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TEILDOKUMENT:


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Eckart Fiedler
Medizinische Qualitätsgemeinschaft - Beispiel für geordneten Vertragswettbewerb


Ist unter dem Aspekt von Qualität und Wirtschaftlichkeit das medizinische Versorgungsangebot sinnvoll? Diese aktuelle Frage ist schwierig zu beantworten. Aber wir sind gezwungen, Antworten zu finden. Ich möchte der Friedrich-Ebert-Stiftung danken, daß sie uns heute Gelegenheit für den Versuch bietet, diesen Diskurs zu führen und Antworten zu formulieren. Antworten, die hoffentlich auch ihren politischen Niederschlag finden werden.

Es ist ein sehr aktueller Zeitpunkt, sich über diese Frage zu unterhalten. Denn wenn wir sparen müssen - und wir werden sparen müssen -, wird genau zu prüfen sein: Sind Rationalisierungsreserven im Sinne von mehr Qualität und Wirtschaftlichkeit vorhanden, oder sind Leistungskürzungen bzw. Leistungsrationierungen - wie immer man das nennen mag - unumgänglich?

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Die aktuelle Lage der Gesetzlichen Krankenversicherung

Das Thema ist auch deshalb so aktuell, weil die GKV im Jahr 1995 ein Defizit - nach statistischer Lage - von 7 Mrd. DM zu verzeichnen hatte. In Wahrheit steckt noch mehr dahinter. Niemand kann so optimistisch sein zu glauben, daß dieses Defizit 1996 kleiner wird. Es könnte nur dann kleiner werden, wenn die Einnahmen stärker steigen würden als die Ausgaben. Das ist eine Illusion. Die Wirklichkeit wird genau umgekehrt aussehen, weil die Einnahmenentwicklung äußerst bescheiden bleiben wird. Das zeigen die schon erfolgten und die sich abzeichnenden Tarifabschlüsse. Das zeigen leider auch die Tendenzen am Arbeitsmarkt, wo es im März 1996 eine halbe Million mehr Arbeitslose gab als im März 1995:

Das bedeutet für die gesetzliche Krankenversicherung Mindereinnahmen von 20% je Einzelfall. Auf der anderen Seite steht eine Ausgabenentwicklung, die mindestens der Grundlohnprognose des Bundesgesundheitsmini-

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sters folgen wird, die von 1,7% Zuwachs West und 4,5% Ost ausgeht, und die in jedem Fall über den Einnahmen liegen wird. Am Jahresende wird das Defizit also größer sein. Was ist dann zu tun? Da gibt es drei Alternativen:

  1. Die Beiträge erhöhen. Das wird passieren.

  2. Es sei denn, dies wird von politischer Seite unterbunden. Die Antwort, wie das geschehen könnte - sie wird im Moment gerade für die Rentenversicherung diskutiert -, lautet: Leistungsausgrenzung und Leistungskürzung.

  3. Es sei denn, es gelingt zu zeigen, daß im System eigentlich genügend Reserven stecken, die es bei richtigem Zupacken ermöglichen würden, daß alles, was medizinisch sinnvollerweise zu leisten ist, auch mit dem vorhandenen Geld geleistet werden kann.

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Qualität und Wirtschaftlichkeit - Verfassungsgebote

Ein kleiner Exkurs mit Blick in die Verfassung ist aufschlußreich: Danach hat der Bürger ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit und damit auch auf Gesundheit. Daraus resultiert für den Gesetzgeber die eindeutige sozialstaatliche Verpflichtung, allen Bürgerinnen und Bürgern möglichst gleiche Gesundheitschancen zu gewährleisten. Dabei hat er Leistungsfähigkeit, Humanität und Wirtschaftlichkeit der medizinischen Versorgung in Einklang zu bringen.

Ein Blick in das Gesetz, in das die GKV beherrschende SGB V, zeigt, daß dies genau der Wunsch und Wille des Gesetzgebers ist. Nach § 2 SGB V haben Qualität und Wirksamkeit der Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnis zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen. Nach § 70 Abs. 2 SGB V haben die Krankenkassen und die Leistungserbringer auf eine humane Krankenbehandlung ihrer Versicherten hinzuwirken. Und nach § 12 SGB V müssen die Leistungen ausreichend zweckmäßig und wirtschaftlich sein, sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten.

