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TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 7 ]


Rudolf Dreßler
Einführung


Als sich die Konsensparteien des Lahnsteiner Kompromisses zum Gesundheitsstrukturgesetz im Oktober 1992 darauf verständigt hatten, allen Mitgliedern der Gesetzlichen Krankenversicherung das Recht der freien Wahl ihrer Krankenkasse einzuräumen, war damit der Weg für eine grundlegende Veränderung der Krankenkassenlandschaft freigemacht. Mit dem Wirksamwerden der Wahlmöglichkeit ab 1. Januar 1997 sind die Zeichen auf Wettbewerb gestellt.

Seit Lahnstein beschäftigt die Öffentlichkeit eine heftige Diskussion, wie denn das Ergebnis dieses Wettbewerbsprozesses wohl aussehen würde. Die einen prophezeien die Entstehung einer Einheitsversicherung unter dem Dach der Ersatzkassen, die anderen die Herausbildung von wenigen, bundesweit operierenden Krankenkassen, eines Krankenversicherungsoligopols also.

Natürlich habe auch ich mir überlegt, was das Ergebnis eines Wettbewerbsprozesses sein könnte. Da ich kein Prophet bin, beginne ich deshalb mit einem Geständnis: Ich weiß es nicht! Ein Urteil allerdings traue ich mir zu: All jene die in Form von Schreckensszenarien vermeintliche Wettbewerbsergebnisse an die Wand malen, werden irren. Denn eines ist sicher: Nach dem Beginn des Wettbewerbsprozesses steht endlich der Versicherte im Mittelpunkt, sein Wunsch nach einer qualitativ einwandfreien und kostengünstigen Gesundheitssicherung. Und das wird weder zu monopolistischen, noch zu oligopolistischen Strukturen führen.

Es ist schon erstaunlich, wie einseitig in manchen Funktionärskreisen des Gesundheitswesens Wettbewerb gedacht wird. Die Krankenkassen würden ihre Wettbewerbsbemühungen nur noch auf die guten Risiken konzentrieren, lautet eine dieser Parolen. Zugegeben: Das ist nicht unwahrscheinlich; da werden sich Krankenkassen sicherlich kaum anders verhalten, als andere in einer ähnlichen Situation. Bleibenden Eindruck allerdings wird dies kaum hinterlassen.

Der Wettbewerb funktioniert nämlich vor allem in die entgegengesetzte Richtung. Es ist doch wohl nicht so, daß sich in einer Konkurrenzwirt-

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schaft die Geschäfte oder Betriebe ihre Kunden, sondern die Kunden ihre Geschäfte und Betriebe aussuchen. Es kommt also vor allem auf die Versicherten und ihr Verhalten und weniger auf das der Krankenkassen an. Die Versicherten entscheiden, nicht die Krankenkassen.

Nun wird vielfach prophezeit, die Krankenkassen würden versuchen, sich der Problemkunden, der sogenannten schlechten Risiken, mit allerlei Tricks und Mätzchen am Rande der Legalität zu erwehren. Das widerspricht jeder Lebenserfahrung, vor allem der Erfahrung die unser Land bisher mit seinem Krankenversicherungssystem gemacht hat. Wäre es dennoch so, würde sich also unsere von den Beitragszahlern selbst verwaltete soziale Krankenversicherung auf kaltem Wege ihres sozialen Auftrages zu entledigen versuchen, dann unterschriebe sie ihr Todesurteil. Denn eine solche Krankenversicherung würde nicht gebraucht; dann nämlich wäre die Gesundheitssicherung in Staatsregie die tragfähigere Alternative.

Ich wiederhole: Ich kann mir das nicht vorstellen. Eine denaturierte soziale Krankenversicherung, in der Tausende von Mitarbeitern auf einmal vergessen haben sollten, wofür sie stehen oder angetreten sind. Nein, das wird nicht geschehen!

Richtiger scheint mir vielmehr eine andere Interpretation. Hier wird versucht, durch das Aufzeichnen allerlei Schreckensszenarien zu verdecken, daß ein wirksamer Wettbewerb trotz aller anderslautender Sonntagsbekundungen in Wahrheit ein ungeliebtes, weil unbequemes Kind ist. Wer kümmert sich schon gerne zukünftig um alle Kunden, wenn ein großer Teil von ihnen in der Vergangenheit durch gesetzliche Zuweisung gleichsam automatisch und ohne Alternative Mitglied wurde. Nicht im vermeintlichen Schreckensszenario, hier liegt das entscheidende Körnchen Wahrheit.

