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Wolfgang Clement
Erfordert die Globalisierung eine neue Form des Sozialstaates?


I.

Die „Globalisierung" ist kein Phänomen, das einer solchen Dämonisierung oder Glorifizierung bedürfte, wie wir es heutzutage gelegentlich erleben.

Eine liberale Wochenzeitung hat vor wenigen Tagen darauf hingewiesen, daß die Globalisierung vor 500 Jahren begann, als der Portugiese Vasco da Gama mit einer kleinen Flotte die Südspitze Afrikas umsegelte. Globalisierung ist also mitnichten neu.

Aber die Globalisierung hat eine neue Qualität erreicht. Neu ist die zunehmende Geschwindigkeit, ihre größere ökonomische Breite und die Tatsache, daß mittlerweile nahezu alle Regionen der Welt von diesem Prozeß erfaßt sind. Und es ist sicherlich richtig, daß sich der Prozeß der Globalisierung im Zuge diverser Liberalisierungen der Güter- und Finanzmärkte seit den siebziger Jahren erheblich beschleunigt hat.

Dennoch: Allein in der Globalisierung die Ursache und den Motor der gegenwärtigen gesellschaftlichen Veränderungen (und Verunsicherungen) zu sehen, greift zu kurz. Denn parallel zur Globalisierung, aber auch im steten Wechselspiel mit ihr, haben sich wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen vollzogen, die ich nur stichwortartig umreißen möchte:

  • die Digitalisierung und die informationstechnische Revolution, die unser Leben vermutlich ebenso stark umgestalten wird wie die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert;

  • die Flexibilisierung der industriellen Produktion und des Arbeitsmarktes;

  • der Trend zur Individualisierung.

Es ist dieses Ensemble von Entwicklungen, nicht etwa die Globalisierung allein, das dem Sozialstaat deutscher Prägung zu schaffen macht. Es gilt, auf diese gesellschaftlichen Veränderungen, die wir übrigens alle gewollt haben, Antworten zu finden und nicht wie ein Kaninchen auf die Schlange der Globalisierung zu starren.

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Mein niederländischer Kollege, Herr Minister Melkert, hat dargestellt, welche Antworten die Niederlande auf diese Herausforderungen gefunden haben. Aus der Perspektive des Makroökonomen mögen Vorbehalte angebracht und manche Frage offen sein, die den Glanz des niederländischen Weges ein wenig verblassen lassen kann.

Doch das halte ich nicht für entscheidend. Ich halte auch wenig davon, die Niederlande zum „Modell" hochzustilisieren; „Modelle" suggerieren Gültigkeit über Zeit und nationalen Raum hinaus. Es geht darum, politische Strategien zu entwickeln, mit denen sich die beschriebenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen gestalten lassen, Strategien, die ökonomisch tragfähig sind, in die nationale Kultur passen und im politischen Prozeß umsetzbar sein müssen, wenn sie Erfolg haben wollen. Ich glaube, diese schwierige politische Aufgabe haben die Niederlande seit 1982 bravourös gemeistert.

II.

Erfordern die Globalisierung und die mit ihr verbundenen Prozesse nun eine neue Form unseres Sozialstaates? Ich meine ja.

Es ist in der politischen Diskussion en vogue, im Kontext der Globalisierung die Kosten des Sozialstaates zu beklagen und seine „Abrüstung" zu verlangen. Doch das trägt als Begründung für einen Umbau m.E. nicht. Denn die realen Entwicklungen liefern kaum Belege für die These eines die Wettbewerbsfähigkeit gefährdenden Sozialstaates in Deutschland.

Zwar ist die Sozialleistungsquote, also der Anteil der Sozialausgaben am Bruttosozialprodukt, auf die Rekordhöhe von 34% hochgeschossen. Doch das ist maßgeblich auf die Folgen der deutschen Vereinigung zurückzuführen, denn in den ostdeutschen Ländern liegt die Quote aus naheliegenden Gründen immer noch bei rund 58%. In Westdeutschland liegt die Quote demgegenüber mit ca. 31% immerhin zwei Prozentpunkte unter dem Vergleichswert von 1982 - und das, obwohl es heute Hunderttausende von Arbeitslosen mehr und etwa doppelt so viele Sozialhilfeempfänger gibt. Das stützt die These eines „ausufernden Sozialstaates" gewiß nicht.

Auch die Entwicklung der Lohnstückkosten, des Sammelindikators für das Verhältnis von Kosten und Produktivität, rechtfertigt die Sozialstaatsschelte

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letztlich nicht. Die Chancen stehen gut, daß die Lohnstückkosten nach 1995 und 1996 sich auch 1997 nochmals rückläufig entwickeln, so daß das „Überschießen" im Zuge des Einigungsbooms wieder kompensiert sein dürfte. Der Blick auf die Lohnstückkostenentwicklung in Deutschland unterstreicht, daß die Tarifparteien eine insgesamt zurückhaltende Tarifpolitik betrieben haben. Ich gehe davon aus, daß sich diese Vorteile künftig in einem einheitlichen Währungsraum auch stärker in Beschäftigungsgewinnen abbilden werden.