Diese Vorgaben sind nicht nur wichtig, weil sie Ausfluß unserer Verfassung sind. Sie sind gerade in einer sozialen Krankenversicherung zwin-

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gend, der eine solidarische Finanzierung und Umverteilung zugrunde liegt. Sie bietet gleichen Schutz bei - je nach Einkommenslage - unterschiedlicher Beitragshöhe. Gerade weil sie auch dem Schwächeren den gleichen Schutz garantiert, kann es aber auch nicht sein, daß der Schwächere einen Anspruch auf Luxus hat, auf Überflüssiges oder Unwirtschaftliches. Andererseits muß derjenige, der mehr zahlt, sicher sein, daß alle Versicherten nur Anspruch auf das Notwendige, das Zweckmäßige, das Ausreichende haben und die Leistungserbringer auch nur dies bewirken dürfen.

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Das Wirtschaftlichkeitsgebot in der Praxis

Notwendig, zweckmäßig, ausreichend - das sind die Maßstäbe für wirtschaftliche Qualität. Was bedeutet dieses Wirtschaftlichkeitsgebot für die Praxis? Folgende Komponenten spielen bei dieser Frage eine Rolle:

1. Der Preis der Leistung

Wir haben in der sozialen Krankenversicherung keine Privatliquidation, sondern die Verpflichtung, soziale Preise durchzusetzen. Der Preis einer Leistung variiert nicht nach Einkommenslage, er unterliegt nicht dem Ermessen im Einzelfall.

2. Die Qualität der Leistung oder des Produktes

Eine schlechte Leistung ist die teuerste, die man überhaupt bezahlen kann. Deshalb ist die Qualität der Leistung oder des Produktes so wichtig. Das Beispiel der Herzklappen verdeutlicht es: Bei dem Selbstkostendeckungsprinzip im Krankenhaus achtete das Krankenhausmanagement wahrscheinlich primär auf die Qualität, der Preis spielte kaum eine Rolle. Er wurde per Rechnung nachgewiesen, und die wurde bezahlt. Insofern war es damals unser Hauptaugenmerk, den Preis zu kontrollieren. Bei einer Fallpauschale ist es genau umgekehrt. Jetzt achtet das Management darauf, preisgünstig einzukaufen, und die Qualitätskomponente rückt für das Krankenhaus in den Hintergrund. Statt dessen muß jetzt der Kostenträger viel stärker auf die Qualität denn auf den Preis des einzelnen Produktes achten, weil der Gesamtpreis festliegt.

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3. Die Wirksamkeit der Leistung

Hier nur ein Beispiel: Wenn jedes Jahr Arzneimittel mit fraglicher Wirksamkeit für mehrere Milliarden DM verordnet werden, dann verstößt das eindeutig gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot.

4. Die Sicherheit der Leistung

Der vierte Punkt ist die Sicherheit. Nicht zuletzt die Diskussion über die HIV-verseuchten Blutkonserven hat gezeigt, wie wichtig der Aspekt der Sicherheit sein kann. Eine Nebenwirkung kann eine überaus fatale Folge sein in Relation zu dem, was eine Therapie oder ein Therapieschritt bewirken soll. Deshalb legen wir als Krankenversicherung besonderen Wert auf Schutz für unsere Versicherten, zum Beispiel, wenn wir im Rahmen von Apparate-Richtlinien einen hinreichenden Strahlenschutz sicherstellen.

5. Der therapeutische Nutzen der Leistung

In diesem Zusammenhang nur ein Schlagwort: diagnostischer Overkill. Wir haben eine unglaubliche Expansion und Verfeinerung in der Diagnostik, mit der aber die Therapie keineswegs Schritt hält. Man muß sich wirklich manchmal fragen: Was soll das alles, wenn es therapeutisch überhaupt keine Konsequenzen hat? Ist der therapeutische Nutzen einer an und für sich richtigen Maßnahme nicht gegeben, so stellt sich ein Teil des diagnostischen Aufwandes letztlich als überflüssig und somit unwirtschaftlich heraus.

6. Das medizinische Bedürfnis

Hiermit ist das Problem angesprochen, daß die Menge der erbrachten Leistungen oft eine Folge der Konkurrenzsituation ist: Wenn z.B. nicht das medizinisch Erforderliche, sondern das ökonomisch Gewünschte im Vordergrund steht. Denken wir beispielsweise an die Osteodensometrie (Messung der Knochendichte) oder den Großgeräteeinsatz ganz allgemein.

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Wo stecken die Unwirtschaftlichkeiten?

