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TEILDOKUMENT:




[Seite der Druckausg.: 7 ]


Martin Pfaff
Einführung *
[Fn.*: Der Verfasser dankt Herrn Dr. Frieder Nagel. Universität Augsburg, für wertvolle Hinweise.]


Am 7. September 1995 wurde die Ergänzende Vereinbarung zur Reform des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs (EBM) 1995 von den Partnern der Bundesmantelverträge Ärzte/Krankenkassen verabschiedet.

Als Ziel der EBM-Reform geben die Vertragspartner an:

  • „die Effizienz der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung zu erhöhen und
  • mittelfristig die Entwicklung der Punktzahlmenge als Voraussetzung für die Vergütung fester Punktwerte in möglichst vielen Leistungsbereichen kalkulierbar zu machen." [Fn.1: Vgl. Ergänzende Vereinbarung zur Reform des EBM, in der Entwurfs-Fassung vom 30.8.1995, S. 1]

Diese Ziele sollen über folgende Maßnahmen erreicht werden:

  • „Straffung des Leistungsverzeichnisses durch Bildung von Leistungskomplexen, die gleichzeitig einer medizinisch nicht begründbaren Leistungsbedarfsentwicklung entgegenwirken.
  • Schaffung angemessener Bewertungsrelationen im EBM, insbesondere zur Verbesserung der hausärztlichen Vergütung.
  • Ausschöpfung von Wirtschaftlichkeitsreserven und Rationalisierungspotentialen, insbesondere bei medizinisch-technischen Leistungen.
  • Schaffung von ökonomischen Anreizen für eine wirtschaftliche Leistungserbringung unter Kooperation der Vertragsärzte." [Fn.2: Ebd.]

Damit sollen die gesetzlichen Vorgaben des § 87 Abs. 2a und 2b SGB V (Sozialgesetzbuch) realisiert werden.

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Diese Vereinbarung wirft mehrere Fragen auf:

  1. Welche Rolle spielt der EBM für das Leistungsgeschehen in der ambulant-ärztlichen Versorgung und für das Gesundheitswesen schlechthin?
  2. Wie sind die Rahmenbedingungen für eine Neugestaltung des EBM zu beurteilen?
  3. Welche zentralen Elemente enthält der neue EBM?
  4. Wie sind diese zu bewerten? D.h., werden sie die vorgegebenen Ziele auch tatsächlich erreichen können?

In den folgenden Teilen wird diesen Fragen - wenn auch mit unterschiedlichem Gewicht - nachgegangen.

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1. Welche Rolle spielt der EBM für das Leistungsgeschehen in der ambulant-ärztlichen Versorgung und für das Gesundheitswesen schlechthin?

Mit dem EBM wird die Vergütung vertragsärztlicher Leistungen nicht nur in wesentlichen Zügen geregelt. Es wird dadurch ein starker Einfluß auf das Leistungsgeschehen in der ambulanten ärztlichen Versorgung ausgeübt. Erstens wird durch den EBM festgelegt, welche Leistungen vergütet werden und welche nicht, wodurch klarerweise das tatsächliche Leistungsspektrum abgesteckt wird. Zweitens wird die relative Höhe dieser Vergütungen festgelegt, mithin also das wertmäßige Verhältnis, in dem ärztliche Leistungen zueinander stehen. Dadurch können Anreize für oder gegen die Erbringung bestimmter Leistungen gesetzt werden.

Diese Regelungen sind darüber hinaus, drittens, von erheblicher Bedeutung für das Gesundheitswesen insgesamt, beeinflußt doch die Art und Weise, wie ärztliche Leistungen honoriert werden, nicht nur Quantität und Qualität dieser Leistungen, sondern auch das Verordnungs- und Überweisungsverhalten des Arztes. Letzteres bedeutet, daß damit ganz wesentlich auch das Leistungsgeschehen außerhalb des vertragsärztlichen Bereiches tangiert wird. Ersteres prägt den Gesamteindruck eines Patienten vom Gesundheitswesen und damit sein generelles gesundheitliches Verhalten, da der Patient im Regelfall über den Vertragsarzt den Erstkontakt mit dem Gesundheitswesen aufnimmt.

