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Oskar Lafontaine
Globalisierung - Neue Herausforderungen für die Sozialpolitik


Das Thema „Globalisierung - Neue Herausforderungen für die Sozialpolitik" bewegt viele Menschen in unserem Lande und bestimmt auch die politischen Debatten.

Zunächst zwei klare Antworten. Erstens: Ist nationale Sozialpolitik im Zeitalter der Globalisierung möglich? Ja. Zweitens: Sind die aktuellen Schwierigkeiten im sozialen System globalisierungsbedingt? Nein. Ich werde das nachher deutlich ausführen, auch mit Zahlen belegen.

Aber zunächst einmal ein paar Bemerkungen zur Globalisierung und zur Standortdiskussion, weil diese Debatte ja nun seit einiger Zeit unsere Diskussion bestimmt. In der deutschen Diskussion haben wir lange gehört, insbesondere vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), vom Deutschen Industrie- und Handelstag (DIHT), von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), daß wir nicht wettbewerbsfähig seien. Dies hörten wir landauf, landab.

Das war vielleicht in den Jahren nach der deutschen Einheit noch deshalb verständlich, weil aufgrund der ökonomischen und finanziellen Bewegungen unsere gewohnten Bilanzen, auch Handelsbilanzen und Zahlungsbilanzen, sich verändert haben. Aber mittlerweile glaube ich, daß nur noch jemand, der nicht mehr bereit ist, Daten und Zahlen zur Kenntnis zu nehmen, die Behauptung, die langjährige Behauptung vom DIHT, BDI und Arbeitgeberverbänden aufrechterhalten kann, die deutsche Wirtschaft sei nicht wettbewerbsfähig.

Das Gegenteil ist richtig. Die deutsche Wirtschaft ist, wie der Export zeigt, nach wie vor eine der wettbewerbsfähigsten der Welt überhaupt. Was die Pro-Kopf-Exportrate angeht, sind wir Exportweltmeister mit riesigem Abstand vor allen anderen Ländern. Und wenn wir beispielsweise in Deutschland eine Situation hätten - das kann man nicht oft genug sagen - wie in den Vereinigten Staaten, daß wir nämlich nicht große Exportüberschüsse erwirtschaften würden, sondern im Grunde genommen Importüberschüsse,

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das heißt eine negative Handelsbilanz in der Größenordnung von 3,5 Mrd. DM hätten, dann wären hier einige Standortredner suizidgefährdet, weil sie ihre ganzen Glaubensbekenntnisse umschreiben müßten und die ganzen Ideologien ablegen müßten.

Also man kann es einfach haben, man muß nur schlicht auf die Zahlen blicken. Die These, die deutsche Wirtschaft sei nicht wettbewerbsfähig, ist geradezu hanebüchen. Wir haben eine Handelsbilanz, die eher unsere Währung unter Aufwertungsdruck setzt. Und wir haben einen Exportüberschuß pro Kopf, der auf der ganzen Welt unvergleichlich ist.

Es war ja lange Zeit üblich, daß in allen Standortreden immer auftauchte:

Oh Gott, oh Gott, da kommen die gefährlichen asiatischen Tiger! Da müssen wir uns furchtbar warm anziehen, weil wir jetzt diesem Wettbewerbsdruck nicht mehr standhalten können. Diese Debatte lief aber zu einer Zeit, als schon wir eine Handelsbilanz hatten, die, bezogen auf die einzelnen Handelspartner der asiatischen Tiger, auch zu unseren Gunsten ausging. Wir exportierten mehr in jedes Tigerland, als sie bei uns importierten und waren Gewinner dieses Handels. Auch dies ist ein Beleg dafür, daß oftmals Diskussionen und Debatten sich völlig loslösen von Datenbasen oder von Bilanzen und daß teilweise auch ein gewaltiges Mißverständnis des Außenhandels die Debatte prägt, ein Mißverständnis, das man verkürzt so beschreiben kann: Der Außenhandel wird nur wahrgenommen hinsichtlich des Imports, und den empfindet man als bedrohlich und als schädlich, und die eigenen Exporte geraten weniger ins Blickfeld, obwohl wir gerade auf diesem Gebiet ja pro Kopf die Tüchtigsten in der ganzen Welt - wohlgemerkt der großen Industrienationen - sind. Es gibt natürlich Andorra und Liechtenstein und auch Luxemburg, die noch andere Bilanzen haben. Aber ich rede jetzt einmal von den großen Industrienationen der Welt.

Da hat sich die Debatte um die sogenannte Globalisierung etwas relativiert, mittlerweile auch in den Vereinigten Staaten, wo überhaupt eine offenere ökonomische Debatte stattfindet als in der Bundesrepublik Deutschland, weil die Vereinigten Staaten sich schon früher von den Überzeugungen etwa der Reaganschen Regierungszeit verabschiedet haben als die Bundesrepublik Deutschland. Es wird also seit Jahren in den Vereinigten Staaten eine andere Wirtschafts- und Finanzpolitik betrieben als in der Bundesrepublik Deutschland. Und die Ergebnisse sind ja dort auch anders. Ich werde das nachher noch erläutern.

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Es hat heute wiederum ein renommierter amerikanischer Nationalökonom im Handelsblatt zu diesen Fragen „Globalisierung" Stellung genommen. Das ist Paul Krugman. Der Handelsblatt-Artikel ist überschrieben mit den Worten: „Keine Angst vor der Globalisierung", weil Krugman auch in den Vereinigten Staaten durch seine vielseitigen Bilanzen nachweist, die er immer wieder vorlegt, und Statistiken - sein Spezialgebiet ist der Außenhandel -, daß die große Sorge, daß also die Entwicklungsländer mit Billiglöhnen die Arbeitsplätze in den Vereinigten Staaten gefährden würden, daß diese große Sorge schlichtweg unhaltbar ist, weil alle Daten und Statistiken ausweisen, daß im wesentlichen die Investitionen und der Handel zwischen den großen Industriestaaten sich abspielten, also im Dreieck Vereinigte Staaten - Europa - Japan, und eben nicht in der Sahelzone oder in Afrika oder auch nicht in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion oder sonstwo.

Es ist zunächst also festzuhalten, daß es eine ansteigende Verflechtung im Welthandel gibt, aber daß man sie auf nüchterne Zahlen zurückführen muß. Und die möchte ich so beschreiben: Die Vereinigten Staaten und die Europäer haben einen Außenhandelsanteil etwa von 7 bis 10%, je nachdem, welche Statistik man zu Rate zieht. Der Rest ist Binnenmarkt. Im Grunde genommen spielt sich also Wesentliches in Amerika auf dem Binnenmarkt ab, und Wesentliches auf dem europäischen Binnenmarkt.