Wenn man das Angebot an medizinischen Leistungen einer Kosten-Nutzen-Analyse nach den sechs oben genannten Kriterien unterzieht, dann wird

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deutlich, daß es überall Unwirtschaftlichkeiten en masse gibt. Daß es auch in der Krankenversicherung Unwirtschaftlichkeiten gibt, kann nicht geleugnet werden.

Die Größenordnung dieser Unwirtschaftlichkeiten insgesamt zu bestimmen, ist ein Stück weit Spekulation. Minister Seehofer hat vor kurzem von 25 Mrd. DM gesprochen, das wären 10% aller Leistungsausgaben. Er hat in diesem Zusammenhang von „Schnickschnack" gesprochen - bei Kuren, beim Rettungswesen, bei Fahrtkostensteigerung, Gesundheitsförderung und Marketing. Es sei einmal dahingestellt, ob das alles Schnickschnack ist, es wäre kritisch zu hinterfragen. Aber ich würde zustimmen, daß wir ein 10%iges Sparpotential haben, ohne daß beim Sparen in dieser Größenordnung die Qualität der medizinischen Versorgung leiden oder Notwendiges gestrichen werden müßte. Dies gilt für alle Bereiche:

Krankenhaus

Da gibt es das Beispiel der Krankenhausfehlbelegung. Mit Einführung der stationären Pflegeleistungen in der Pflegeversicherung, deren Realisierung jetzt wieder in der Diskussion steht, will man 3 Mrd. DM einsparen. Das ist ja nur das Synonym dafür, daß bisher etwas bezahlt wurde, was eigentlich nicht Gegenstand der Krankenversorgung ist. Ohne es zu werten: Natürlich ist es richtig, das Problem der Pflege zu lösen, aber hier zeigt sich einfach eine Art von Wirtschaftlichkeitsreserve.

Oder die Frage des Fallzahlanstieges: Er wird immer angeführt als Argument für zwangsläufige Kostensteigerungen im Krankenhaus. Dem muß man entgegenhalten, daß der Fallzahlanstieg nach unseren Erkenntnissen primär auf Wochenendliegefälle zurückgeht, also auf Patienten, die als Notfälle ins Krankenhaus kommen und selbst eingewiesen werden. Erfreulicherweise liegen sie zwar nur sehr kurz, hier stellt sich aber die Frage, ob Not- und Bereitschaftsdienste im niedergelassenen Bereich ausreichend organisiert bzw. vorhanden sind, und ob entsprechende ambulante Angebote nicht einen solchen Fallzahlanstieg im Krankenhaus verhindern könnten.

Arzneimittel

Hier besteht nicht nur das Problem, daß wir teilweise unwirksame Arzneimittel haben. Sondern es gibt auch, nach wie vor, den sogenannten „Arzneimittelmüll" - ein Begriff, der zwar nicht ganz korrekt ist, aber

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dafür sehr deutlich. Die Größenordnung dieser zwar bezahlten, aber eben nicht eingenommenen Medikamente wird auf 4 Mrd. DM geschätzt - Jahr für Jahr.

Außerdem gibt es pro Jahr 300.000 Einweisungen ins Krankenhaus aufgrund von Arzneimittelunverträglichkeiten, von denen nach Expertenmeinung 150.000 auf einen Verordnungsfehler zurückzuführen sind.

Hilfsmittel

Es gibt ein deutlich zu großes Angebot an Hilfsmitteln. Deren Qualität muß oft in Frage gestellt werden. Das zersplitterte Angebot geht einher mit genereller Hochpreisigkeit in diesem Sektor, der noch zu wenig nach Marktgesetzen funktioniert.

Niedergelassene Ärzte

Aktuelles Beispiel: Wir haben im niedergelassenen Bereich zur Zeit einen nicht erklärbaren Anstieg der Abrechnungshäufigkeit von neuen Leistungspositionen des EBM. Etwa das hausärztliche Gespräch, Mindestdauer 15 Minuten, das, so die ersten Hinweise, in 60% aller internistischen Fälle auftauchen soll. Die Folge wäre ein Mehrbedarf von 6 Mrd. DM. Diese werden allerdings nicht gezahlt, statt dessen sinkt der Punktwert, und damit verschärft sich die Konkurrenzsituation der Ärzte untereinander deutlich. Notlösung: Der Länderausschuß der KBV empfiehlt eine Budgetregelung für Gesprächsleistungen.