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Das bisher gesagte deutet darauf hin, daß mit der EBM-Reform eine Schlüsselstelle im Gesundheitssystem betroffen ist. Dabei geht es also nicht nur um finanzielle, sondern auch um reale Auswirkungen im Gesundheitswesen, also nicht nur um Preise und Kosten, sondern vor allem auch um Mengen und Strukturen.

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2. Wie sind die Rahmenbedingungen für eine Neugestaltung des EBM zu beurteilen?

Auf die mit dem bislang praktizierten Vergütungssystem verbundenen Probleme hat der Sachverständigenrat der Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen (SVRKAiG) bereits in seinem ersten Jahresgutachten ausführlich hingewiesen. [Fn.3: Vgl. etwa: SVRKAiG, Jg. 1988, Medizinische und ökonomische Orientierung, Baden-Baden 1988, Tz. 116-119.]
Auch die Anforderungen, die an ein zukünftiges, rationales Vergütungssystem zu stellen sind, hat der SVRKAiG seit langem formuliert: [Fn.4: Vgl. etwa: SVRKAiG, Jg. 1989, Qualität, Wirtschaftlichkeit und Perspektiven der Gesundheitsversorgung, Baden-Baden 1989, Tz. 296-301.]

„Es soll u.a. keine Anreize zu medizinisch ungerechtfertigten Leistungsmengenausweitungen geben, das medizinisch Erforderliche aber in guter Qualität sicherstellen, überflüssige Doppelleistungen vermeiden und zu einer funktionsgerechten Arbeitsteilung innerhalb der ambulanten Versorgung und zwischen dem ambulanten und stationären Sektor führen. Gleichzeitig soll die notwendige Fachkunde gesichert, das Aus- und Weiterbildungsniveau gefördert und ein möglichst hoher technischer Standard gewährleistet werden. Schließlich sollte eine Patientenselektion vermieden werden, und es sollen einfache Prüfmöglichkeiten und ein hohes Maß an Flexibilität bestehen.

Es dürfte kaum überraschen, daß bislang noch kein Vergütungssystem gefunden werden konnte, das allen diesen Anforderungen gleichzeitig gerecht werden könnte." [Fn.5: Zitiert in: Pfaff, M. und Nagel, F., Vergütungsformen in der vertragsärztlichen Versorgung: Ein Überblick über Honorierungsmodelle und ihre Steuerungswirkungen, in: Soziale Sicherheit, 44. Jg., Heft 2, Februar 1995, S. 41.]

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Darüber hinaus hat der SVRKAiG in seinem „Primärarztsystem" selbst einen Reformvorschlag unterbreitet [Fn.6: Vgl. SVRKAiG, Jg. 1989, Qualität, Wirtschaftlichkeit und Perspektiven der Gesundheitsversorgung, Baden-Baden 1989, Tz. 301 ff.]
Dennoch wurden in den letzten Jahren keine einschneidenden Reformen der ärztlichen Vergütung durchgeführt.

Massiver Druck auf die Honorarpolitik im Hinblick auf eine Neugestaltung des EBM ist erst in Folge des Gesundheits-Strukturgesetzes (GSG) 1993 entstanden, und dies gleich in mehrfacher Hinsicht:

  1. Durch die in § 73 SGB V festgelegte Neuordnung der vertragsärztlichen Versorgung in eine hausärztliche und eine fachärztliche Versorgung ist eine Neugestaltung insbesondere der Vergütung hausärztlicher Leistungen erforderlich geworden. Insbesondere das hausärztliche Aufgabenspektrum konnte mittels des bisherigen EBM nur unbefriedigend erfaßt werden.
  2. Des weiteren zielt das GSG darauf ab. Wirtschaftlichkeitsreserven durch eine verbesserte Abstimmung in der medizinischen Versorgung (z.B. hausärztliche Versorgung und Krankenhausversorgung) zu realisieren. Der bisherige EBM war aber kaum geeignet, den mitwirkenden Ärzten den dabei auftretenden Koordinierungs- und Abstimmungsaufwand entsprechend zu honorieren.
  3. Vor allem aber wird im GSG 1993 ganz explizit eine Neuordnung des EBM bis zum 31.12.1995 gefordert (§ 87 Abs. 2a SGB V). Dabei sind Leistungen zu Leistungskomplexen zusammenzufassen, es soll eine hausärztliche Grundvergütung für üblicherweise von Hausärzten erbrachte Leistungen eingeführt werden und es sollen weitere, nur von Hausärzten abrechenbare Leistungen festgelegt werden (§ 87 Abs. 2a SGB V).