Bei der Globalisierung möchte ich im Grunde genommen schon mit dieser Bemerkung nahelegen, daß wir in Europa in erster Linie über die Europäisierung unserer Wirtschaft diskutieren müssen und nicht so sehr über die Globalisierung. Da gibt es Anteile, aber den europäischen habe ich beschrieben. Der deutsche ist etwas höher aufgrund unserer Exportstärke. Aber in Deutschland muß man sich auch lösen von dem, was man in der Vergangenheit gelernt hatte, was auch in vielen Artikeln noch auftaucht, daß unser Exportanteil über 30% läge. Wir sind nun im siebten Jahr der deutschen Einheit, und die hat eben die Statistik deutlich verändert. Wir sind nicht bei über 30% Exportanteil, wir haben 20% Exportanteil. Der Rest, also 80%, ist Binnenwirtschaft. Und es wäre in Deutschland sehr, sehr wünschenswert und sehr, sehr begrüßenswert, wenn über die Binnenwirtschaft genauso intensiv diskutiert würde wie über die Exportwirtschaft. Denn, um es mal ganz platt zu sagen, der Exportwirtschaft geht es gut in Deutschland. Das sagen uns jeden Tag die Zahlen. Der Binnenwirtschaft geht es nicht so gut. Und ich würde mir manchmal wünschen, daß der Einzelhandel, daß das

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Handwerk, daß die ortsgebundenen Dienstleistungen genauso intensiv ihre Interessen vertreten würden wie die deutsche Exportwirtschaft. Das wäre für die deutsche Wirtschaftspolitik äußerst hilfreich, weil immer nur die Herren Henkel, StihI und Hundt zu hören sind. Und die vertreten im wesentlichen Überlegungen oder Überzeugungen, die der Exportwirtschaft zugute kommen, aber nicht der deutschen Binnenwirtschaft. Solange allerdings der Glaube da ist, daß das, was für die Exportwirtschaft gut ist, auch für die Binnenwirtschaft gut sei, kann es zu gewissen Fehlentwicklungen kommen.

Also erste These: Wir sollten nicht von der Globalisierung generell sprechen, wenn wir uns um die Probleme des Sozialstaates und des Arbeitsmarktes und anderer Fragen bemühen, sondern wir sollten erkennen, wir haben eine zunehmende Europäisierung unserer Wirtschaft. Und die Europäisierung der Wirtschaft verlangt zeitgemäße Antworten, mit einer einzigen Ausnahme: Die Finanzmärkte sind global, nicht die Warenmärkte, die Arbeitsmärkte sowieso nicht, obwohl das oft behauptet wird, aber das ist einfach nicht vertretbar. Aber die Finanzmärkte sind global. Und die Frage ist, was man machen kann im Zeitalter der Spekulation, im Zeitalter dieser rasanten Kapitalbewegungen, um die Finanzmärkte zu stabilisieren.

Und hier, glaube ich, ist eine der tiefen Begründungen, auch ökonomischen Begründungen für den Euro. Wenn man zur Kenntnis nimmt, daß viele Kapitalbewegungen erfolgen, ohne daß ihnen realwirtschaftliche Vorgänge zugrunde liegen, wenn man bereit ist zu akzeptieren, daß die Spekulation teilweise Kapitalbewegungen induziert, die mit wirklichem Warenaustausch überhaupt nichts mehr zu tun haben, dann ist die Frage eben, wie kann man die Märkte stabilisieren, wie kann man spekulative Kapitalbewegungen zumindest teilweise unterdrücken, von großer Wichtigkeit. Und daher ist es zum Beispiel innerhalb Europas leicht begründbar, daß in dem Moment, in dem wir eine Währung haben, den Euro haben, Spekulationen oder auch - spekulativ bedingte oder auch politisch bedingte - Währungsschwankungen oder -entwicklungen nicht mehr eintreten werden. Und das hat natürlich Folgen für andere Entscheidungen. Aber hier glaube ich, daß ein Schritt gemacht worden ist, um zu etwas stabileren Verhältnissen an den Weltkapitalmärkten zu kommen.

Ob das ausreicht, bezweifle ich persönlich. Die Diskussionen sind weltweit bekannt. Der amerikanische Nobelpreisträger Tobin hat vorgeschlagen, auf kurzfristige Kapitalbewegungen Steuern zu erheben. Ob so etwas weltweit

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durchsetzbar ist, wird diskutiert. Auf jeden Fall könnte nur aufgrund von Vereinbarungen der wichtigen Industrienationen so etwas überhaupt angegangen werden.

Die Kernfrage ist eigentlich, ob wir nicht das, was wir auf europäischer Ebene anstreben, auch auf die Weltebene übertragen müssen, daß wir zu weitergehenden Stabilisierungsmaßnahmen der Wechselkurse und des Zinsniveaus kommen müssen. Ich vertrete diese Auffassung.

Ich bin der Auffassung, daß die Erwartungen, die viele in das System freier Wechselkurse gesetzt hatten - das war eine heftige Debatte in Deutschland vor über 20 Jahren -, daß diese Erwartungen nicht erfüllt worden sind.

Jetzt zu den übrigen Märkten. Wir reden von Europäisierung. Und europäisch müssen wir dann ein Regelwerk oder ein Rahmenwerk entwickeln, was wir bisher national entwickelt haben. Im Grunde genommen ist das ja einfach. Wir hatten früher die Kleinstaaterei in Deutschland. Irgendwann ging das nicht mehr. Dann hat man eben für den Nationalstaat ein Rahmenwerk entworfen, weil jeder eingesehen hat, daß die einzelnen Kleinstaaten ihre Aufgaben nicht mehr lösen können. Wir können sie nur noch im Nationalstaat lösen. So ist heute der nächste Schritt eigentlich sehr logisch, und ich meine, wenn man nicht irgendwelche Ängste oder Gefühle mobilisiert, sehr leicht einsehbar, so, wie wir im Nationalstaat bisher ein Rahmenwerk vereinbart haben, so werden wir jetzt auf europäischer Ebene ein Rahmenwerk vereinbaren müssen, um Marktwirtschaft auf der einen Seite, aber auch Sozialstaat auf der anderen Seite zu ermöglichen. Denn der Sozialstaat gehört nun einmal zum kulturellen Erbe Europas. Und deshalb kann er nicht mit irgendwelchen falschen Argumenten in Frage gestellt werden.