Dutzende weiterer Beispiele wären möglich, auch für Marketing oder Gesundheitsförderung. Die Frage ist nur, welche Konsequenzen zieht man daraus? Da gibt es aus meiner Sicht drei für das System wichtige Schlußfolgerungen.

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Welche Konsequenzen haben die Unwirtschaftlichkeiten für das System?

1. Der angebotsinduzierten Mengenentwicklung gegensteuern

Die angebotsinduzierte Mengenentwicklung ist nicht zu leugnen, sie ist Fakt. Dies ist nicht nur eine Frage des Konkurrenzdrucks im niedergelas-

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senen Bereich, sondern es gibt auch zu viele Krankenhausbetten, zu viele Großgeräte und so weiter. Unverändert stellt sich deshalb die Frage, wie hier gegenzusteuern ist, um diese Wirtschaftlichkeitsreserve zu mobilisieren.

2. Patienten durch Kollektiv-Verträge schützen

Die zweite Schlußfolgerung ist - die aktuelle Entwicklung des EBM belegt dies noch einmal -, daß nicht der Patient konkrete medizinische Leistungen nachfragt. Ihn treibt - absolut verständlich im Krankheitsfall - der mehr unspezifische Wunsch nach Gesundung. Dabei muß man unterstellen, daß die Urteilsfähigkeit des Patienten als „Konsument" stark eingeschränkt ist. Deshalb muß der Patient durch kollektive vertragliche - nicht durch einzelvertragliche - Regelungen geschützt werden.

3. Das Sachleistungssystem als Voraussetzung für soziale Preise, Qualität und Wirtschaftlichkeit

Der Schutz des Patienten ist die Begründung für das Sachleistungssystem. Dieses Sachleistungssystem - und hier genau liegt sein Wert - ist die Voraussetzung für soziale Preise, für Qualität und für Wirtschaftlichkeit. Hier sei nur an die Passivität der privaten Krankenversicherung erinnert, die von den Anstrengungen der gesetzlichen Krankenversicherung auf der Basis dieses Sachleistungssystems profitiert.

Was bedeutet denn Sachleistungssystem? Die Kostenträger müssen in Vertragsbeziehungen zu den Leistungserbringern treten und haben damit die Möglichkeit und Verpflichtung, die Wirtschaftlichkeit durch angemessene Preise und gute Qualität zu garantieren. Man sehe sich nur an, welche Richtlinien ständig von den Bundesausschüssen erlassen werden, dort wird es konkret.

In der aktuellen Diskussion um Wettbewerb wird die Frage immer wieder aufgeworfen: Muß oder soll diese Vertragsbeziehung zwischen Kostenträger und Leistungserbringer ein Einzelvertrag oder ein Kollektivvertrag sein? Das ist eine Gretchenfrage, auch für die Frage der Wirtschaftlichkeit. Hier kann man auf die Erfahrungen zurückgreifen. Dann wird man deutlich erkennen, daß Einzelverträge sehr schnell entarten in Knebelverträge, denn dann sieht auch der Kostenträger nicht mehr Qualität und Wirtschaftlichkeit im Vordergrund, sondern nur noch die Minimierung im

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Preis. Damit wird die Qualität vernachlässigt, und „billig" steht im Mittelpunkt. Das kann es nicht sein.

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Der niedergelassene Arzt als Schlüsselfigur im Gesamtsystem

Ich glaube, daß in einer sozialen Krankenversicherung mit solidarischer Umverteilung, wo Luxus und Überflüssiges vermieden werden muß, der niedergelassene Arzt die Schlüsselfigur im Gesamtsystem darstellt. Er veranlaßt das Vierfache an Honorar im Vergleich zu dem, was er selber bekommt. Der niedergelassene Arzt steht permanent vor der Entscheidung, ob er etwas gewährt oder ob er etwas versagt. Er ist es, der zwischen der Individualpflicht in der Patientenbeziehung einerseits und der Sozialpflicht andererseits steht. Denn der Sozialpflicht unterliegt er ja als Mitglied einer Genossenschaft, die wiederum Verträge mit den Kostenträgern geschlossen hat. Für diese Entscheidung, die unglaublich schwierig im Einzelfall sein kann, muß ihm ein gemeinschaftlich entwickelter Rahmen gegeben werden. Der Arzt braucht einerseits Hilfestellung, es muß aber auch geprüft werden, ob er die Bedingungen der Wirtschaftlichkeit einhält.