So passabel sich der Sozialstaat hinsichtlich des Kostenniveaus geschlagen hat, so problematisch entwickeln sich allerdings die Finanzierungsstrukturen des Sozialstaates.

Denn die an Löhnen und Arbeitsverhältnissen geknüpfte Finanzierung tendiert dazu, ihre eigenen Grundlagen in Mitleidenschaft zu ziehen. Die Belastung des Faktors Arbeit mit Steuern und Sozialabgaben wird dieses Jahr - aller Voraussicht nach - rund 43% erreichen; das ist intolerabel hoch. Die Ursachen sind im wesentlichen bekannt; ich nenne nur die Finanzierung der sogenannten „versicherungsfremden Leistungen" im Zuge der deutschen Vereinigung aus der Renten- und Arbeitslosenversicherung und die hohe, steigende Massenarbeitslosigkeit.

Die aktuelle Diskussion verdeckt aber allzu leicht, daß die Weichen schon in den achtziger Jahren in die falsche Richtung gestellt worden sind. Eine Analyse aus dem Hause Blüm zeigt, daß entgegen aller Versprechen, die Belastung des Faktors Arbeit zu senken, bereits seit 1982 eine deutliche Verschiebung von der Steuerfinanzierung hin zur Beitragsfinanzierung der sozialen Sicherung stattgefunden hat:

Während der Staat seinen Finanzierungsanteil an der sozialen Sicherung bis 1989 langsam verringerte, stieg der Finanzierungsanteil durch Beiträge der Versicherten von 63 auf 67%. Anders formuliert: Der Staat hat sich zu Lasten der Solidargemeinschaft der Versicherten aus der Finanzierung der sozialen Sicherung zurückgezogen.

Bei allem Verständnis für die Konsolidierungszwänge öffentlicher Haushalte:

Das ist der falsche Weg, um den Faktor Arbeit wettbewerbsfähig zu halten.

Ein Blick auf die europäischen Nachbarn zeigt, daß die soziale Sicherung auf sehr unterschiedlichen Wegen finanziert werden kann:

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m Durchschnitt der EU werden die laufenden Ausgaben für Sozialleistungen zu etwa zwei Drittel durch die Beiträge der Arbeitgeber und der Versicherten gedeckt, wobei die Arbeitgeberanteile zumeist wesentlich höher liegen als die der Versicherten. Demgegenüber haben die Niederlande die Arbeitgeber konsequent begünstigt, um die Schaffung von Arbeitsplätzen attraktiver zu machen; sie steuern hier nur 20% zu den Aufwendungen für soziale Sicherheit bei. In Deutschland sind es immerhin 38%. In Dänemark hat man sich für einen anderen Weg entschieden; hier übernimmt der Staat 80% der Aufwendungen für soziale Sicherheit, die im wesentlichen durch eine hohe Einkommensbesteuerung gegenfinanziert werden.

Man mag skeptisch sein, ob diese Varianten der Umfinanzierung ausreichen, um die Kostenbelastung des Faktors Arbeit spürbar und beschäftigungswirksam zu senken. Es wäre aber meines Erachtens schon viel gewonnen, wenn eine Umfinanzierung zu Entlastungen im Bereich unterer Einkommen und gering qualifizierter Arbeitnehmer führen würde. An einer stärkeren Steuerfinanzierung der sozialen Sicherung, gegenfinanziert durch höhere Steuern auf Konsum und Energieverbrauch, scheint mir - zusammen mit regelmäßigen Überprüfungen von Effizienz und Zielgenauigkeit der Sozialtransfers - kein Weg vorbeizuführen.

Die Kopplung der Sozialversicherung an das Arbeitsverhältnis liefert ein weiteres Argument für die Bejahung der Frage nach den neuen Formen des Sozialstaates.

Die Konstruktionslogik des Sozialstaates entspringt dem Industriezeitalter, der Welt des „Normalarbeitsverhältnisses", des abhängigen Full-Time-Jobs, der Welt des männlichen Hauptverdieners und der Hausfrau. Diese geordnete Arbeitswelt schwindet dahin und läßt sich - allen Bemühungen zum Trotz, Ordnung auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen - nicht wiederherstellen. 1970 noch waren ca. 90% der abhängig Beschäftigten in einem regulären Arbeitsverhältnis beschäftigt; zu Beginn der neunziger Jahre waren es noch etwa 65%.

Die Arbeitswelt ist flexibler geworden. Innovations- und Produktionszyklen werden kürzer, technologische Neuerungen verbreiten sich weltweit rascher, Konkurrenzvorsprünge werden immer schneller eingeebnet. Neue Arbeitsformen, z.B. Telearbeit, dringen - wenn auch bei uns noch zu langsam - vor. Unternehmen forschen und entwickeln rund um den Globus, rund um

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die Uhr; auch der Einsatz von Arbeitskraft wird in „atmenden Fabriken" immer stärker den Produktionsrhythmen angepaßt. Parallel dazu wird selbständige Arbeit zu einer immer wichtigeren Erwerbsquelle im nachindustriellen Zeitalter.