Ich habe vorher ausgeführt, die Globalisierung ist nicht die Ursache der gegenwärtigen Krise unserer Sozialversicherungssysteme, sondern die Ursache ist die falsche Einigungspolitik Helmut Kohls, der die ganze Entwicklung völlig falsch eingeschätzt hat im Jahre 1990 und der das Versprechen abgegeben hat, keine Steuern zu erhöhen, um die Einheit zu finanzieren. Dadurch geriet er natürlich in erhebliche Glaubwürdigkeitskrisen und mußte in unvertretbarem Ausmaße auf die Sozialkassen ausweichen, um die Einheit zu finanzieren. Das hat aber mit der Globalisierung nun überhaupt nichts zu tun. Also müßte dann stehen: Einheit und nationale Sozialpolitik oder so etwas. Aber

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Globalisierung und nationale Sozialpolitik, wenn man dann auf den Kern unserer heutigen Diskussion stoßen will, ist insoweit nicht gerechtfertigt.

Ich will das auch mit zwei Zahlen belegen. Das DIW hat dazu Untersuchungen gemacht. Hätten wir die Einheit nicht, dann hätten wir in der Rentenversicherung in den letzten Jahren einen Überschuß von 70 Mrd. erwirtschaftet, in der Arbeitslosenversicherung - ich nenne runde Zahlen - von 120 Mrd. erwirtschaftet. Wir hätten die ganze Diskussion jetzt nicht, die wir zu führen haben. Und deshalb ist es unredlich - daß die Regierung Kohl von ihren Fehlern ablenken will, ist verständlich, nur die Zahlen sprechen eindeutig dagegen -, die gegenwärtigen Probleme unserer sozialen Versicherungskassen in erster Linie der Globalisierung zuzuweisen. Sie sind entstanden durch die falsche Finanzierung der deutschen Einheit, die nun seit sieben Jahren läuft und die ich in Zahlen dargestellt habe.

Für diejenigen, die etwa bei der Rentendiskussion sich näher mit dieser Frage auseinandersetzen, ist das ja auch unmittelbar klar. Wir haben das westdeutsche Rentensystem auf Ostdeutschland übertragen, aber damit das westdeutsche System auf eine Bevölkerung und Erwerbsstruktur übertragen, die nicht ohne weiteres mit dem westdeutschen kompatibel war. Denn in Ostdeutschland in Zeiten des Kommunismus und der SED haben Männer und Frauen gearbeitet. Wir hatten also faktisch eine Frauenerwerbstätigkeit von fast 100%. Und Männer und Frauen haben dort nicht gebrochene Arbeitsbiographien gehabt, insbesondere die Frauen nicht, sondern sie haben auch 40 oder 45 Jahre Erwerbsbiographie im Gegensatz zu dem, was in den westlichen Gesellschaften geschehen ist. Und insofern haben wir dann natürlich auch Disparitäten, die etwas kosten, die finanziert werden müssen. Und das ist auch im Bundestag ja wieder diskutiert worden. Und natürlich ist niemand, der sagt, wir mißgönnen jetzt den älteren Menschen in den neuen Ländern diese - wenn man so will - Auswirkungen ihrer Erwerbsbiographie oder ihrer Lebensbiographie. Sie haben ja Jahrzehnte unter viel schlechteren Bedingungen gelebt als die Westdeutschen.

Aber eines muß dahin kommen: Das Ganze ist nicht eine Aufgabe nur der Beitragszahler. Das ist das, was wir Helmut Kohl massiv vorwerfen. Wenn wir eine nationale Aufgabe haben wie die Finanzierung des Aufbaus der deutschen Einheit, ist das nicht nur die Aufgabe der Arbeitnehmer, sondern es ist genauso die Aufgabe der Unternehmer, der Selbständigen, der Beamten, der Politiker und wen ich da alles nennen soll, also der ganzen Nation,

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nicht nur der Beitragszahler. Und das ist einer der entscheidenden Punkte, den man immer wieder sagen muß.

Es ist ja auch darauf hinzuweisen, daß im Westen die Sozialstaatsquote niedriger ist als Anfang der achtziger Jahre. Das hat das Blüm-Ministerium ausgearbeitet. Die Zahl ist unstreitig, so daß auch hier der Beleg dafür ist, daß wir hier nicht völlig üppig zugelangt haben oder uns einen Sozialstaat leisten, den wir uns gar nicht mehr leisten können, sondern daß wir hier Fehlentwicklungen haben, die wir korrigieren müssen, die aber zunächst einmal in der Ursache klar sind, sonst kommen wir nämlich zu völlig falschen Schlußfolgerungen.

Also: Wir haben die Schwierigkeiten im deutschen Sozialsystem wegen der falschen Einheitspolitik Helmut Kohls. Wir haben sie nicht wegen der Globalisierung. Und wir haben sie auch nicht wegen der Europäisierung.

Nun ist die Frage: Was werden wir denn in den nächsten Jahren tun im Zuge der zunehmenden Integration der europäischen Wirtschaft? Und welches soziale Sicherungssystem soll denn in den nächsten Jahren dann in Gesamteuropa gelten?

Natürlich werden die nationalen Sicherungssysteme noch eine Zeitlang greifen. Aber es sind ja jetzt schon Übergänge zu organisieren, weil wir eben - und an den Grenzen spürt man das ganz besonders - natürlich die Freiheit der Arbeitnehmer innerhalb der Europäischen Gemeinschaft haben, sich einen Arbeitsplatz zu suchen. Wir haben auch Niederlassungsfreiheit. Und wir haben die Situation, daß Arbeitnehmer mit ihrer Sozialbiographie kommen und in das System einer anderen Sozialversicherung wechseln und umgekehrt. Und dafür muß natürlich die Europäische Gemeinschaft Regeln haben, und längerfristig hat sie einen immer größeren Regelungsbedarf.

Nun gilt aber für alles der Satz, daß natürlich Sozialpolitik nur organisierbar ist, wenn Wachstum und Wohlstand organisierbar sind. Und deshalb möchte ich dazu doch noch ein paar Bemerkungen aus Sicht der Sozialdemokraten machen.

