lernen. Dort haben sie ein Konsensmodell für diesen Prozeß. Das amerikanische Modell, das wir alle ein bißchen kritisch ansehen, ist von einer ganz anderen Philosophie aufgebaut, der der reinen Wettbewerbsphilosophie, während wir gewissermaßen die Wohlfahrtsstaatsphilosophie im Kapitalismus haben. Die Japaner haben so was wie eine Konkordanzphilosophie.

Jetzt müssen wir uns doch mit der Frage auseinandersetzen, wie können wir darauf reagieren? Das heißt, wir müssen unsere Systeme korrigieren

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und diesen Prozessen anpassen. Die Dienstleistung hat hier flexiblere Voraussetzungen. Ich will es an einem steuerlichen Beispiel verdeutlichen: Während wir in der Steuerdiskussion der Frage nach der Besteuerung des Weges von der Arbeit zur Wohnung und umgekehrt nachgehen, gibt es eine immer größere Zahl von Menschen, bei denen wir diskutieren, ob die überhaupt noch Büros brauchen.

Wenn wir heute die neuen Arbeitsplatzwachstumsbereiche in der Softwareindustrie nehmen und mit diesen jungen Software-Leuten diskutieren, dann können wir nur mit der Sprache reden, die wir in der Nachkriegszeit gelernt haben. Das Thema „flexible Arbeitszeit" ist für die das normalste der Welt. Das Thema „Vermögensbeteiligung" oder „Investivlohn" findet für die ganz praktisch statt.

„Ich habe jetzt gerade mit zwei 26-jährigen eine Firma gegründet, weil mein 30-jähriger Chef des Systemhauses gesagt hat, die Sache sei zu kompliziert, er sei für die Lösung zu alt. 30 Jahre alt und er sagt, er packe es nicht mehr. Da müsse ich ganz junge 26-, 25-jährige suchen, und hat mir auch gleich gesagt, wo ich die finde: beim Fraunhofer-lnstitut in Stuttgart. Da habe ich mir zwei geholt, habe denen ein tolles Gehalt geboten, habe gesagt, „kommt. Ihr steigt bei mir ein". Dann haben die gesagt, „uns kannst Du überhaupt nicht bezahlen. Du kannst mit uns eine Firma gründen, Du 50, wir 50, und Du wirst reich dabei, wir versprechen Dir das." Es geht um Engineering im Internet, also die Firewalls aufzubauen für Intranet-Lösungen. Die Ingenieure, die in Singapur Chip-Fabriken bauen, die müssen die Software aus Amerika einbauen, die müssen die Ingenieurleistungen aus Stuttgart holen, und dann müssen sie in Jena das Ganze zusammenbasteln, das geht nur über Internet, und dort über spezielle Systeme. Die haben gesagt, „machen wir Dir. Aber nur so, daß wir machen können, was wir wollen. Du hast 50%, ist in Ordnung. Uns freut das auch, wenn wir sagen können, da ist der Dicke in Jena, der hat noch ein bißchen Geld. Aber das Business machen wir. Und die 50% brauchen wir nicht für uns. Wir räumen das ganze Institut leer, wenn wir gut sind. Und jeder, der kommt, kriegt 2%." Mit denen brauchen Sie nicht über Investivlohn reden. Das ist Bedingung für deren Eintritt. Dort entstehen völlig neue Strukturen.

Die bereiten sich auf ihre Karriere vor, indem sie zwei Jahre dort arbeiten, dann machen sie sich ein Stück selbständig, dann machen sie wieder was nebenher und dann drei Sachen gleichzeitig. Ich finde, das Spannendste ist,

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wenn ich mit Journalisten über das Problem diskutiere und die mir immer sagen, „ja, aber so geht es doch nicht." Und ich sage, „wie ist denn das bei Ihnen?" Ich kenne immer weniger Journalisten, die lebenslange Anstellungen haben bei ihrer Zeitung oder bei ihrer Anstalt, sondern die korrespondieren für fünf Blätter und machen nebenher noch sechs andere Dinge. Sie sind längst Privatunternehmer.

