FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 83 ]


Detlev Appenrodt
Statement zur Gesprächsrunde:
Langzeitarbeitslosigkeit und Ausgrenzung - Was können wir tun, um die Reintegration zu fördern?


In der Dienststelle Leverkusen waren in der 1. Jahreshälfte durchschnittlich rund 9.600 Arbeitnehmer oder knapp 12% aller zivilen abhängigen Erwerbspersonen arbeitslos gemeldet und hierunter 48% mit einer Arbeitslosigkeit von einem Jahr und länger.

75% dieser Langzeitarbeitslosen waren mindestens 50 Jahre alt, 51% besaßen keine abgeschlossene Berufsausbildung, Frauen waren mit 40% und Schwerbehinderte mit 11% beteiligt. - Viele von ihnen bezogen Sozialhilfe oder waren alleinerziehende Personen. Die Statistik faßt ihre Schicksale je zu einer Zahl zusammen.

Die erwähnten Daten deuten auf eine hohe Zahl von Langzeitarbeitslosen hin, lassen aber nicht erkennen, daß ein Teil dieser Langzeitarbeitslosen zwar der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht, an einer Rückkehr in das Erwerbsleben aber nicht interessiert ist, weil sie ihr Berufsleben als abgeschlossen betrachten und den Rentenbezug vor Augen haben.

Andere hingegen sind auf Arbeit angewiesen, um ihren und ihrer Familien Lebensunterhalt zu bestreiten; sie sind bereit und in der Lage, jede zumutbare Arbeit anzunehmen, die sich ihnen bietet. Von diesem Personenkreis ist im folgenden die Rede.

Arbeitslosigkeit belastet die Menschen, die Arbeit suchen und nicht finden, erheblich. Wie sich diese Belastung auswirken kann, ist in einer Studie, auf die in der Literatur hingewiesen wird, erhoben worden, und zwar in der sogenannten Marienthalstudie.

Die wirtschaftliche Depression Anfang der dreißiger Jahre hat in Österreich dazu geführt, die Auswirkungen der Massenarbeitslosigkeit wissenschaftlich zu erforschen. Als geeignetes Objekt bot sich das ehedem blühende Industriedorf Marienthal mit 1.486 Einwohnern und 478 Haushalten an. Hier waren die meisten Arbeitnehmer plötzlich arbeitslos gewor-

[Seite der Druckausg.: 84 ]

den und hingen mit 75% der Haushalte allein von der Arbeitslosenunterstützung ab.

Die Untersuchung hat vier Gruppen Arbeitslose herausgestellt und folgendermaßen beschrieben:

  • 48% der untersuchten Familien wurden als resigniert erlebt; sie hatten keine Pläne und Hoffnungen. Die Bedürfnisse waren weitestgehend eingeschränkt.

  • 16% waren ungebrochen und zeigten Aktivitäten für die Zukunft. Sie befanden sich auf permanenter Arbeitsuche.

  • Unter den hoffnungslosen Familien waren 11% als geradezu verzweifelt anzusehen. Zwar waren ihre Haushalte und die Pflege ihrer Kinder noch in Ordnung, jedoch hatte sich Depression und ein Gefühl der Vergeblichkeit aller Bemühungen breitgemacht. Von Arbeitsuche und Bemühungen um Besserung war längst nicht mehr die Rede.

  • Als apathisch galten schließlich 25%; Wohnung und Kinder waren verwahrlost, die Familien waren insgesamt durch Streitigkeiten und Verfall gekennzeichnet. Betteln, Stehlen und völlige Planlosigkeit herrschten vor.

Die Marienthalstudie liegt in vieler Hinsicht weit zurück. Die moderne soziale Sicherheit und die gesellschaftlichen Abfederungen der Folgen einer Arbeitslosigkeit sind nahezu unglaublich günstiger als in den dreißiger Jahren. - Aber dennoch ist die Studie heute so aktuell wie ehedem: Das Gefühl der Arbeitslosen, trotz angemessen vorhandener psychischer und physischer Fähigkeiten nicht gebraucht zu werden und nicht erwünscht zu sein, verletzt die Seelen und macht die Menschen krank, nicht sofort, sondern langsam, schleichend, aber dennoch sicher.

Page Top

Wie kommt Langzeitarbeitslosigkeit zustande?

Langzeitarbeitslosigkeit ist das Ergebnis eines Selektionsprozesses, in dem sich persönliche Risikofaktoren und örtliche Arbeitsmarktbesonderheiten einzeln oder kumuliert bemerkbar machen.

[Seite der Druckausg.: 85 ]

Personen, deren Qualifikationsprofile auf angebotene Stellen mindestens einigermaßen passen, verlassen die Arbeitslosigkeit und nehmen Arbeit auf. Das gleiche gilt für Menschen, die Arbeit jedweder Art emsig und beharrlich suchen und schließlich finden, oftmals eine gänzlich andere als zunächst erhofft.

Anders ist es bei denen, die trotz zumutbarer Eigensuche und trotz aller sonstigen Hilfen den angebotenen Stellen nicht entsprechen. Gelingt es diesen Menschen nicht, sich von - verständlichen - beruflichen Erwartungen zu trennen und jede Arbeit aufzunehmen, für die sie geistig und körperlich in Frage kommen, oder sich z.B. weiterbildend auf Stellenprofile hin zu bewegen, die auf dem Arbeitsmarkt nachgefragt werden, so verfestigt sich die Arbeitslosigkeit. Hieraus kann sich der einzelne kaum allein befreien.