Schließlich drohte den Selbstverwaltungsorganen der Leistungserbringer und der Versicherten ein weiterer Kompetenzverlust gegenüber der des Gesundheitsministeriums, wenn es ihnen nicht gelungen wäre, selbst rechtzeitig eine tragfähige Lösung der Vergütungsproblematik zu finden. Daß es angesichts der Interessenkonflikte und der bestehenden Marktver-

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teilung innerhalb der Ärzteschaft überhaupt gelungen ist, ist durchaus als verbandspolitische Leistung zu würdigen.

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3. Welche zentralen Elemente enthält der neue EBM?

Bisher bestand der EBM im wesentlichen aus einem inhaltlich konkretisierten, verbindlichen und abschließenden Verzeichnis aller vom Kassenarzt abrechenbarer einzelner Leistungen. Dabei basierte die Bewertung der im EBM verzeichneten Leistungen allenfalls bedingt auf betriebswirtschaftlich fundierten Kalkulationen. Die Bewertung der im EBM verzeichneten Leistungen, also der Honorartarif, resultierte vielmehr als Ergebnis von Verhandlungen zwischen kassenärztlicher Bundesvereinigung und den Spitzenverbänden der Krankenkassen.

Nun werden mit der Ordinationsgebühr und dem Konsultationszuschlag neue, wesentliche Bestandteile des EBM eingeführt, die nicht nur den Honorartarif, sondern auch die Honorarform tangieren. [Fn.7: Vgl. a.i.f. Maus, J., Jetzt kommt Bewegung in die Honorarpolitik, in: Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 22, 2. Juni 1995 (13), B-1157 - B-1162.]
Letzteres, weil sie eine partielle Abkehr von dem bisher praktizierten, und in der Vergangenheit von den kassenärztlichen Vereinigungen favorisierten, System der Einzelleistungsvergütung darstellen, in dem sie Elemente einer pauschalierten Vergütung aufnehmen. Was den Honorartarif anbelangt, so kann insofern von einer Neuerung gesprochen werden, als dieser in bezug auf seine Bewertung der Einzelleistungen erstmals unter Zuhilfenahme betriebswirtschaftlicher Kalkulationsmethoden entwickelt wurde. Somit darf nun davon ausgegangen werden, daß jetzt ein etwas engerer Zusammenhang zwischen Höhe der Einzelleistungsvergütung einerseits und Höhe des zur Leistungserbringung erforderlichen Ressourceneinsatzes andererseits hergestellt ist.

Die neu eingeführte Ordinationsgebühr kann vom einzelnen Arzt nur einmal pro Patient und Quartal abgerechnet werden. Ihre Abrechnung setzt einen persönlichen Kontakt zwischen Arzt und Patient voraus. In der Ordinationsgebühr werden die für die einzelnen Facharztgruppen jeweils typischen Beratungs- und Untersuchungsleistungen zusammengefaßt und

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in pauschalierter Form abgerechnet. Dabei ist, den Vorstellungen des Vorstandes der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) zufolge, diese Ordinationsgebühr entsprechend der facharztgruppenspezifischen Unterschiede je nach Arztgruppe unterschiedlich hoch. Sie ist z.B. bei Urologen rund dreimal höher als bei Augenärzten. [Fn.8: Vgl. a.i.f. Maus, J, a.a.O., S. B-1161]
Darüber hinaus hängt die Höhe der Ordinationsgebühr nunmehr aber auch davon ab, ob es sich bei dem Patienten um einen Rentner handelt oder nicht: Für Rentner erhält der Arzt im allgemeinen eine höhere Ordinationsgebühr als für das Kassenmitglied und für die Familienangehörigen des Mitgliedes. Das Ausmaß dieser Differenzierung reicht je nach Facharztgruppe von ca. 20% etwa bei Anästhesisten, Augenärzten oder Frauenärzten bis zu deutlich über 60% etwa bei Allgemeinen/Praktischen Ärzten, hausärztlichen Internisten und fachärztlichen Internisten mit Schwerpunkt Kardiologie.

Für andere Facharztgruppen ist keine Differenzierung zwischen Rentnern und Nicht-Rentnern vorgesehen, sei es, weil sie schlicht wenig Sinn macht (etwa für Kinderärzte) oder weil offenbar keine signifikanten Unterschiede im Behandlungsaufwand von Rentnern und Nicht-Rentnern vorliegen (etwa bei Chirurgen, HNO-Ärzten oder Nuklearmedizinern).