Die sollen alle mit 610-Mark-Jobs eingefangen werden? Ich wünsche viel Vergnügen. Und die sollen alle in eine Sozialversicherung gebracht werden, die jetzt solch hohe Beiträge hat? Was an der ganzen Hochrechnung schon nicht stimmt, ist, daß in 10 bis 15 Jahren höchstens noch jeder zweite Arbeitsplatz tarifmäßig normal besetzt ist. Die anderen Arbeitsplätze sind diesem System nicht mehr zugänglich. Das muß nicht der Weltuntergang sein. Die nächste Generation wird einen Mix haben. Es wird schwer, Arbeit und Freizeit zu trennen, gerade in einer Zeit, in der ein Viertel der Arbeitszeit Weiterbildung ist. Wir müssen unsere Universitäten und unsere Schulen ändern. Das ist schwer, da die Professoren den Studenten noch Dinge zumuten, die sie gar nicht mehr brauchen, weil sie im Internet das abrufen, was der Professor dort nicht rausholen kann. Ähnlich ist es in den Schulklassen, in denen außer dem Lehrer inzwischen alle den Computer beherrschen. Schauen wir uns doch mal unsere Kids an. Wenn wir mit ihnen ein technisches Problem diskutieren, das wir allein nicht bewältigen, dann sagen unsere Kinder, „das bringen wir für Dich in Ordnung." Bei einem Videospiel mit unseren Kindern scheiden wir nach der ersten Runde aus, weil es da richtig ernst wird. Für diese Generation wollen wir unser System hochrechnen. Das halte ich für den prinzipiellen Fehler auch im Bereich des Sozialstaats.

Um zu verdeutlichen, was passiert, wenn wir 80% Dienstleistung haben, will ich ein ganz aggressives und böses Beispiel nehmen. Ich will das ansprechen, weil ich will, daß wir den Sozialstaat erhalten, aber eine neue Variante des Sozialstaats fordern. Dieser neue Sozialstaat muß geboren werden aus Ideen, die aus dieser neuen Gesellschaft, die zwangsläufig entsteht, kommen. Wir können nicht sagen, wir akzeptieren die neue Gesellschaft nicht, weil unsere alten Strukturen stimmen müssen.

Wir erleben beim Flächentarifvertrag und seiner Diskussion die ganze Bandbreite des Problems. Was machen wir denn jetzt, wenn die IG Textil in der IG Metall aufgegangen ist? Die kriegen nicht den gleichen Flächentarifvertrag

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In der fraktalen Fabrik jedoch kommt der Textilarbeiter mit dem Autositz, den er im Textilbereich gefertigt hat, und muß ihn dann selber, entsprechend gemachter Verträge in das Auto einbauen. Dies ist zum Beispiel beim Swatch-Auto der Fall. Der Autobauer und der Sitzbauer montieren miteinander den Sitz ein. Wenn der Metaller dreht, ist es Metallflächentarif und wenn der Textiler dreht, handelt es sich um den Textilflächentarif. Es ist die gleiche Gewerkschaft mit zwei Tarifen. Der Mannesmann-Mobilfunker hingegen ist in der IG Metall, weil sein Vater Röhren gebaut hat, während sein Telekom-Kollege in der Postgewerkschaft ist. An diesen Beispielen will ich sagen, wie sich das alles auflöst.

Das Ergebnis haben Sie jetzt schon in Ostdeutschland. Dort werden Tarifsituationen, wie wir sie heute haben, zur „virtual reality". Die Ostkrankenkassen sind bankrott, weil sie die einzigen waren, die auf dem Tarif ihre Einnahmen hochgerechnet haben. Sie haben gar nicht gemerkt, daß fast niemand Tarif bezahlt. Wir Unternehmer tun das aber nicht, weil wir bösartig sind, sondern weil wir uns einfach hinhocken und zusammen mit den Betriebsräten überlegen, wie wir das Ganze überstehen. Wir machen ein ganz offenes System. Dieses oder jenes Ergebnis wollen wir erreichen, und wenn es besser wird, teilen wir es. Die Hälfte vom besseren Ergebnis kriegt der Arbeitnehmer, die andere Hälfte kriegt die Firma.

Tausende von kleinen Firmen sind in der Software-Industrie entstanden. Hierbei handelt es sich um den Mittelstand von morgen. Überall sind Vier- und Fünf-Mann-Betriebe entstanden. Im Unterschied dazu tut sich an der Börse, abgesehen von SAP, nicht viel in Hinblick auf neue Firmen. Es gibt kein Grundig und es gibt kein Nixdorf mehr. Die ganzen Nachkriegsunternehmer, zum Beispiel Bauknecht, sind aus der Produktion verschwunden. Und außer der SAP haben wir im Gegensatz zu anderen Ländern fast keine neuen Unternehmen. Das kommt, weil wir im Grunde unser Geld in Immobilien stecken. Wir benehmen uns wie eine Rentner- und Rentiersgesellschaft und glauben, unsere Kinder wollen keine moderne Gesellschaft erben, sondern Eigentumswohnungen. Das ist eine Manie bei den Deutschen. Deshalb haben wir auch kein Risikokapital. Da beschimpfen wir immer die Banken. Das verstehe ich überhaupt nicht.