Das kann nur Aufgabe einer gemeinsamen Selbstverwaltung sein, damit dieses Problem wirklich optimal und sachgerecht gelöst wird, in ausgewogener Betrachtung aller Komponenten, die Wirtschaftlichkeit und Qualität ausmachen. Gerade unter dem Aspekt der wirtschaftlichen Qualität in der sozialen Krankenversicherung gilt: Bei dieser Entscheidung zwischen Sozialpflicht und Individualpflicht können im Einzelfall ethische Probleme auftreten. Da ist kein Diktat möglich nach dem Motto: „Du hast so und so zu handeln". Gerade in diesen schwierigen Fällen bedarf es einer kollektiven Abstimmung mit den Partnern auf Ärzteseite darüber, wie verfahren werden kann, soweit das überhaupt kollektiv zu entscheiden ist.

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Partnerschaft zwischen Kollektiven

Nicht der Einzelvertrag kann hier die Lösung bringen. Nur der Gemeinschaftsvertrag hat eigentlich Zukunft. Dies ist eine deutliche Absage an das Einkaufsmodell. Im übrigen: Wer wäre bei einem Einkaufsmodell der Einkäufer? Die GKV? Dann ist sie das Monopol, ganz klar! Und es würde

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immer ein Gegenmonopol geben, ob es nun staatlich sanktioniert wäre oder sich selber vereinsmäßig organisiert hätte. Wäre es die einzelne Kasse, die einkauft und so den einzelnen Leistungserbringer unter Vertrag nimmt, dann käme es zu einer automatischen Zersplitterung der Versorgungs- und Vertragsstrukturen, die letztlich keiner mehr durchschaut.

Es darf aber auch umgekehrt nicht dazu kommen, daß die KV mit ihrem gesetzlichen Sicherstellungsauftrag die einzelnen Krankenkassen gegeneinander ausspielt. Hier muß man deutlich machen: Kassenwettbewerb bei einer monopolisierten Versorgungsstruktur ist eine sehr problematische Lösung, weil sie die teuerste und auch in bezug auf Qualität, Wirtschaftlichkeit und Leistungsfähigkeit die schlechteste Lösung werden könnte. Deshalb muß man sich immer wieder Gedanken darüber machen, was Wettbewerb in einer sozialen Krankenversicherung nur leisten kann und leisten soll.

Die GKV-Gemeinschaft hat sich immer dafür ausgesprochen, in den Mittelpunkt dieses Wettbewerbs nicht den Leistungswettbewerb zu stellen, der sehr schnell dazu tendiert, teuer zu werden. Sie plädiert vielmehr für einen Vertragswettbewerb in einer solidarischen Wettbewerbsordnung: Steigerung von Qualität und Leistungsfälligkeit der medizinischen Versorgung durch die Mobilisierung von Wirtschaftlichkeitsreserven. In dieser Ausrichtung kann Wettbewerb in einer sozialen Krankenversicherung richtig wirken und wichtig sein. Schließlich haben die Vereinheitlichungen der letzten Jahren und Jahrzehnte, 1977 begonnen mit dem KVKG, gezeigt, daß sich vor allem Reglementierung und Bürokratie entwickelt haben: Mit ihrer Hilfe konnte man die Kosten zwar dämpfen, nicht aber in den Griff bekommen. Kreativität, Engagement und Innovation, die im System der sozialen Krankenversicherung vorhanden sind, müssen aber in eine positive Richtung gelenkt werden. Ich denke an die Optimierung der medizinischen Versorgung durch einen geordneten Vertragswettbewerb.

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„Medizinische Qualitätsgemeinschaft" - ein Beispiel für geordneten Vertragswettbewerb

Wie kann diese Optimierung der medizinischen Versorgung aussehen? Das soll an einem Beispiel aufgezeigt werden, das ich unter dem Schlag-

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wort „Medizinische Qualitätsgemeinschaft" vorstellen will. Der Kerngedanke einer solchen Qualitätsgemeinschaft: Unwirtschaftliches Konkurrenzverhalten, Flucht in die Menge, Willfährigkeit gegenüber Patientenwünschen - all dies wird durch gruppendynamische Effekte einerseits sowie Anreize im System andererseits auf ein Minimum reduziert. Völlig vermeiden kann man Unwirtschaftlichkeiten nie, das wäre eine Illusion. Es gilt aber, ein Minimum anzustreben.