Page Top

Bei der Lösung dieser Lebensfragen kann die Arbeitsverwaltung hilfreich dienen

Als erstes sind die Arbeitsvermittlungsdienste zu nennen, die immer wieder Stellen in fast allen Berufsbereichen anzubieten haben, die - jedenfalls mindestens ortsüblich entlohnt - auskömmlich sind und auf denen viele Menschen ihr tägliches Brot verdienen. Sie informieren auch über Arbeitsplätze, die zunächst nicht den Vorstellungen der Arbeitslosen entsprechen, aber ihnen durchaus zuzumuten sind.

Zu erwähnen ist noch die Förderung der beruflichen Weiterbildung, um durch sie Qualifizierungen zu erlangen, die bei der Stellensuche nützlich sind. - Daß die Arbeitsämter für Arbeitslose bei ihrer Arbeitsaufnahme weitgehend Hilfen leisten, ist allgemein bekannt.

Bedeutsam sind auch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM), in denen fast ausschließlich Langzeitarbeitslose beschäftigt werden.

Zu bemerken ist allerdings auch, daß die tägliche Erfahrung der Vermittlungsfachkräfte auch mit Langzeitarbeitslosen ein Bild erzeugt, das der allgemeinen Erwartung zu widersprechen scheint.

Es ist oftmals schwer, einen Teil der Langzeitarbeitslosen für offene Stellen - auch einfachster Struktur - zu gewinnen, weil sie vielfach Gründe

[Seite der Druckausg.: 86 ]

vortragen, die einer Arbeitsaufnahme entgegenstehen müssen und die im Zweifel zu akzeptieren sind; meistens handelt es sich um gesundheitliche Einschränkungen, von denen oftmals vorher niemals die Rede war. Besonders erstaunlich ist es auch, daß viele, auch Langzeitarbeitslose, sich nicht entschließen können, eine angebotene Stelle wenigstens persönlich in Augenschein zu nehmen oder eine Arbeit zunächst zur Probe zu beginnen, um festzustellen, ob ihre Beeinträchtigungen oder Behinderungen sich tatsächlich nachteilig auswirken oder nicht. Manche dieser Personen erwecken somit den Eindruck, als sei ihr Bestreben, ihren Zustand zu beenden, nicht besonders stark entwickelt.

Der Gesetzgeber ist sich der menschlichen Belastung und der Problematik der Langzeitarbeitslosigkeit bewußt und widmet sich ihrer in der zum 1.1.1997 in Kraft tretenden weiteren Novelle zum AFG. Nach ihr soll Langzeitarbeitslosigkeit möglichst im Vorfeld verhindert werden, indem die Arbeitsämter für Arbeitslose nach sechs Monaten einen Eingliederungsplan aufstellen sollen. Unter anderem kann in diesem Plan vorgesehen werden, daß in einem Übereinkommen zwischen Arbeitgeber, Arbeitslosem und Arbeitsamt eine bis zu sechs Monate dauernde Einarbeitung und Qualifizierung des Arbeitslosen im Betrieb unter Fortzahlung des Arbeitslosengeldes erfolgen soll.

Außerdem soll für Arbeitslose deutlicher als bisher festgelegt werden, welche Arbeiten zumutbar sind und daher Arbeitslosigkeit beenden könnten.

Als hilfreich bei der Reintegration Langzeitarbeitsloser in das Arbeitsleben hat sich auch die gemeinnützige Arbeitnehmerüberlassung, die in Leverkusen von der START Zeitarbeit GmbH betrieben wird, erwiesen.

Langzeitarbeitslose sind - wie hervorgehoben - jeweils oftmals seelisch beeinträchtigt und wirken daher vielfach antriebslos. Zu ihrer Eingliederung in Arbeit bedarf es sicher der Vermittlungsdienste der Arbeitsämter und der weiteren Qualifizierungs-, Anpassungs- und Einarbeitungsmöglichkeiten. Wichtiger ist vielfach die Neubegründung des seelisch-körperlichen Fundamentes, auf dem die Vermittlung in Arbeit gelingen kann und Qualifizierung aufzubauen in der Lage ist. Ohne eine Neubegründung des Selbstvertrauens dieser Arbeitslosen verfehlen alle Mühen ihren Zweck.

Demzufolge werden sich Maßnahmen der Gesellschaft künftig deutlich mehr auf die Beseitigung von seelischen Schäden richten müssen, die

[Seite der Druckausg.: 87 ]

durch Langzeitarbeitslosigkeit verursacht wurden. Werden sie beseitigt, so läßt sich sicher und solide weiterbauen.

Die geschilderten - durchaus unerfreulichen - Erfahrungen mit einigen - hoffentlich wenigen - Langzeitarbeitslosen dürfen hingegen nicht den Blick dafür verstellen, daß insgesamt zu wenig Arbeitsplätze vorhanden sind und daß vielfach eine verdrängende Fluktuation den Arbeitsmarkt beherrscht. Aus diesem Grund sind alle Überlegungen gut, die die vorhandene Arbeit so verteilen, daß möglichst viele Menschen an ihr partizipieren können.

Einen Weg in diese Richtung zeigt das neue Altersteilzeitgesetz, das am 1.8.1996 in Kraft getreten ist. Es ermöglicht 55 Jahre alten und älteren Arbeitnehmern einen gleitenden Übergang in den Ruhestand, sofern sie u.a. künftig nur noch die halbe Zeit, mindestens aber 18 Stunden wöchentlich, arbeiten wollen und der Arbeitgeber die durch Altersteilzeit freigewordene Stelle z.B. mit Arbeitslosen besetzt. Ob sich dieses Gesetz bewährt, wird sich erweisen; es führt jedenfalls in eine Richtung, aus der zusätzlich Beschäftigung erwachsen kann.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2000

Previous Page TOC Next Page