Vor kurzem hat mir ein junger Unternehmer gesagt, „wieso kriege ich kein Risikokapital? Mein Banker gibt es mir nicht. Ich habe mit dem schon dreimal gestritten." Da habe ich ihm gesagt, „was glaubst Du, warum der nicht

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Unternehmer, sondern Banker geworden ist. Wenn der Dich wirklich verstehen würde, wäre der auch Unternehmer geworden."

Das meiste Risikokapital müßte heute von wohlhabenden Privatleuten kommen. Aber die bauen lieber Eigentumswohnungen, die leerstehen, dann können sie hinfahren und gucken, ob sie noch da sind.

Der Staat richtet dabei seine ganze Steuerpolitik auf die Substanzsicherung aus. Damit entgehen wir möglicherweise dem Rentendilemma, aber wir entgehen nicht dem Problem, daß eine moderne Gesellschaft ihre Kräfte auf die Neuschaffung von Arbeitsplätzen fokussieren muß. Um Arbeitsplätze neu zu schaffen, brauchen wir zuerst neue Kapitalinvestitionen. Kapital bekommt man, wenn das Ergebnis stimmt. Es hat noch nie so viel Kapital in Deutschland gegeben wie heute. Wir haben neun Billionen DM Privatkapital. Vermögensbildung hatten wir noch nie, haben wir auch früher nie gebraucht. Wir hatten zu gegebener Zeit immer einen Weltkrieg, und da war die Vermögensbildung wieder neu zu beginnen.

Jetzt haben wir 500.000 Arbeitsplätze in der Vermögensverwaltung. Die verwalten die neue Armut in Deutschland. Die schaffen übrigens alle abends. Da dringen sie in die Wohnungen ein und versuchen die Leute zu überreden, Schiffsbeteiligungen zu kaufen. Und der Staat, der den ganzen Mist angerichtet hat, beschimpft jetzt die Leute mit Steuerschlupflöchern. Die haben das doch alles gemacht, weil der Staat gesagt hat, „steck Dein Geld dort rein, brauchst keine Steuern bezahlen." Das haben die dann gemacht. Und jetzt sagt der Staat, „was macht Ihr eigentlich? Ist ja eine Unverschämtheit. Und zwar quer Beet."

Und jetzt kommen die sozialpolitischen Ansätze: Wir brauchen flexiblere Möglichkeiten für die soziale Sicherung. Wir brauchen nicht mehr alles kollektiv zu sichern. Wir müssen die Besserverdienenden aus den kollektiven Systemen rausdrängen, weil sonst die kollektiven Systeme platzen. Aber das klappt nicht.

Wir können trotzdem eine Grundsicherung einführen. Wir können die Leute, die jetzt Sicherungsansprüche haben, absichern. Wir müssen das durch eine Steuerumlage oder sonstwie finanzieren. Der Staat muß dafür haften. Wir müssen zudem Systeme einführen, in denen die Schwachen, nicht aber die gesamte Gesellschaft und der Verwaltungsapparat gesichert werden. Die gesamte Gesellschaft konnten wir in den Jahren 1949, 1959 oder 1969

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sichern. Das ging aber nicht mehr in unserer Gesellschaft von 1979, in der 20% der Erbengeneration im Grunde nicht mehr einkommensabhängig arbeiten muß. Wir können an der Erwerbsarbeit nicht mehr alles aufbauen. Die abhängige Erwerbsarbeit hat sich in ganz neue Formen verästelt.

Der meiner Meinung nach entscheidende Punkt ist, daß wir den Arbeitsbegriff verändern müssen. Wir werden die Arbeitslosensituation mit keinem Konjunktur- und keinem Beschäftigungsprogramm lösen können, außer wir schaffen andere Formen der Beschäftigung. Dabei handelt es sich ebenfalls um Beschäftigungsgesellschaften. Die traditionelle Erwerbsarbeit verändert sich in andere Formen von Arbeit, zum Beispiel in Verantwortungsarbeit. Mir gefällt der Begriff gut. In der Verantwortungsarbeit können Leute untergebracht werden, die im harten ersten Arbeitsmarkt nicht mehr beschäftigt werden können, die jedoch anderweitig beschäftigt werden sollten. Es kann sich auch um solche Leute handeln, die auf das Geld nicht angewiesen sind und sich der Gemeinschaft zuwenden.