Während die Ordinationsgebühr nur einmal pro Patient und Quartal abgerechnet werden kann, erhält der Arzt für jeden weiteren Arzt-Patienten-Kontakt (hier genügen auch telefonische Kontakte) einen sogenannten Konsultationszuschlag. Dieser zweite neue Bestandteil des EBM soll für alle Ärzte (und alle Patienten) eine einheitliche Höhe aufweisen und die bei einem Arztkontakt auftretenden Standardverrichtungen abdecken.

Den dritten wesentlichen neuen Baustein der Gebührenordnung bilden die sogenannten Therapiemodule. Sie umfassen die jeweils fachgruppenspezifischen typischen kleineren therapeutischen, gegebenenfalls auch diagnostischen Leistungen. Bei den meisten Arztgruppen wird das Therapiemodul jedoch auf Wunsch der Vertreterversammlung und vieler Fachgruppen nicht separat abgerechnet, sondern in die Ordinationsgebühr integriert. Dabei wird auch hier die Höhe dieses Moduls sowohl facharztgruppenspezifisch festgelegt als auch (ausgenommen Chirurgen) wiederum zwischen Rentnern und anderen Patienten in der Höhe differenziert. Wiederum erhält der Arzt im allgemeinen für die Behandlung von Rent-

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nern eine höhere Vergütung als für das Kassenmitglied und für die Familienangehörigen des Mitgliedes.

Neben diesen drei neuen Hauptbestandteilen des EBM ist für die Abgeltung der hausärztlichen Koordinations-, Betreuungs- und Beratungsleistungen zusätzlich eine „Hausärztliche Grundvergütung" vorgesehen, die in Form einer Pauschale je Behandlungsfall abgerechnet werden soll. Diese Leistung ist ausschließlich durch Hausärzte abrechenbar, wobei Internisten und Kinderärzte ohne Teilgebietsbezeichnung sich entscheiden müssen, ob sie eine Tätigkeit in der hausärztlichen Versorgung aufnehmen oder ob sie eine fachärztliche Versorgung ihrer Patienten betreiben. Nur im ersten Falle können sie hausärztliche Leistungen zur Abrechnung bringen. Dazu gehören neben der hausärztlichen Grundvergütung bestimmte nur von Hausärzten abrechenbare Beratungs- und Betreuungsgrundleistungen sowie fachübergreifende Beratungs- und Betreuungsgrundleistungen. Dabei handelt es sich um eine Reihe zumeist recht zeitintensiver Maßnahmen. Hierzu gehören etwa die „kontinuierliche haus- oder nervenärztliche/psychiatrische Betreuung eines in der familiären Umgebung versorgten Demenzkranken", die „intensive ärztliche Beratung und Erörterung zu den therapeutischen, familiären, sozialen und beruflichen Auswirkungen und deren Bewältigung bei nachhaltig lebensverändernder oder lebensbedrohender Erkrankung, bei chronischer Schmerzkrankheit oder bei krankheitsauslösenden Konflikten" oder auch die Betreuung eines moribunden Kranken.

Alle übrigen - außerhalb dieser Leistungskomplexe liegenden - therapeutischen und diagnostischen Leistungen werden zunächst wie bisher als Einzelleistungen vergütet. Teilweise dürften sie aber zukünftig durch sogenannte ablaufbezogene Leistungskomplexe abgelöst werden. Dies ist insbesondere dann möglich, wenn es sich dabei um Verrichtungen handelt, die immer wieder dieselben Leistungsbestandteile beinhalten. [Fn.9: Vgl. o.V., Beratungsunterlage für die Vertreter Versammlung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung am 10. Dezember 1994 in Köln,]

Zwei weitere, bereits seit langem vom SVRKAiG eingeforderte Elemente haben nun ebenfalls in das EBM-Konzept Eingang gefunden:

  • - Zum einen ist eine stärkere Berücksichtigung des Faktors Zeit bei der Leistungsbewertung vorgesehen. Besonders zeitintensive Beratungs-

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    und Betreuungsleistungen werden deutlich aufgewertet bzw. zum Teil neu in den EBM aufgenommen. Für einige Leistungen im Bereich der „sprechenden" Medizin werden in Abhängigkeit von der Gesprächsdauer Zuschläge gewährt.