Es ist ja nicht nur die Frage: Warum haben wir Probleme in den Sozialkassen? Und dann sagen die regierenden Parteien: Daran ist die Globalisierung schuld. Damit ist man schnell aus dem Schneider. Die Frage ist auch: Warum haben wir diese hohe Arbeitslosigkeit? Es könnte ja auch so sein, daß diese

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hohe Arbeitslosigkeit eine Folge der Globalisierung wäre. Aber etwas Nachdenken verbaut schon den Zugang zu dieser Antwort. Denn alle Staaten sind ja der Globalisierung ausgesetzt. Und dann müßte man sagen: Warum schaffen es die einen Staaten, eine nicht so hohe Arbeitslosigkeit zu haben? Und warum haben wir eine hohe Arbeitslosigkeit, obwohl ja die Staatsbedingungen ähnlich sind?

Ich gehöre zu denen, die der Auffassung sind, daß die Arbeitslosigkeit, die Höhe der Arbeitslosigkeit im wesentlichen von zwei Faktoren bestimmt wird:

einmal von den Strukturreformen, die wir im Inneren eines Landes zu leisten haben, um unsere Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten und um auch die Beschäftigungsmöglichkeiten zu verbessern; zum zweiten aber - und darüber möchte ich ein paar Worte sagen, letzteres ist unstreitig - durch die Wirtschaftspolitik, durch die makroökonomische Weichenstellung.

Wenn wir uns die Frage stellen, warum in den Vereinigten Staaten beispielsweise die Arbeitslosigkeit anders aussieht als in Europa oder in Deutschland, dann kann es ja am Export nicht liegen. Ich habe darauf hingewiesen, daß die Vereinigten Staaten eine negative Handelsbilanz haben. Denen müßte es eigentlich sehr, sehr schlecht gehen. Also führt das doch zu der Fragestellung: Was machen denn die Vereinigten Staaten anders als wir, um zu einer besseren Situation auf dem Arbeitsmarkt zu kommen?

Und da gibt es drei Antworten. Die Vereinigten Staaten haben eine andere Finanz- und Steuerpolitik. Die Vereinigten Staaten haben eine andere Geldpolitik. Und die Vereinigten Staaten haben einen anderen Arbeitsmarkt.

Zunächst einmal zur Geldpolitik: Die Geldpolitik ist zumindest, wie ich darlegte, der Politikbereich, der am ehesten globalen Fragestellungen unterworfen ist. Die Geldpolitik kann restriktiv sein. Sie kann nur preisstabilitätsorientiert sein. Oder sie kann eben auch, was eigentlich auch in unserem Bundesbankgesetz steht, die anderen Ziele der Wirtschaftspolitik im Auge haben. So steht es im Bundesbankgesetz.

Jacques Delors hat einmal gesagt: Nicht alle Deutschen glauben an Gott. Aber alle Deutschen glauben an die Bundesbank.

Ich möchte also Jacques Delors widersprechen. Ich gehöre zu denen, die nicht an die Bundesbank glauben. Ich glaube, daß die Bundesbank nicht einem Unfehlbarkeitsdogma unterliegt wie der Papst. Da ich die Damen und Herren alle gut kenne, die dort als frühere Staatssekretäre oder Minister

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jetzt sitzen, weiß ich, daß sie früher als Staatssekretäre und Minister Fehler gemacht haben. Das läßt zumindest mal induktiv die Schlußfolgerung zu, daß sie heute vielleicht auch als Banker Fehler machen können. Zumindest ist nicht daraus mit Sicherheit abzuleiten, daß sie, sobald sie den Titel „Zentralbanker" erhalten haben, fehlerfrei arbeiten.

Und so war es auch, und ich will nur einen Hinweis geben. Wir haben im Jahre 1992 einen Diskontsatz von 8,5% gehabt. Der hat also Paul Krugman, den berühmten amerikanischen Nationalökonomen, den ich gerade zitiert habe, zu dem Urteil veranlaßt, daß die Geldpolitik der Bundesbank und der Europäer verrückt sei.

Nun, man muß nicht so hart sein. Aber zumindest sollte man doch über das Votum eines renommierten Ökonomen Amerikas, dem viele Nobelpreisträger an dieser Stelle zur Seite treten, nachdenken. Ein Diskontsatz von 8,5% hat natürlich für die Entwicklung von Wachstum und Beschäftigung in Gesamteuropa, weil die Entscheidungen der Bundesbank europäische sind, erhebliche Auswirkungen gehabt. Und nach unserer Überzeugung hat das erhebliche Arbeitslosigkeit zur Folge gehabt. Die Geldpolitik kann also nicht nur sagen, wir interessieren uns für die Preisstabilität, das ist alles, der Rest interessiert uns nicht.

Und wie gesagt, die amerikanische Geldpolitik ist an dieser Stelle vorbildlich, wie es auch vorbildlich ist, daß Alan Greenspan kürzlich mal wieder hier in Europa war und auf einen Sachverhalt aufmerksam gemacht hat, der in unserer Diskussion so gut wie nicht vorkommt, auf den Sachverhalt nämlich, daß die Inflationsraten immer zu bereinigen sind um eine Qualitätskomponente, die ihnen innewohnt.

Von einem europäischen Banker habe ich das noch nicht gelesen in den letzten Jahren; vielleicht verheimlichen die ja auch dieses Wissen. Aber ich möchte erklären, was damit gemeint ist. Gemeint ist damit, daß Auto nicht gleich Auto ist. Das ist ja nun eine Ware, die wir meist fast alle kennen. Früher war das Auto eine Blechkiste mit Sitzen und Gangschaltung und einem Lenkrad und einer Bremse, und Motor natürlich - ich vergesse sicherlich einiges. Heute, wenn man da sitzt, meint man, man sei im Cockpit eines Flugzeuges. Ich brauche das nicht darzustellen. Das ist die Qualitätskomponente, die also bei der Inflationsrate drin ist, und die man natürlich nicht übersehen darf, wenn man sich über Inflationsraten und zulässige Inflationsziele Gedanken macht,

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So kann die andere Entwicklung der Geldpolitik nicht nur in den Vereinigten Staaten beobachtet werden. Sie ist auch in England zu beobachten. Aber ich nehme einmal die Vereinigten Staaten als vorbildlich an und meine, wir sollten also darüber diskutieren, ob die zukünftige europäische Geldpolitik sich nicht stärker als die bisherige auch an Wachstum und Beschäftigung zu orientieren hat. Damit ich richtig verstanden werde: Geldwertstabilität ist wichtig. Preisstabilität ist wichtig. Aber es ist nicht das alleinige Ziel der Wirtschafts- und Finanzpolitik und der Gesellschaft.