Im Mittelpunkt der Medizinischen Qualitätsgemeinschaft steht eine überschaubare, also nicht zu große Gruppe niedergelassener Ärzte aller Fachrichtungen. Sie schließen sich zu einer Qualitätsgemeinschaft zusammen zwecks medizinischer Versorgung der Versicherten in einer Region, das kann ein Stadtteil, eine Stadt, eine Kleinstadt oder ein ländlicher Bezirk sein. Das Ziel der Medizinischen Qualitätsgemeinschaft: Durch ein abgestimmtes medizinisches Verhalten eine Versorgung auf qualitativ gutem Niveau in rationellster Weise zu gewährleisten.

Was sind die Eckpunkte eines solchen Modells?

1. Gemeinsamer Vertrag auf freiwilliger Basis

Es gibt einen gemeinsamen Vertrag zwischen drei Parteien: den beteiligten Ärzten, der KV als ihrer Interessenorganisation und dem Kostenträger, wer immer auch von seiten der Kostenträger an einem solchen Modell teilnimmt. Der Vertrag regelt die Grundelemente, darf aber nicht so aussehen, daß sich pflichtweise Mitglieder in einer solchen Gemeinschaft wiederfinden. Wichtig ist, daß die Ärzte freiwillig, aus der Überzeugung heraus in einer solchen Gemeinschaft mitmachen.

2. Gruppendynamische Effekte

Mit gruppendynamischen Effekten ist der Gedanke bezeichnet, daß Kollegialität und Vernunft Qualität und Wirtschaftlichkeit erzeugen müßten. Eine überschaubare Gruppe wird diesen Versuch in jedem Fall angehen, sie kann damit Erfolg haben. Zum Beispiel, wenn sie gemeinsame Leitlinien für die Diagnostik berät und womöglich festlegt, wenn sie gemeinsame Empfehlungen für die Therapie gibt. Oder wenn sie eine Art „Positivliste" für sich selber erarbeitet, beispielsweise für Arzneimittel, für Hilfsmittel oder für Krankenhauseinweisungen. Man kann sehr hohe Ansprüche an ein Krankenhaus stellen, auch hinsichtlich des Umfanges oder der

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Schnelligkeit des Krankenhaus-Entlassungsberichtes, wenn man als Kollektiv auftritt. Die kollegiale Zusammenarbeit kann gefördert werden, zum Beispiel, indem Gerätepools gemeinsam genutzt werden, durch gemeinsame Qualitätszirkel, Konsensuskonferenzen oder die Absicht, Zweitmeinungen einzuholen.

3. Hilfe durch Praxismanagement

Die beteiligten Ärzte müssen eine Außenhilfe erhalten, ein Praxismanagement. Dieses Praxismanagement unterbreitet Vorschläge, wie die Organisationsabläufe in den Praxen einer solchen Gruppe zu optimieren sind: Laufzettel für den Patienten, Vernetzung der EDV-Systeme, technisch gute Abrechnung (nicht Optimierung der Abrechnung!).

Mit der Einrichtung einer Leitstelle, die sowohl für die Ärzte wie für die Patienten da ist, ist sichergestellt, daß etwa pflegerische Hilfe schnell vermittelt werden kann, wenn der Arzt sie für notwendig hält; oder umgekehrt, daß ein Patient über die Leitstelle an den richtigen Arzt verwiesen wird.

Die Einrichtung einer Anlaufpraxis, die immer dann zur Verfügung steht, wenn die normale Sprechstunde nicht mehr besetzt ist, führt dazu, daß die Patienten zu ungelegener Zeit, am Wochenende, in der Nacht, immer Hilfe finden und nicht automatisch ins Krankenhaus gehen müssen. Diese ambulante Anlaufpraxis kann sich sogar in einem Krankenhaus einmieten!

Die Bildung eines Personalpools hilft den Ärzten: Wenn in ihrer Praxis Personal erkrankt, können sie sofort auf qualifizierte Hilfe zurückgreifen.

Wichtig ist schließlich auch die ständige Motivation und der Ansporn für eine solche Gruppe.