  • - Zum anderen werden Teilbereiche der Vergütung ärztlicher Leistungen von der Leistungsfrequenz abhängig gemacht. Bei der Abrechnung medizinisch-technischer Leistungen ist eine „Abstaffelung" vorgesehen, wobei die Vergütung pro Leistung zumindest im Prinzip in einen Fixkostenanteil und einen variablen Kostenanteil zerlegt wird. Da ab einer bestimmten Zahl von Untersuchungen die Fixkosten durch den Fixkostenanteil vollständig gedeckt sind, wird dieser Teil bei der Bewertung weiterer Untersuchungen mit dem betreffenden Gerät aus der Vergütung herausgenommen. Somit erfolgt dann die Vergütung nur noch auf der Basis der laufenden, variablen Kosten.


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4. Wie sind diese Elemente der EBM-Reform zu bewerten?
D.h., werden sie die gegebenen Ziele auch tatsächlich erreichen können?


Einige Elemente der Reform sind grundsätzlich zu begrüßen, anderen wiederum ist mit Skepsis zu begegnen.

Zu den ersten:

  1. Vor dem Hintergrund der in Deutschland üblichen kurzen Dauer des Arzt-Patienten-Kontakts („5-Minuten-Medizin") kann eine stärkere Berücksichtigung des Faktors Zeit bei der Leistungsbewertung nur als positiv angesehen werden. Der behandelnde Arzt soll den Zeitaufwand für eine gegebenenfalls erforderliche intensive Betreuung des Patienten angemessen vergütet bekommen. Aus finanzieller Perspektive kommt positiv hinzu, daß durch die natürliche Begrenztheit der Ressource Zeit eine unkontrollierte Leistungsexpansion vermutlich nicht zu erwarten ist. Allerdings müssen hier erst erforderliche Erfahrungen gesammelt werden und Qualitätskontrollen durchgeführt werden.
  2. Auch die degressiv wirkende häufigkeits- und fallbezogene „Abstaffelung" der Vergütung medizinisch-technischer Leistungen ist positiv zu beurteilen, wird es doch so dem Praxisinhaber möglich, einen technisch

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    hohen Praxisstandard aufrecht zu erhalten, ohne daß er dabei gezwungen wird, eine maximale Geräteauslastung anzustreben. Vielmehr werden sich dessen Bemühungen um eine Auslastung der Geräte - sofern die Vergütungssätze einigermaßen zutreffend kalkuliert sind - auf die Erzielung der Zahl von Untersuchungen beschränken, bis zu der der Fixkostenanteil vollständig gedeckt ist.

  3. Ferner führt die fallbezogene Abstaffelung bei Skelettröntgen-Leistungen bei Orthopäden und Chirurgen bei Überschreitung einer fallzahl-abhängigen Punktzahlgrenze zur Minderung der Punktzahlanforderung um 50%. Dies wird - wie auch das fallbezogene Budget für Leistungen des Kapitels 01 (= Allgemeinlabor mit begrenzter Gesamtpunktzahl) - zur Ausgabensteuerung beitragen. Dasselbe gilt für die vorgesehenen Schranken bei CT- und MRT-Leistungen (MRT = Magnetfeld-Resonanz-Tomographie), insbesondere über den vorgesehenen Abschlag bei Doppeluntersuchungen (MRT neben CT im gleichen Behandlungsfall).
  4. Richtig ist m.E. auch, daß Korrekturen der Punktzahlen - frühestens zum 1. Juli 1996 - vorgenommen werden können, wenn repräsentative Abrechnungsergebnisse auf unerwünschte Mengenanpassungen hindeuten. Und richtig ist die Entwicklung einer gemeinsamen Datenbasis (der Partner der Bundesmantelverträge, Ärzte/Krankenkassen), die einen detaillierten Vergleich der Abrechnungsergebnisse - nach Quartalen und Fachgruppen - nach Inkrafttreten der EBM-Reform erlauben soll. Damit wird eine „dynamische" Steuerung des Einführungsvorgangs beim neuen EBM möglich.
  5. Schließlich sind die zusätzlich geplanten Maßnahmen der Qualitätssicherung zu begrüßen, insbesondere auch in der Indikationsstellung bei ambulant durchgeführten Operationen.