Das ist für mich ein hochinteressantes Thema. Es gibt viele Leute, die auf das Geld nicht angewiesen sind, aus Prestige aber gerne etwas tun würden. Solange es der Gesellschaft nicht schadet, beispielsweise im Sozialbereich, sollen sie doch umsonst arbeiten. Wir brauchen dann aber ein neues Stiftungsrecht. Ich will es kritisch ausdrücken. Das Beste, was ich bisher zum Stiftungsrecht gehört habe, war auf einer großen Tagung der Grünen. Da ist wirklich gesagt worden, man solle den Leuten Angebote machen anstatt ihnen dauernd das Geld über Steuern abzunehmen und sie dann verärgert zurückzulassen. Die Leute sind bereit, was zu tun. Die 100 Millionen DM für den Oderbruch sind eine typische Erscheinung. Dieselben Leute, die sich dauernd wegen Überbesteuerung beklagen, sind bereit, Reichtum auszugeben, wenn ihnen etwas Sinnvolles angeboten wird. Das heißt - ich gehe noch ein Stück weiter -, wir brauchen ein modernes, intelligentes System der Reichtumsvernichtung.

Früher ist den Leuten mit 60 Jahren eingefallen, was sie alles Ethisches tun wollten in ihrem Leben. Sie sind nicht dazu gekommen. Sie haben dann ein Testament hinterlassen und ihren 12 Kindern neben dem Vermögen auch dieses ethische Erbe übergeben. Jetzt sterben die Leute mit 90. Sie haben nur noch zwei Kinder, an die sie vererben. Diese haben ihre eigene Vermögensbildung mit 60 Jahren abgeschlossen und übernehmen nun das neue Vermögen. Es kommt zu einer riesigen Vermögensauftürmung, die uns nicht

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die Chance gibt, das Geld etwa in Dienstleistung usw. auszugeben. Die 60jährigen sollen doch ihre ethischen Dinge selber tun. Mit 60 Jahren scheiden sie aus dem Globalisierungswettbewerb aus. Dafür sind sie sowieso zu alt. Wir verdrängen die Alten und sagen, die müssen raus, damit die Jungen rein können. Es gibt niemanden, der unglücklicher ist, als der 60-jährige. Im Osten sehen wir, daß dort die 52-jährigen schon jeden Morgen entscheiden dürfen, ob sie Spazierengehen oder nicht. Das ist deren einzige Tagesentscheidung. Dort sehen wir, was mit einer Gesellschaft passiert, bei der eine ganze gesunde Generation aus der Arbeit ausgeschlossen wird.

Das ist nicht nur eine Frage zwischen Alt und Jung. Es ist auch eine Frage, ob wir die Leute nicht brauchen können. Im Osten zum Beispiel ist die Höhe der Renten nicht das entscheidende Thema, sondern die Frage, braucht sie keiner mehr? Was wir allein im Aktions- und Stiftungsrecht für diese älteren Menschen alles organisieren können. Die sollen doch ihr Geld intelligent ausgeben für eine Kunststiftung oder eine Sozialstiftung. Je älter die betuchten Menschen werden, desto mehr sind sie darauf aus, ihren Namen zu finden nach der Grablegung. Nutzen wir das doch! Wir brauchen den Leuten nur eine Chance zu geben, bei der sie sich durch ihren Geldbeutel verewigen können und dadurch Geld unter die Leute bringen. Ich nenne das als Arbeitstitel „intelligente Reichtumsvernichtung". Darüber müssen wir uns Gedanken machen. Das kann eine wichtige Maßnahme sein. Daraus können wir eine Menge Beschäftigung kreieren, etwa im sozialen Bereich.

Die alte Oma, die zum Arzt geht, nicht weil sie krank ist, sondern weil sie reden will, braucht von der Ortskrankenkasse keinen Psychologen gestellt bekommen, sondern die braucht einen Nachbarn, der vorbeikommt, sie in den Arm nimmt und sagt, „Oma, gell, ..."

Ich behaupte, die neue Sozialpolitik muß an der alten Idee der echten Solidarität aufbauen und nicht an der Kampfsolidarität und an Besitzständen. Wir haben inzwischen den Solidaritätsgesichtspunkt falsch entwickelt. Unter Solidarität verstehen wir immer mehr Gruppensolidarität im Kampf um die Anteile am Sozialprodukt und nicht mehr die menschliche Solidarität, bei der der Reiche dem Armen hilft, und zwar freiwillig. Die Zuwendung zur Gemeinschaft muß da sein.