Je stärker die Arbeitswelt sich in diese Richtung verändert, je weiter das klassische Beschäftigungsverhältnis auf dem Rückzug ist, desto mehr schwindet aber auch die finanzielle Grundlage und die Legitimationsbasis des Sozialversicherungsstaates. (Die aktuelle Diskussion um den Generationenkonflikt in der Rentenversicherung macht dies deutlich.)

Das heißt, daß die traditionelle Verteilungspolitik und die traditionelle Politik der sozialen Sicherung umgestellt werden müssen. Traditionen können nicht mehr in traditioneller Weise verteidigt werden. Umverteilungsziele bleiben legitim, aber wer sie in altbackener Weise verfolgt, erleidet Schiffbruch - wie die aktuelle Diskussion um die Belastungswirkungen des Steuersystems eindrucksvoll unterstreicht.

Der Sozialstaat des 21. Jahrhunderts wird diese Entwicklungen begleiten müssen, indem er die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zur Wahrnehmung der neuen Möglichkeiten aktiv befähigt und qualifiziert. Es gilt, für die geforderte Flexibilität und die notwendige soziale Sicherheit eine neue Mischung, ein neues Verhältnis zu finden. Die großen Industriegewerkschaften haben diese Konsequenzen der strukturellen Veränderungen in der Arbeitslandschaft nach meinem Eindruck schneller und gründlicher begriffen als die Parteien.

Für den neuen Sozialstaat heißt das z.B.,

  1. daß wir nicht nur eine stärkere Steuerfinanzierung der sozialen Sicherung brauchen, um das Arbeitsverhältnis zu entlasten, sondern auch eine stärkere Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivkapital. Die Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivkapital muß zu einem zusätzlichen Standbein der Einkommenssicherung ausgebaut werden. Das kann die Motivation der Beschäftigten steigern, zusätzliche Möglichkeiten der Alterssicherung erschließen und das Angebot an Investitionskapital verbessern.

  2. Die Arbeitswelt braucht Flexibilität, sei es in Form von befristeten Arbeitsverhältnissen, Zeitarbeit oder Teilzeitarbeit; sie beschafft sich diese Flexibilität

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    notfalls in Gestalt von 610-DM-Jobs. Ich halte es für sinnvoller - nehmen wir den Fall der Altersteilzeit -, die Voraussetzungen für Flexibilität, nämlich eine ausreichende soziale Absicherung gemeinsam mit den Tarifparteien zu schaffen, als Flexibilität einzuschränken und damit zuzulassen, daß sie sich faktisch in der Schattenwirtschaft Bahn bricht.

  3. Der Sozialstaat wird künftig stärker auf Qualifizierung setzen müssen, auf nachholende wie auf vorausschauende Qualifizierung - über Jobrotation, über Sabbaticals, über Weiterbildung „auf Gutschein", über rechtlich und/oder tariflich verbriefte Weiterbildungsansprüche. Deshalb sollte dieses Thema - Weiterbildung und „lebenslanges Lernen" - sehr bald in den Mittelpunkt unserer Bildungspolitik rücken.

  4. Und schließlich wird der Sozialstaat neue Wege gehen müssen, um gering Qualifizierte in reguläre Beschäftigungsverhältnisse zu bringen respektive auch einfache Arbeitsplätze zu erhalten. Dazu gehört z.B. die Aufstockung geringer Arbeitseinkommen durch staatliche Leistungen.

III.

Die zentrale Voraussetzung für einen dauerhaften, beschäftigungswirksamen Aufschwung allerdings ist, und damit bin ich mit Herrn Flassbeck durchaus einer Meinung, einen neuen Investitions- und Wachstumsschub in Gang zu bringen. Das ist für mich allerdings nicht nur eine Frage des Zinsniveaus.

Aus der Strukturberichterstattung wissen wir, daß in den Jahren 1982 -1991 insgesamt 304.000 neue Arbeitsplätze in der Industrie Westdeutschlands entstanden sind. Davon entstanden 302.000, d.h. 99% dieses Beschäftigungszuwachses, in forschungsintensiven Industriezweigen, also praktisch vollständig im innovativen Sektor unserer Industrie.

Nur noch in der Topgruppe der Entwicklung und Anwendung von Spitzentechnologie finden wir auch heute noch einen klar positiven Zusammenhang zwischen Wachstum und Beschäftigung, weil die Wachstumsmöglichkeiten gegenüber den Rationalisierungspotentialen weit überwiegen. Dazu gehören beispielsweise die Meß- und Regelungstechnik, der Pharmabereich, aber auch Sektoren des Automobilbaus und die Datentechnik. Viele dieser Felder, beispielsweise die Bio- und Gentechnologie und auch der Automobilbau, werden in der tagtäglichen politischen Diskussion mit Skepsis

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betrachtet - Skepsis, die dazu führt, daß wir unsere Wachstumspotentiale nicht ausschöpfen. Das müssen wir ändern.

Deshalb ist es mir so wichtig, daß wir uns über die Technologiefelder verständigen, auf denen wir gewinnen wollen.

Auch in dieser Frage, wie man Verständigung schafft, können wir übrigens von den Niederländern lernen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2000

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