Und deshalb war es auch ein Durchbruch, daß wir jetzt einen Beschäftigungsgipfel in Europa hatten. Denn bisher wurde immer nur über 3,0 und über Wechselkurse und Inflationsziele diskutiert, also über die Geldwertstabilität. Aber in Europa interessieren sich nicht alle Menschen ausschließlich für die Stabilität ihrer Spareinlagen - es gibt auch noch viele, die gar keine haben - und nicht alle für die Stabilität großer Geldanlagen, sondern es gibt dort 20 Millionen Menschen, die eine einzige Frage haben: Bekomme ich wieder einen Arbeitsplatz? Das ist für die viel, viel wichtiger.

Und deshalb müssen wir eben alle Ziele, wie das früher auch in der Bundesrepublik noch gelernt war, im Auge haben, wie es ja auch in unserem Stabilitätsgesetz steht: Preisstabilität ja, aber angemessenes Wirtschaftswachstum, hoher Beschäftigtenstand und - völlig in Vergessenheit geraten, ich lese das nirgendwo mehr - außenwirtschaftliches Gleichgewicht, weil man eben die Funktion des Außenhandels, wie ich zu Beginn sagte, völlig fehlerhaft einordnet und die Konsequenzen, die daraus erwachsen aus gewaltigen Exportüberschüssen, in den letzten Jahren gar nicht diskutiert hat, etwa im Hinblick auf die Wechselkursstabilität. Denn die Deutsche Bundesbank hat es zwar geschafft, die Preisstabilität im Inneren zu halten, aber die Wechselkursstabilität zu erhalten, was auch im Bundesbankgesetz steht, das hat sie nie geschafft. Nur das merkt man im Inneren nicht so direkt. Nur die Exportwirtschaft merkt es natürlich, wenn es zu hoch geht, dann kommt die Aufwertung, dann fallen viel mehr Arbeitsplätze weg als wenn es eine Lohnrunde gibt. Also wir müssen die Geldpolitik immer an gesamtwirtschaftlichen Zielen ausrichten. Das ist der eine Punkt.

Der zweite Punkt ist die Finanzpolitik. Sie kann nicht auch in Schwächephasen etwa der ökonomischen Entwicklung restriktiv sein. Das hatten wir früher mal gewußt. Und deshalb sollte man eben die Finanzpolitik flexibel fahren.

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Auch hier wiederum Beispiele aus den Vereinigten Staaten und aus England, die zu wenig bekannt sind bei uns. 1992, ein Schlüsseljahr, 1992 hatten die Vereinigten Staaten ein Defizit, ein jahresbezogenes Defizit von 8%, Großbritannien von 7%, grobe Zahlen, vielleicht irre ich bei einer Kommastelle. Sie sehen, ich trage aus dem Kopf vor, da kann es auch mal passieren, daß eine Kommastelle nicht exakt ist.

Welche innerdeutsche Diskussion hätten wir bei einem Defizit von 8% gehabt? Dies führt ja dann zu der Frage bei der Geldpolitik und Finanzpolitik, warum Dinge in den Vereinigten Staaten und in England möglich sind - übrigens dieses Defizit in England war die konservative Regierung Major - warum die möglich sind, während bei uns solche flexiblere Handhabung von Geldpolitik und Finanzpolitik in den letzten Jahren nicht möglich war. Und von einer planenden Finanzpolitik kann ja in Deutschland seit Jahren keine Rede mehr sein. Wir erleben immer wieder dasselbe Jahresspiel. Zu Beginn haben wir einen stabilen Haushalt, und am Jahresende müssen wir alle Zahlen kräftigst korrigieren. Das wird auch in Zukunft so sein, solange die gesamte makroökonomische Politik nicht neu orientiert und neu ausgewiesen wird.

Es geht aber nicht nur um die Haushaltspolitik der Staaten. Es geht natürlich im wesentlichen auch um die Steuerpolitik. Und da bin ich dann wieder bei Globalisierung und bei Europäisierung.

Die Steuerpolitik hat sich verheerend entwickelt in den letzten Jahren in Gesamteuropa. Aber wir waren da wirklich Spitzenreiter. Wir haben zumindest mal einen Grundsatz der Steuerpolitik und der Finanzpolitik nicht beherzigt, der in jedem akademischen Lehrbuch steht, daß jede Steuer- und Finanzpolitik stetig sein muß, berechenbar sein muß, daß eben die investierende Unternehmerschaft zumindest wissen muß, was im nächsten Monat noch gilt. Viel wichtiger wäre es natürlich, wenn sie für zwei, drei, vier, fünf Jahre wüßte, das sind die Rahmenbedingungen, unter denen ich arbeite.

Wir haben im Bundesrat alle zwei, drei Monate Steuergesetze, neue Aktivitäten, Hektik, so daß zu Recht der angebotsorientierte Sachverständigenrat festgestellt hat, daß die deutsche Finanzpolitik chaotisch ist, von hektischem Aktionismus getrieben ist und eine Belastung für die Investitionen in Deutschland ist.

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Also, was wir brauchen, ist Stetigkeit in der Finanzpolitik, in der Steuerpolitik. Wir können nicht alle Jahre, weil da eine Fünf-Prozent-Partei meint, sie müsse diese Landtagswahl gewinnen oder diese Kommunalwahl, dreimal Steuersätze ändern. Das geht auf Dauer nicht gut. Auch wenn Sie Sympathien für diese Partei haben, glauben Sie uns bitte, es ist notwendig, daß wir eine stabile, eine langfristig angelegte Steuer- und Finanzpolitik haben. Sonst geht das mit den Investitionen nicht gut.

Nun ist das aber auch eine Frage auf europäischer Ebene, weil wir auf europäischer Ebene einen Steuersenkungswettlauf haben. Und das ist natürlich verheerend. Das paßt denjenigen, die Begünstigte des Steuersenkungswettlaufs sind, das ist klar. Wer zahlt schon gerne Steuern? Deshalb gibt es auch viele, die diesen Steuersenkungswettlauf befürworten, darin ein Glück sehen. Nur es gibt eben viele Menschen, die an diesem Glück nicht teilhaben. Und das ist die Mehrheit. Und deshalb muß staatliche Politik natürlich etwas tun.