Wir haben im Grundgesetz von 1949 die Leute vor dem Staat gesichert. Jetzt müssen wir langsam den Staat vor den Egoisten sichern. Der Staat

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kann aber nicht vor den Egoisten und der Ausbeutung gesichert werden, indem wir ununterbrochen entweder an der Steuerschraube oder an der Zwangsschraube drehen. Die Menschen brauchen mehr Freiheit, weil sie immer flexibler werden müssen, da die Gesellschaft nicht mehr die großen Strukturen hat. Diese Menschen müssen wir einfangen, indem wir ihnen intelligente Vorschläge machen, wie sie Solidarität verwirklichen können. Ich glaube, die Menschen sind dafür aufgeschlossen.

Ich glaube, daß unsere bisherigen Ansätze zum Teil die Fortschreibung der Produktionsgesellschaft der Nachkriegszeit sind. Damit waren wir glücklich. Es war ja eine wahnsinnig stabile Situation. Wir konnten im Grunde Gerechtigkeitselemente durch Verteilung einführen, ohne daß darunter das System zusammenbrach.

Jetzt haben wir durch Überalterung einen Zustand erreicht, in dem wir die bisherigen Standards, die wachstumsbedingt sind und Wachstumsraten erfordern, nicht mehr halten können. Jetzt wollen wir entweder unser System, so wie es ist, fortschreiben oder wir beklagen uns über den Zusammenbruch der Menschlichkeit, der Solidarität und der Sozialpolitik.

Ich finde, wir sollten den Menschen die Gesellschaft beschreiben, die entsteht. Daraus können wir ableiten, mit welchen neuen Sozialsystemen wir einen modernen Sozialstaat machen.

Auch der härteste Marktwirtschaftler hat inzwischen begriffen, daß die Marktwirtschaft keine ethische Funktion hat, sondern ein Funktionsprinzip ist. Das erfordert Korrekturbedarf.

Ich habe mich vor kurzem mit einem Unternehmer über Globalisierung unterhalten. Der hat mir dann leidenschaftlich gesagt, „wir müssen halt jetzt auf alles verzichten, was uns Wettbewerbsnachteile bringt". Und auf meine Frage, wie er denn das als Christ verstehe - er ist ein wirklich ernster Christ, der am Sonntag in seine Kirche
geht -, müßten wir den Sonntag abschaffen. Gegenüber Singapur ist der Sonntag doch ein deutlicher Wettbewerbsnachteil. Da hat er gesagt, „das natürlich nicht." Und dann hat er mir erzählt, er fliege erst am Montag nach Amerika, weil seine Familie ihn gebeten hat, dazubleiben. Darauf habe ich zu ihm gesagt, wieso ließe er sich nicht scheiden und jage seine Kinder aus dem Haus. Er hätte dann einen Wettbewerbsnachteil weg, denn am Montag kann es passieren, daß er den

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Auftrag nicht mehr bekommt, weil am Sonntag einer aus Singapur käme, der keine Familie hat.

An dem Beispiel wird nur deutlich, daß wir darüber diskutieren müssen, was die nicht-materiellen, nicht-marktmäßigen Grundlagen unserer Gesellschaft sind. Und dann müssen wir darüber diskutieren, wie wir diese besonderen Fähigkeiten, die unsere Kultur hervorbringt, nutzen können. Die christliche Kultur ist kreativer als die asiatische und ist auch stabiler als das „gambling" der Amerikaner. Wir müssen aus den Vor- und Nachteilen unserer ethischen Konzeption die Vorteile nutzen, damit wir die vordergründigen Nachteile in Kauf nehmen können. Solange eine im Grunde genommen kreative Nation wie die deutsche eine langweilig lamentierende Besitzstandsgeneration ist, wird sie die Kreativität nicht aufbringen, um flexibel auf Änderungen zu reagieren. Dies ist aber notwendig, um an der Spitze des Wohlstands zu bleiben und trotzdem soziale Gerechtigkeit verwirklichen zu können. Das ist meiner Meinung nach das Zentralthema der Globalisierung.

Vor der Globalisierung bewahrt uns niemand. Die daraus folgenden Probleme müssen wir selber lösen. Dies geht jedoch nicht mit Wirtschaftspolitik und dem dauernden Einklagen: Wir wollen uns nicht bewegen, haltet uns unseren Zoo von wilden Tieren sauber. Je länger ich in der Wirtschaft bin, desto deutlicher wird mir das. Statt dessen brauchen wir eine Gesellschaftspolitik, aber eine Gesellschaftspolitik, die Zukunftsentwürfe, die Visionen hat.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2000

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