Die genannten Instrumente sind vom Grundsatz her geeignet, das vorgegebene Ziel der Erhöhung der Effizienz der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung zu erreichen. Ob sie in der Praxis ausreichen, wird sich erst nach ihrer Umsetzung erweisen.

Zu den zweiten:

  1. Die Ordinationsgebühr mag auf den ersten Blick einer Kopfpauschale ähneln, ist sie doch nur einmal pro Patient und Quartal abrechenbar.

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    Sie ist aber eher einer Fallpauschale gleichzusetzen, da ihre Abrechnung einen Arzt-Patienten-Kontakt voraussetzt. Zudem kann von jedem Arzt maximal einmal pro Quartal eine Ordinationsgebühr für einen Patienten abgerechnet werden.
    Dabei ist zu kritisieren, daß für die Berechnung der Ordinationsgebühr im wesentlichen bisherige Abrechnungsergebnisse übernommen worden sind. Zudem orientiert sie sich am Fachgruppendurchschnitt. Somit gehen die verzerrten Kosten- und Mengenstrukturen in die Berechnung des neuen EBM ein.
    Was die Wirkung der Ordinationsgebühr in bezug auf die Mengenentwicklung anbelangt, ist zudem Skepsis angebracht. Sucht der Patient innerhalb eines Quartals mehrere Ärzte auf, erhalten auch mehrere Ärzte diese Gebühr. Die Leistungserbringer können also durch Überweisung des Patienten von einem Arzt zu einem anderen das Gesamtvolumen aus der Ordinationsgebühr erhöhen. Es liegt dort also keine natürliche Obergrenze vor. Vielmehr verbleibt dieses Ausgabenvolumen unter dem Einfluß der Leistungserbringer.
    Aus einzelwirtschaftlicher Sicht ergibt sich für den Vertragsarzt aus der Ordinationsgebühr andererseits kein Anreiz, das im Rahmen der Ordinationsgebühr liegende Leistungsspektrum auch auszuschöpfen. Er erzielt die größten Gewinne aus der Ordinationsgebühr dann, wenn ihn möglichst viele Patienten zwar aufsuchen, aber keiner einer im Rahmen der Ordinationsgebühr liegenden Behandlung bedarf. Daraus ließe sich ableiten, der Arzt wäre stark motiviert, präventive Leistungen zu erbringen, soweit sie geeignet sind, den Patienten an sich zu binden und gleichzeitig die Gesundheit seiner Klientel zu erhalten. Lediglich Maßnahmen, die den Rahmen der Ordinationsgebühr sprengen, werden für den Arzt wirtschaftlich interessant, da er diese in Form der Einzelleistungsvergütung abrechnen kann.
    Es wird zu prüfen sein, ob der Arzt in seinem Bestreben, seine Kosten so gering wie möglich - jedenfalls aber unter der Höhe der Pauschale - zu halten, versuchen wird, seine Patienten mit möglichst geringem Aufwand zu behandeln. Die Gefahr der Unterversorgung der Patienten und qualitativ unzureichender medizinischer Maßnahmen dürfte aber wohl kaum bestehen, bleiben doch nach wie vor ein Großteil der ärztlichen Behandlungsleistungen einzeln abrechenbar.

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  2. Das Gesamtvolumen aus dem für jeden weiteren Arzt-Patienten-Kontakt anfallenden Konsultationszuschlag hängt ausschließlich von der Zahl der Behandlungsfälle ab und unterliegt somit deutlich dem Einfluß der Leistungserbringer. Hier hängt es klarerweise von der Höhe dieses Zuschlags ab, ob daraus mengenexpandierende oder kontraktierende Wirkungen hervorgehen.