Was meine ich mit Steuersenkungswettlauf? Vermögensbesteuerung, die ist zum Beispiel in Amerika viel höher als bei uns, also in dem Musterland des Kapitalismus, sage ich jetzt einmal. Wir haben aber die Situation, daß alle Staaten hier versuchen, Investitionen anzulocken, indem sie Steuern absenken. Und so kam es zum Beispiel dazu, daß wir in Österreich Vermögenssteuer Null hatten. Und dann zog ein berühmter Bürger dieser Republik, der eine große Rolle gespielt hat, nach Österreich, Herr Flick, und ließ sich dort nieder. Und andere folgten ihm. Und hier in Deutschland haben die Konservativen dann solange dafür geworben, daß auch wir die Vermögenssteuer auf Null setzten, bis sie es dann endlich geschafft haben, so daß wir eigentlich jetzt die Chance haben, daß Herr Flick wieder zurückzieht in die Bundesrepublik, denn jetzt ist ja auch bei uns die Vermögenssteuer Null.

Das ging aber nicht nur bei der Vermögenssteuer so. Das ging auch bei der Kapitalbesteuerung so, bei der Ertragsbesteuerung der Unternehmen so, so daß wir folgenden herrlichen Zustand in Europa haben: Wer Vermögen hat, der kann sich durch Wohnsitzwechsel der Steuer entziehen. Wer Geld hat, der kann sich durch Kontoverlagerung der Steuer entziehen. Und wer Unternehmen hat, sofern es nicht kleine Unternehmen sind, also etwas flexibler ist, der kann sich durch Firmensitzverlagerung der Steuer entziehen. Wer bleibt dann übrig? Die Arbeitnehmerschaft und das ortsgebundene Gewerbe, dem solche Verschiebungen nicht möglich sind.

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Da kann die Politik sagen, ist mir alles egal, interessiert mich nicht. Oder sie kann was machen. Also ich bin nicht der Meinung, daß die Politik sich verabschieden muß oder daß sie durch diese Entwicklung keine Chancen mehr hat. Sie muß nur eben ihren Gestaltungsraum, den sie anpeilt, erweitern.

Und diese Steuerentwicklung zum Beispiel zeigt, daß wir nicht mehr im bayerischen Rahmen das Problem lösen können, auch nicht im saarländischen Rahmen, das ohnehin, auch nicht im nationalen Rahmen der Bundesrepublik, aber im europäischen Rahmen können wir das Problem lösen, zumindest für einen guten Teil lösen. Natürlich springt das dann teilweise über auf die Globalisierungsdebatte, aber einen guten Teil können wir lösen.

Und so hat die Europäische Kommission unter dem Vorsitz des Kommissars Monti seit langem einen Vorschlag gemacht, europäische Steuern zu harmonisieren bei Ertragsteuern der Unternehmen, bei Zinsbesteuerung, bei anderen Steuerarten, auch bei der Vermögensbesteuerung, weil sie ja auch die fatale Nebenentwicklung dieses ganzen Steuersenkungswettlaufs sieht.

Unabhängig von der Einheit ist nämlich dann in Gesamteuropa ein ständiger Anstieg der Abgaben zu beobachten. Irgendwo muß man das Geld ja herkriegen. Und in dem Ausmaße, in dem die Nationalstaaten Europas nicht mehr bei Erträgen oder bei Geld oder bei Vermögen irgendwelche Steuereinnahmen haben, müssen sie ja dann irgendwo das Geld beschaffen. Und deshalb sind die Abgaben, die Sozialabgaben, immer weiter nach oben gegangen.

Dies wiederum hat in allen europäischen Staaten Folgen für den Arbeitsmarkt - darauf hat Jacques Delors in seinem Weißbuch hingewiesen.

Hat man das Sozialsystem allein an der Arbeit orientiert und hat man nur beitragsfinanzierte Systeme, dann ist es natürlich klar, wenn man dann in die Systeme noch Leistungen hineinpackt, die eigentlich gar nichts mit dem System zu tun haben, daß dies einen erheblichen Druck auf die Rationalisierung, auf die Wegrationalisierung der Arbeitsplätze zur Folge hat, wie wir in Deutschland beobachten können, aber nicht nur in Deutschland, in Deutschland aufgrund der einigungsbedingten Zusatzlasten allerdings mit besonderem Ausmaße.

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Und nun lautet die Frage: Wie kann man denn jetzt diese Entwicklungen korrigieren? Damit komme ich dann etwas auf die Binnendiskussion.

Ich will das am Beispiel der Rente deutlich machen. Bei der Rente müssen wir natürlich zunächst mal eine Frage stellen, sofern wir eben nicht nur in betriebswirtschaftlichen Größen denken und sofern wir uns noch dem Abendland verpflichtet fühlen, seinen Traditionen, seinen humanen Traditionen oder seinen christlichen Traditionen verpflichtet fühlen: Was ist die Rente? Und wie soll die Gesellschaft die Rente gestalten, unser Staat die Rente gestalten? Das heißt, wir müssen konkret uns die Frage vorlegen - und deshalb kritisiere ich die gegenwärtige Diskussion in der Bundesrepublik - nicht in erster Linie: Wie sollen die Lohnnebenkosten aussehen? Das ist auch eine wichtige Frage. Aber die primäre Frage ist: Wie soll sich der Lebensabend von Menschen gestalten, die ein Leben lang gearbeitet haben? So müßte doch eine humane, eine christliche Gesellschaft diese Frage - oder eine europäische Gesellschaft - diese Frage formulieren.

Und da muß diese Gesellschaft sich das augenblickliche Rentenniveau ansehen. Und dann stellt sie fest, daß die Durchschnittsrente der Frau bei 926 DM liegt, im Westen eher bei 900 DM wegen der unterschiedlichen Erwerbsbiographien, und die Durchschnittsrente des Mannes bei 1.600 DM liegt. Und dann ist die Frage, ist es ausreichend, ist es nicht ausreichend, zu beantworten. Und natürlich beantwortet das eben die Frau mit 900 DM anders als Herr StihI, Herr Henkel oder Herr Hundt oder wer auch immer. Auch das ist eine normale Situation in unserer Gesellschaft. Aber dennoch muß sich unsere Gesellschaft diese Frage stellen.