Wirksamer Wettbewerb allerdings hat Voraussetzungen. Wesentlichste von ihnen ist die, daß alle, die an ihm teilnehmen, dies zu gleichen Konditionen tun können. Auch dafür ist gesorgt. Die Konsensparteien von Lahnstein haben auf Wunsch der Ortskrankenkassen einen kassenartenübergreifenden Risikogebührenausgleich gesetzlich verbindlich vorgeschrieben. Durch eine Annäherung der Einnahmeprofile sollten vor allem für die Ortskrankenkassen deren gesetzlich herbeigeführte Lasten der Vergangenheit abgebaut werden und somit verhindert werden, daß sie sich zu Hypotheken für den zukünftigen Wettbewerb auswachsen.

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Es ist kein Geheimnis, daß zur Zeit der Entscheidung in Lahnstein zwei Ausgleichsvarianten in Konkurrenz standen, die einnahmenorientierte Variante, also der Risikostrukturausgleich und die ausgabenorientierte Variante, also der Finanzausgleich. Die Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) haben sich - ich wiederhole das - für die einnahmenorientierte Variante entschieden. Wenn nun heute - trotz dieser Entscheidung - unter dem Stichwort Morbiditätsausgleich von den gleichen AOK's eine ausgabenorientierte Ergänzung des Risikostrukturausgleiches gefordert wird, kann meine Antwort nur in einem Wort bestehen: Nein!

Denn eines geht nicht: Wer sich damals, vor die Wahl zwischen einer Bergsteigerausrüstung und einem Segelboot gestellt, für die Bergsteigerausrüstung entschieden hat, kann heute nicht der versammelten Öffentlichkeit mitteilen, man habe ganz überraschend feststellen müssen, zum Erklimmen der Wellenberge in der Nordsee, sei diese Ausrüstung eigentlich völlig ungeeignet. Getroffene Entscheidungen müssen gelten und man muß sie gegen sich gelten lassen. Das ist ein Gebot gegenseitiger Verläßlichkeit und Vertrauenswürdigkeit.

Was uns derzeit jedenfalls als „Erweiterung" des Risikostrukturausgleiches angedient wird, ist eine Täuschung. Denn die Erweiterungsfaktoren „Morbiditätsausgleich" und „Härtefallausgleich" bedeuten in Wahrheit dessen Korrektur. Das ist mit mir nicht zu machen.

Im übrigen: Je mehr Ausgleichsfaktoren in den Risikostrukturausgleich eingebaut werden, desto komplizierter wird er. Vor allem aber: Je mehr Ausgleichsfaktoren, desto indirekter wird die Reaktion der Ausgabeseite auf die Veränderung der Einnahmeseite oder - anders ausgedrückt - desto weniger drückt der Beitragssatz einer Krankenkasse deren Leistungsfähigkeit aus. Jeder möge sich vor Augen führen: Ab 1. Januar 1997 gibt es nur einen weiteren Ausgleichsfaktor, den der Wanderung der Mitglieder von einer Krankenkasse zur anderen. Wir haben in Lahnstein keinen Ausgleich gewollt, der indirekt zu einer Bestandsgarantie für jede Krankenkasse wird. Wir lassen uns auch nachträglich keinen solchen Ausgleich unterschieben.

Offenkundig scheint so mancher vergessen zu haben, daß es mit der Gesundheitsstrukturreform nicht um Organisationen und Institutionen geht, sondern um die Versicherten. Was eigentlich soll sozial schädlich oder gar verwerflich daran sein, wenn eine Krankenkasse im Wettbewerb schließen

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muß, deren Mitglieder aber an anderer Stelle genau so gut versorgt werden und dies in der Regel auch noch zu einem günstigeren Beitragssatz?

Wenn ich mich nunmehr den Vorstellungen der SPD zu einer Ergänzung der Gesundheitsstrukturreform zuwende, so ist es ein Gebot der Ehrlichkeit, darauf hinzuweisen, daß wir das Lahnsteiner Konzept nicht einfach sinngemäß fortschreiben, sondern in einem Punkte teilweise auch korrigieren. Ich meine dabei die von meiner Partei geforderte Globalbudgetierung auf Dauer, die an die Stelle des sektorale Budgets treten soll.

Die Philosophie von Lahnstein war: Wir setzen auf Wettbewerb und erwarten von seinen Folgen eine Stabilisierung der Ausgabenentwicklung in der Krankenversicherung. Vom Prinzip her sind Stabilisierung der Ausgaben durch Wettbewerb einerseits und Stabilisierung der Ausgaben durch Budgets andererseits aber unterschiedliche, ja gegensätzliche Lösungsansätze.