  3. Ob mit der „Hausärztlichen Grundvergütung" bereits eine adäquate Honorierung der hausärztlichen Tätigkeit erreicht ist, erscheint fraglich. Sie gilt auch nur als Zuschlag. Allerdings wurde ein eigenes EBM-Kapital für Hausärzte geschaffen.
    Eine von der Patientencharakteristik und der Qualität des Arztes und seiner Praxis unabhängige Pauschale birgt fehlsteuernde Anreize, zum einen in Richtung einer Patientenselektion zu Lasten problematischer Patienten (chronisch Kranke etc.); zum anderen läuft die hausärztliche Versorgung möglicherweise Gefahr, gegenüber dem gegenwärtigen fachlichen und apparativen Standard Boden zu verlieren. [Fn.10: Hier wäre eine Annäherung an das Konzept des AOK-Bundesverbandes vorstellbar (vgl. a.i.f. Meyers-Middendorf, J., Tophoven, Chr., AOK-Hausarzt-Abo: Zur Organisation und Honorierung der hausärztlichen Versorgung, in: DOK 12/15.6.1995), S. 399-403: 1. Trennung der Gesamtvergütung in einen hausärztlichen und einen fachärztlichen Honorartopf. 2. Einführung eines differenzierten pauschalen Vergütungssystems für Hausärzte (vgl. hierzu z.B. auch den Vorschlag von G.C. Fischer, Die Honorierung des Hausarztes, in: Arbeit und Sozialpolitik 3-4/1993, S. 22-26), bei der neben einer Basispauschale pro Behandlungsfall über eine zusätzliche Praxispauschale die medizinisch-technische Ausstattung einer Praxis honoriert wird. Auch die Qualifikation des Arztes könnte in ähnlicher Weise Berücksichtigung finden. Und schließlich wäre zu überlegen, ob die Basispauschale pro Behandlungsfall nach Alter des Patienten differenziert werden sollte.]
  4. Die übrigen Bestandteile des neuen EBM, die weiterhin nach dem Einzelleistungssystem abgerechneten Leistungen, dürften ihre mengenexpansive Wirkung nur teilweise eingebüßt haben, da sie nur einen Teil der Gesamtvergütung ausmachen. Allerdings übersteigt das Gewicht der verbleibenden Einzelleistungen bei weitem das Ausmaß, das in Lahnstein bei der Konzeption des GSG 1993 anvisiert worden war:
    Anstatt der anvisierten 70% bis 80% werden nur ca. 50% bis 55% „mengengesteuert": circa 45% werden weiterhin über Einzelleistungen vergütet.

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  5. Die Zusammenfassung zu Leistungskomplexen kann darüber hinaus zu einer Vereinfachung der Abrechnung, wohl aber kaum zu einem Rückgang des Leistungsvolumens führen.

  6. Die gravierendste systematische Problematik der zwischen Kassen und Ärzteverbänden vereinbarten Punktzahlen ist schlicht und einfach, daß sie nicht auf einer repräsentativen Datenbasis beruhen: Die Mehrzahl der Leistungen wurde nicht kalkuliert, sondern geschätzt bzw. ausgehandelt. Damit kann der Vorwurf „partieller" Willkürlichkeit nicht ganz ausgeräumt werden.
    Erforderlich wären betriebs- oder gar volkswirtschaftliche Daten, aus denen „Knappheitspreise" für einzelne Leistungen errechnet werden können. Eine „betriebswirtschaftliche" Kalkulation bedeutet somit nicht die Erstattung von hohen Ist-Kosten, sondern von rationalen Kosten auf der Grundlage von „Knappheitspreisen" [Fn.11: Denkbar wäre beispielsweise ein Ansatz wie er in der Form der „Ressourcen-Basierenden Relativen Wert-Skala" an der Harvard School of Public Health (USA) in Zusammenarbeit mit der American Medical Association und ihren medizinischen Fachgesellschaften für die Physician Payment Review Commission (Kommission zur Überprüfung der Arzthonorare) 1986 umgesetzt wurde. Danach richtet sich die Höhe der Arztgebühren nach den Ressourceninputs, die für unterschiedliche Dienstleistungen bzw. Eingriffe (D/E) erforderlich sind. Dabei werden die folgenden fünf Ressourcenkategorien berücksichtigt: l. Die für die D/E erforderliche Zeit, 2. die vor und nach den D/E benötigte Zeit, 3. die per Zeiteinheit anfallende Intensität bei der Durchführung der D/E, 4. die Kosten der medizinischen Praxis und 5. die Opportunitätskosten, die für die Ausbildung für eine bestimmte Fachrichtung erforderlich sind. Die Skalen drücken die „relativen Punktwerte" von Leistungen aus. Wenn diese mit einem Konversionsfaktor (Währungseinheit) multipliziert werden, entsteht ein objektiver Referenzstandard zur Bewertung ambulant-ärztlicher Leistungen. (Vgl. hierzu: Hsiao, Wm.C., Braun, P., Becker, E.R., Thomas, S.R., The Resource-Based Relative Value Scale: Toward the Development of an Alternative Physician Payment System, in: JAMA, 14. August 1987, Bd. 258, Nr. 6, S. 799.].
    Verzerrungen der relativen Preise führen erfahrungsgemäß zu Verzerrungen der Leistungsstrukturen und zu Ungerechtigkeiten bezüglich der relativen Honorare unterschiedlicher Fachrichtungen, auch zwischen Dienstleistungen (Diagnose, Management, Beratung) und operativen bzw. „technischen" Leistungen.