Und da sagen wir beispielsweise, daß es nicht möglich ist, hier etwa bei 900 DM eben noch mit Formeln einzugreifen, die längerfristig auf ein relatives Absenken dieser 900 DM hinauslaufen. Man kann sich dieser Meinung anschließen. Man kann auch der Meinung sein, 800 DM nach heutigem Lebensstandard reichen auch. Nur jeder muß sich da eine Meinung bilden. Denn bezahlt werden muß ja irgendwie alles. Und jeder muß eben auch diese gesamtgesellschaftliche Frage für sich beantworten.

Aber ich betone noch einmal auch für das Rentensystem: Hätten wir eben nicht die aus der Einheit erwachsenen zusätzlichen Belastungen, hätten wir 70 Mrd. Mark Überschuß im Westen, um deutlich zu machen, daß die Diskussion

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eben relativiert werden muß und natürlich hinsichtlich der gesamten Entwicklung in Europa neu durchdacht werden muß.

Und Herr Haack hat ja die Frage aufgeworfen, ob wir in Europa eher auf ein steuerfinanziertes Grundmodell setzen sollten oder auf ein beitragsfinanziertes Modell, wie es in der Bundesrepublik und in anderen Staaten, in vielen anderen Staaten Europas der Fall ist, oder ob man etwa auch das Schweizer Modell sich beispielsweise zur Grundlage zukünftiger Entwicklungen vorstellen kann. Es gibt ja unterschiedliche Modelle in Gesamteuropa. Die funktionieren unterschiedlich. Und wenn man über Reformen des Sozialstaates nachdenkt, glaube ich, ist es ganz normal, das macht jeder so, sich mal anzugucken, was andere machen. Und da kann man zu bestimmten Ergebnissen kommen.

Daß unser System allmählich Korrekturbedarf hat, ergibt sich auch aus zwei anderen Entwicklungen: die Entwicklung der Erwerbstätigkeit der Frauen und die Entwicklung zu mehr Teilzeitarbeitsplätzen. Das sind für mich zwei Fragestellungen, die mit hineingehören in die Reform des Rentensystems, nicht nur die Frage: Wie alt werden denn die Leute?

Wenn ich also noch etwas zu den 900 DM zusätzlich sagen will und weil auch einige Unternehmer hier sind, dann meine ich, daß ein zweiter Punkt angesprochen werden muß, den ich gestern im Bundestag versucht habe zu formulieren, der aber in der ganzen Debatte auch zu wenig berücksichtigt wird. Also zunächst mal glaube ich, ist es eine normale Frage zu sagen:

Was wollen wir denn den alten Menschen zubilligen, wir als Gesellschaft? Beim Generationenvertrag geht es aber nicht nur um die Alten, sondern geht es auch immer um die Jungen. Also, wenn eine gründliche Diskussion des Generationenvertrages stattfindet, muß man die demographische Entwicklung oben, aber auch unten sehen. Das nur als Nebenbemerkung.

Die zweite Forderung, die wir aber stellen als Sozialdemokraten, ist, daß man vielleicht für die Beitragszahler gelten lassen darf, was man in der Shareholder-Value-Gesellschaft für alle gelten läßt, in der Shareholder-Value- und Kapitalgesellschaft, nämlich die Frage der Realverzinsung meines Geldes über Jahre gerechnet. Kann eine Gesellschaft sagen, beispielsweise bei Aktien, bei Kapitaleinlagen, bei Sparbriefen, bei Versicherungen ist es selbstverständlich, daß wir auch über lange Laufzeiten diese Rendite ins Auge

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fassen. Bei der Rente stellen wir aber diese Frage nicht, sie ist uns völlig egal, sie interessiert uns nicht.

Ich meine, so kann man nicht herangehen. Ich meine, die jetzige Debatte muß also nicht nur auf das Lebensniveau bezogen geführt werden, sondern auch auf die Verzinsung der Gelder, die da angelegt werden, weil das ja auch den Druck groß macht, nicht-versicherungsfremde Leistungen zu finanzieren, damit man eben wirklich mal wieder Ordnung in das System bekommt. Und dann wird man feststellen, daß wir etwa in den guten Jahren, in den siebziger Jahren, immer noch Verzinsungen von rund 4% hatten trotz Kriegsfolgelasten und daß sich das heute in den Minusbereich bewegt. Also muß man mal darüber nachdenken, wie man zu dieser Entwicklung zu stehen hat.

Ich möchte darauf hinweisen, daß die Steuerfinanzierungsquote etwa des Rentensystems, aber auch des gesamten Sozialsystems gesunken ist in den letzten Jahren. Das ist die Frage, ob das eine richtige Entwicklung ist.

Und wir Sozialdemokraten sagen, diese Entwicklung ist nicht richtig, weil sie kollidiert mit den Ansprüchen, die ich vorher benannt habe. Und da sind Sie dann wiederum bei unserer Antwort, bei der Rente jetzt kurzfristig zunächst einmal die versicherungsfremden Leistungen herauszunehmen, aber langfristig zunächst mal bei dem Kernproblem anzusetzen, nämlich mehr Beschäftigung. Es ist ja nicht so, als wenn wir davon ausgehen dürfen, als sei jetzt diese Massenarbeitslosigkeit gottgegeben, gottgewollt und nicht mehr veränderbar.

Nicht nur das DIW, das auch immer im Verdacht steht, es sei nicht der herrschenden Lehre unterworfen, was ja auch stimmt, der herrschenden Angebotslehre ist das DIW nicht unterworfen, sondern auch das Münchner ifo-Institut, das nicht so in dem direkten Verdacht steht, hat kürzlich darauf hingewiesen, daß 40% der deutschen Arbeitslosigkeit, man könnte wahrscheinlich auch sagen der europäischen Arbeitslosigkeit, konjunkturbedingt sind, nicht strukturbedingt.

Da kommt dann der Vorschlag, eine andere makroökonomische Politik zu machen. Wenn das zutrifft, und ich glaube, vieles spricht dafür, daß diese Aussage in der Tendenz auf jeden Fall richtig ist, dann können wir Erhebliches durch eine andere Finanz-, Geld- und natürlich auch Tarifpolitik machen.

[Seite der Druckausg.: 29 ]

Auch dazu eine Bemerkung. Erster Satz, der ist völlig unstreitig in Deutschland, da kriegt man überall Beifall: Tarifpolitik ist falsch, wenn sie deutlich über das, was erarbeitet wird in der Wirtschaft, hinausschießt, denn man kann nicht mehr verteilen als erarbeitet ist. Ökonomisch kann man sagen:

Tarifpolitik ist falsch, wenn sie deutlich über die Produktivitätszuwächse hinausschießt. Dann geht es in die Inflation, dann geht es in den Abbau von Arbeitsplätzen.