4. Eigenes Honorarbudget als Teil der KV-Gesamtvergütung

Dies ist ein zentraler Punkt: Eine Medizinische Qualitätsgemeinschaft braucht ihr eigenes Honorarbudget, und zwar als Teil der Gesamtvergütung, die an die KV geht und die über die KV verteilt wird. Denn es leuchtet ein: Wer spart, alles Überflüssige vermeidet, sich engagiert, weniger Punktzahlen produziert - und dann aber dennoch einen niedrigen Punktwert hat, weil in der Umgebung weiter fleißig „Menge" betrieben wird - der folgt schnell diesem Beispiel. Wenn man sich hingegen zu-

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sammenschließt und das Wort „kollegial" praktiziert, dann muß es auch die Sicherheit geben, daß einem die Bemühungen um Sparsamkeit durch eine Stabilisierung des (Gruppen-)Punktwertes zugute kommen. Man könnte sogar soweit gehen, auch angesichts der aktuellen Erfahrung mit dem EBM, daß dieser Gruppe die Verteilung dieses Budgets einmal selbst überlassen bleibt. So ist eine Verteilung vorstellbar, die jedem eine gleich hohe Grundpauschale gibt, eine Kostenpauschale je nach Praxisstruktur, und eine zusätzliche Leistungskomponente, die untereinander abgesprochen wird. Das wären bereits alle Komponenten für ein gutes ärztliches Arbeiten ohne die Angst im Nacken, daß man sein Handeln nach der Gebührenordnung ausrichten muß; dafür mit der Gewißheit, daß die Kostenstruktur der Praxis stimmt.

5. Anreize bei den veranlaßten Leistungen

Für den Bereich der veranlaßten Leistung ist ein Anreiz zum Sparen notwendig. Früher wurde kritisch diskutiert, inwieweit man Einsparungen bei veranlaßten Leistungen dem Arzt zugute kommen lassen sollte. Ich meine, wenn hier durch wirtschaftliches Verhalten gespart wird, dann sollten Leistungserbringer und Kostenträger daran teilhaben.

6. Unterstützung durch die Kostenträger

Ein solches Modell „Medizinische Qualitätsgemeinschaft" braucht selbstverständlich die Unterstützung der Kostenträger. Sie müssen eine Anschubfinanzierung leisten für das Praxismanagement, sie müssen das Honorarbudget bei Einsparungen im veranlaßten Bereich aufstocken, sie müssen die nötigen Transparenzdaten zur Verfügung stellen, auch für den stationären Bereich bzw. insgesamt für den Bereich der veranlaßten Leistungen. Die Kostenträger müssen ihre Versicherten motivieren und sie über die Vorteile des Modells, auch für sie persönlich, aufklären. Sie müßten sogar eine Zusammenarbeit in dem wichtigen Feld der Gesundheitsförderung anbieten. Schließlich müßten sie eine gemeinsame wissenschaftliche Begleitung durchführen.

Die Zielerwartung an ein solches Modell ist, daß es eine Steigerung von Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesamtsystem bewirkt. Es soll medizinisch überflüssige Leistungen eliminieren, ob es nun Doppeluntersuchungen sind oder überflüssige Untersuchungen wegen mangelnder Ko-

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ordination oder die Flucht in die Menge. Man käme zu Kosteneinsparungen durch einen effektiveren Geräteeinsatz. Damit wird der Punktwert und somit das Einkommen nicht nur stabilisiert, sondern beides kann auch steigen. Eine humane Art der Versorgung wäre dies auch deshalb, weil soviel wie möglich ambulant behandelt würde.

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Unter welchen Bedingungen funktioniert ein solches Modell?

1. Bedarfsplanung

Eine Bedarfsplanung im ärztlichen Bereich ist unerläßlich. Wenn eine Medizinische Qualitätsgemeinschaft gut funktioniert, darf es nicht passieren, daß sich viele Ärzte zusätzlich niederlassen. Eine Gegensteuerung ist nicht nur im ärztlichen Bereich, sondern auch im medizinisch-technischen Bereich notwendig.

2. Partnerschaft mit dem Krankenhaus

Genauso wichtig ist eine partnerschaftliche Einbindung des Krankenhausbereichs. Es kann und darf in solch einem Modell nicht zu einer Gegnerschaft zum Krankenhaus kommen. Das Krankenhaus ist und bleibt ein eminent wichtiger Partner in der Versorgung von Kranken. Es muß eine sinnvolle Arbeitsteilung geben mit dem stationären Bereich dahingehend, daß die stationäre Versorgung Schwerkranker ohnehin dort hingehört. Auch die ambulante Erbringung hochspezialisierter medizinischer Leistungen sollte womöglich im Krankenhaus erfolgen. Ein Beispiel: Ambulante Linksherzkatheder-Meßuntersuchungen in einer Praxis sind höchst problematisch - um es nicht noch schärfer ausdrücken. Die medizinisch sinnvolle Arbeitsteilung darf kein Zerren unter Konkurrenten sein, sondern hier muß es zu partnerschaftlichen Strukturen kommen. Dabei muß es weiterhin zu einer gemeinsamen Nutzung medizinisch-technischer Großgeräte, Labors usw. kommen, an der beide Seiten partizipieren.