  7. Im Zuge der EBM-Reform entsteht nicht nur ein Struktureffekt (über die Veränderung der Punktzahlen), sondern auch ein Ausgaben-Ni-

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    veau-Effekt. Für 1996 soll eine Einigung mit den Kassen erfolgen, nach der die Ärztehonorare um 3% mehr anwachsen können als die Grundlohnsumme (+3%). Somit wird im Jahr 1996 - dem ersten Jahr mit dem neuen EBM - von 6% Zuwächsen, das sind ca. 2,34 Mrd. DM, auszugehen sein.

    Die zusätzlichen 3%-Punkte werden für

    • ambulantes Operieren,
    • Verdoppelung der hausärztlichen Grundvergütung und
    • neue Leistungen
    berechnet.

    Zu den genannten Zuwächsen können im Jahre 1996 nicht von der Landesebene Kostenimpulse ausgehen. So sollten beispielsweise Vereinbarungen abgeschlossen werden zur Schulung von Diabetikern.

    Diese Einigung - die zumindest implizit eine Form der Deckelung fortsetzt - wird von vielen als „politischer Preis" für die Akzeptanz der EBM-Reform durch die Ärzteschaft angesehen. [Fn.12: Vgl. dazu auch: Laschet, H., Der EBM wird eine permanente Baustelle, in: Ärzte-Zeitung, Nr. 149, 11./12. August 1995.]

  8. Die EBM-Reform hat nicht zu der in Lahnstein auch anvisierten Einführung von diagnose- oder indikationsbezogenen Fallpauschalen im ambulant-ärztlichen Bereich geführt, obwohl dies mit den Formulierungen des GSG 1993 durchaus möglich gewesen wäre. Allerdings gibt es auch Argumente, die für ein System modifizierter Pauschalen und gegen diagnoseabhängige Fallpauschalen sprechen:
    • Die Berechnung von diagnosebezogenen Fallpauschalen im ambulanten Bereich setzt eine intensive Analyse der Kosten- und Leistungsstrukturen voraus.
    • Wegen des relativ inhomogenen Leistungsgeschehens sind relativ viele Fallpauschalen erforderlich, um vergleichbare Fälle zu bilden.
    • Um falsche Eingruppierungen zu verhindern, ist ein größerer Kontrollapparat erforderlich, u.a.m.

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    Deshalb sind modifizierte Pauschalen, die in Richtung von Leistungsentgelten weiterentwickelt und diese zunehmend approximieren, durchaus sinnvoll. [Fn.13: Vgl. hierzu: Pfaff, M. und Nagel, F., Vergütungsformen in der vertragsärztlichen Versorgung, a.a.O., S. 41-46.]



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Zum Abschluß

Eine abschließende Gesamtbewertung der EBM-Reform ist zum derzeitigen Zeitpunkt m.E. nicht möglich. Zum einen sind aufgrund des kombinierten Vergütungssystems viele zumindest im Prinzip in verschiedene Richtungen wirkende Faktoren miteinander verknüpft: eher bremsend wirkende pauschalierte Vergütungselemente mit eher mengensteigernd wirkenden Einzelleistungsvergütungsbestandteilen. Zum anderen wird das Ergebnis auch erheblich davon abhängen, inwieweit durch entsprechende Prüfungen eine Durchsetzung der Vorgaben sichergestellt werden kann.

Bekanntlicherweise kennt die menschliche Phantasie bei der Entwicklung von Ausweichstrategien keine Grenzen, so daß mit Überraschungen gerechnet werden darf. Daher sind die Vertragspartner gut beraten, in den ersten Jahren der neuen Vergütung auf die aus den achtziger Jahren bewährte Deckelung der Gesamtvergütung zurückzugreifen, um so die finanziellen Risiken der Reform zu begrenzen.


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