Es gibt aber einen zweiten Satz, der ist in Deutschland umstritten: Tarifpolitik ist genauso falsch, wenn sie zu deutlich hinter der Produktivität hinterherhinkt. Denn dann führt sie zu einer systematischen Schwächung des Binnenmarktes und damit eben auch zu Arbeitsplatzverlusten.

Die Tarifpolitik wird auch im europäischen Rahmen eine größere Bedeutung haben als vorher. Warum? Weil viele Ökonomen zu Recht darauf hinweisen, daß die Wechselkurse natürlich eine Funktion haben. Da wir eine Auto-Gesellschaft sind, nimmt man immer Beispiele aus dem Auto. Und sie haben dann die Funktion des Stoßdämpfers gehabt. Wenn man jetzt aus dem Auto den Stoßdämpfer ausbaut, dann muß man andere Funktionen verbessern oder zu anderen Überlegungen kommen. Und das heißt, wenn also etwa Produktivitätsauseinanderentwicklungen in Europa nicht in der Lohnpolitik berücksichtigt würden, wenn beispielsweise ein Staat - das könnte theoretisch die Bundesrepublik sein - bei der Produktivität ordentlich den anderen Mitgliedstaaten vorauseilt, aber bei der Lohnentwicklung den anderen sogar hinterherhinkt, dann gibt es massive Probleme bei der Europäischen Währungsunion.

Bei der öffentlichen Debatte hat darauf Heiner Flassbeck kürzlich in einem Aufsatz in der Frankfurter Rundschau hingewiesen. Es ist ein erhebliches Problem, so daß wir also zukünftig nicht nur Koordinationsbedarf haben bei der Geldpolitik, die wird ja einheitlich gemacht. Wir werden den Artikel 103 des Maastricht-Vertrages mit Leben erfüllen, nämlich eine einheitliche Wirtschafts- und Finanzpolitik müssen wir konzipieren, eine Koordination muß her, denn sonst stochert die Geldpolitik im Nebel rum. Es kann nicht der eine Staat auf Wachstum machen, der andere Staat die Steuerpolitik so fahren, der nächste Staat die Haushaltspolitik so angehen. Was soll die Geldpolitik dann steuern? Und das gilt auch für die Tarifpolitik. Es wird also eine europäische Koordination der Tarifpolitik notwendig sein. Und das gilt selbstverständlich dann auch für die Sozialpolitik, um das nur noch kurz anzumerken.

[Seite der Druckausg.: 30 ]

Entsenderichtlinie: Das Thema ist ja nun in Deutschland hin- und hergewendet worden und auch klar. Wir werden da auch Zeit brauchen für Übergänge. Aber es ist klar, daß am Beispiel der Entsenderichtlinie deutlich gemacht werden kann, daß hier ein Regelungsbedarf besteht, der tarifpolitisch und sozialpolitisch zu definieren ist. Tarifpolitik allein ist es ja nicht. Das heißt, wir haben in Deutschland dafür Sorge zu tragen, daß auf deutschen Baustellen zu deutschen Tarifbedingungen gearbeitet werden muß. Denn eines geht nicht, daß der deutsche Arbeitnehmer das deutsche Kostenniveau bei Mieten und Ernährung hat, aber das polnische Lohnniveau oder das portugiesische Lohnniveau. Das geht nicht. Und deshalb besteht hier eben ein Regelungsbedarf.

Das kann man dann auch übertragen auf die sozialen Sicherungssysteme. Das ergibt sich dann ja logisch, ob das jetzt steuerfinanziert ist oder beitragsfinanziert ist.

Eines ist natürlich unstreitig. Wir können - und damit bin ich dann bei der aktuellen deutschen Debatte - die Lohnnebenkosten, die eine Folge eben unserer beitragsfinanzierten Systeme sind, nicht endlos nach oben gehen lassen. Sie sind zu hoch. Aber da hat man auch teilweise schon - und damit zeige ich, wo man ansetzen muß - Fehler gemacht gegen etwa meinen Rat in den letzten Jahren. Ein Beispiel ist die Pflegeversicherung. Ich habe betont, wir leben nicht mehr in einer Gesellschaft, die die Nachkriegsgesellschaft ist. Wir leben heute in einer Gesellschaft, in der große Vermögen vorhanden sind und auch große Vermögen vererbt werden. Es ist ja früher schon mal - die Soziologen haben ja immer neue Begriffe - von der „Erbengesellschaft" gesprochen worden. Und in einer solchen Gesellschaft wäre es richtiger gewesen, an dieser Stelle ein Modell zu übernehmen, das auch der BDI vertreten hat. Der BDI hat die Auffassung vertreten, es wäre sinnvoll, hier kein neues beitragsfinanziertes Modell zu machen, sondern ein steuerfinanziertes Modell mit Bedürftigkeitsprüfung.

Und an diesem Beispiel möchte ich andeuten, wo wir auch die vorhandenen Systeme überprüfen müssen. Denn es ist richtig, der Sozialstaat steht nicht zur Diskussion. Er muß nur zielgenau sein. Und die Zielgenauigkeit ist am Beispiel der Pflegeversicherung, aber auch an anderen Systemen zu definieren. Es muß dort geholfen werden, wo die Bedürftigkeit vorhanden ist. Der Sozialstaat ist dort zu korrigieren, wo Transferleistungen erbracht werden, die wohlhabenderen oder auch mittleren Einkommensschichten zugute

[Seite der Druckausg.: 31 ]

kommen, die sie nicht brauchen. Und dann kriegen wir ihn so im Hinblick auf die gesamte Wohlstandsschöpfung reduziert und auch strukturiert, daß er nach wie vor im europäischen Rahmen erhalten werden kann.

Endbemerkung: Die Globalisierung wird weitergehen. Sie bietet für unsere Wirtschaft sogar große Chancen. Wir sind die Volkswirtschaft, die pro Kopf am meisten Nutzen zieht aus der weltweiten Handelsverflechtung. Wir brauchen aber deshalb unseren zivilisatorischen Erfolg des Sozialstaates nicht aufzugeben. Wir müssen ihn nur reformieren nach dem Leitgedanken:

Nur dort, wo Bedürftigkeit herrscht, ist der Sozialstaat gefordert. Wo sie nicht herrscht, hat der Sozialstaat nichts verloren. Und dann kommen wir auch gut zurecht.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2000

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