3. Vorfahrt für eine gemeinsame Selbstverwaltung

Wir brauchen eine wirkliche Vorfahrt für die gemeinsame Selbstverwaltung - bis hin zum gemeinsamen Einkauf veranlaßter Leistungen, sei es im Rettungswesen, bei Fahrtkosten, bei Hilfsmitteln oder auch im Zuge

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von Preisverhandlungen für Arzneimittel. Solche Wege muß man einschlagen, um tatsächlich Wirtschaftlichkeit in einem System zu erreichen.

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Modell für eine mittelfristige Optimierung der Versorgung

Dieses Modell einer Medizinischen Qualitätsgemeinschaft - von wem es auch durchgeführt wird - kann eine Vorreiterrolle spielen im Bemühen, zu einer mittelfristigen Optimierung der medizinischen Versorgung aller GKV-Versicherten zu kommen: weil Vertragswettbewerb über Modelle geführt werden muß, die letzten Endes mittelfristig, wenn sie denn erfolgreich sind, allen Versicherten zugute kommen, indem sie Nachahmer finden; weil es keinen Patentschutz auf gute Modelle, die erfolgreich sind, gibt. Das bedeutet nicht, daß jedes Modell automatisch kopiert werden muß. Ein solches Modell wie die Medizinische Qualitätsgemeinschaft mag durchaus auf Skepsis stoßen. Wir wiederum stehen etwa dem Modell eines „Hausarzt-Abos" skeptisch gegenüber, weil es den Gegensatz zwischen Hausärzten und Fachärzten verschärft. Lassen wir das einmal offen. Wenn ein Modell erfolgreich ist, wird es Nachahmer finden, das ist die Prognose. Genau so stellen wir uns einen Wettbewerb zur Mobilisierung von Wirtschaftlichkeitsreserven vor: ein Innovationswettbewerb, der letztlich dazu dient, die Gemeinsamkeiten in der GKV zu stärken.

Unter dem Einfluß von Risikostrukturausgleich und Wahlfreiheit findet derzeit ein Kassenwettbewerb statt, der äußerst problematisch ist: ausuferndes Marketing - sei es mit Kopfprämien, mit Fernsehspots oder Anzeigen; eine teilweise unsinnige Gesundheitsförderung, die dazu führte, daß Fitneßstudios Hochkonjunktur haben. Hier und dort blitzt eine Risikoselektion auf; wir haben ein unsolidarisches Verhalten dadurch, wenn man auf der einen Seite Solidarität gewährt, gleichzeitig aber den Zwang zur Beitragsrückgewähr einführt und damit zur Entsolidarisierung; wir haben womöglich - lassen Sie mich einmal dieses scharfe Wort nennen - die Erpreßbarkeit durch Leistungserbringer, zum Beispiel im Bereich der ambulanten Rehabilitation.

Dieses Szenario macht deutlich: Kreativität, Engagement und Innovation sind fehlgeleitet. Deshalb ist es dringend erforderlich, daß dem positiven Vertragswettbewerb, wie ihn die aktuelle Gesetzeslage nur sehr einge-

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schränkt ermöglicht, eine Chance gegeben wird. Wir müssen zu einem freiheitlichen Wettbewerb durch Modellversuche im Vertragsbereich kommen. Freiheitlich - das meint auch den Mut, solchen Modellen zur Optimierung von Qualität, Humanität und Wirtschaftlichkeit der medizinischen Versorgung eine Chance zu geben, bevor man Leistungen ausgrenzt.

Ein solcher Wettbewerb muß und wird schließlich auch deshalb richtig sein, weil er letztlich nicht nur den GKV-Versicherten insgesamt zugute kommt, sondern indirekt auch den Arbeitgebern. Deshalb sollten wir, trotz Risikostrukturausgleich und Wahlfreiheit, stärker auf das Verbindende in der GKV achten, wir sollten gemeinsame politische Forderungen an die Politik richten. Ansonsten werden wir am Jahresende eine Situation erleben, die in einer weiteren Vereinheitlichungs- und Reglementierungswelle ihren Niederschlag findet, und dann wären wir wirklich am Ende.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2000

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