Eine Ausgabenobergrenze macht wettbewerbliche Bemühung um Stabilität überflüssig. Zudem geht von ihr nach aller Erfahrung die Wirkung aus, daß die Beteiligten diese Obergrenze auch in der Regel in vollem Umfange ausschöpfen, sich also eigentlich wettbewerbswidrig verhalten. Ich jedenfalls kenne kein Budget, das nicht auch ausgeschöpft worden wäre.

Nach den Vorstellungen der SPD soll ein Globalkonzept die Gesamtausgaben der Krankenversicherung nach oben begrenzen, das sich entsprechend der Steigerungsrate des Bruttoinlandsproduktes fortschreibt. Wohl ist mir dabei nicht unbedingt, denn wir gehen damit ein doppeltes Risiko ein:

  • Zum einen orientieren wir - unter der Erwartung, daß der vorgezeichnete Budgetrahmen ausgeschöpft werden wird - die Gesamtausgaben der Krankenkassen an einer anderen Größe, als deren Gesamteinnahmen. Denn letztere entwickeln sich bekanntlich nach der Grundlohnsumme. Die Bindung von Einnahmen und Ausgaben an unterschiedliche Bezugsgrößen muß zu Inkongruenzen führen; das ist das prinzipielle Risiko dieses Vorschlages.

  • Zum anderen zeigt die Entwicklung des Bruttoinlandsproduktes in den vergangenen zehn Jahren, daß das wirtschaftliche Ergebnis des Produktionsfaktors Kapital stetig zu Lasten des wirtschaftlichen Ergebnis-

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    ses beim Faktor Arbeit zunimmt. Das heißt: Gemessen am volkswirtschaftlichen Gesamtergebnis ist der Lohnanteil daran relativ zurückgegangen. Das Bruttoinlandsprodukt ist also stets stärker gewachsen, als die Lohnsumme. Das wird sich auch in den nächsten 10 bis 15 Jahren nicht ändern. Das wiederum bedeutet: Die Ausgaben der Krankenkassen werden stärker wachsen, als deren Einnahmen. Die zwangsläufigen Folgen sind Beitragssatzerhöhungen, wenn - ich wiederhole - die Budgetobergrenze erreicht wird. Zur Sicherung von Beitragsstabilität ist daher diese Form der Globalbudgetierung nicht geeignet - das ist das systematische Risiko.

Für mich lautet der eindeutige Schluß daraus: Wir brauchen ein zusätzliches Sicherungselement für eine stabile Beitragssatzentwicklung - eben den Wettbewerb.

Nun haben mir pfiffige Zeitgenossen in diesem Zusammenhang die Frage gestellt, wenn ohnehin letztendlich doch der Wettbewerb für stabile Beitragssätze sorgen muß, warum dann überhaupt die Globalbudgetierung, die sei doch überflüssig. An dieser Frage ist natürlich mehr dran als manchem lieb ist.

Als einer, bei dem die Budgetierung nicht unbedingt an der ersten Stelle der Prioritätenliste steht, will ich die Antwort nicht verweigern. Politik geht manchmal seltene Wege. Wenn es dem Zustandekommen eines Kompromisses - und sei es eines innerparteilichen - dient, kann ich diese Regelung der Globalbudgetierung akzeptieren, denn sie ist nicht mehr als ein zweites Sicherheitsnetz; ohne den von mir favorisierten Wettbewerb ist Beitragssatzstabilität nicht zu erreichen.

Ich warne also alle Beteiligten, vor allem die Krankenkassen, vor dem Irrglauben, ein so ausgestaltetes Globalbudget würde die Beitragsfrage lösen. Es tut es nicht! Ohne wettbewerbliche Anstrengungen, ohne Bemühen um Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit wird es auch in Zukunft nicht gehen. Ich will nicht verhehlen, daß ich beim Stichwort Wettbewerb die übliche Reaktion der Vertreter der Gesundheitsverbände, ihre Blicke vor allem auf die Krankenkassen zu richten, gelinde gesagt, reichlich deplaziert finde.

Den Wettbewerb, den wir wollen, soll sich nicht nur unter Krankenkassen abspielen. Gemeint sind auch die Ärzte, auch die Krankenhäuser, auch die

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pharmazeutische Industrie. Wir haben das einmal unter das Schlagwort „Einkaufsmodell" zusammengefaßt. Bitte gehen sie davon aus: Beschlußlage und politische Absicht der SPD in dieser Frage haben sich nicht geändert.

Aus der Tatsache, daß wir für diese Vorschläge derzeit keine Mehrheit im Parlament finden, sollten keine falschen Schlüsse gezogen werden. Als einer, der in Lahnstein dabei war, sage ich, Sie glauben gar nicht, wie schnell auf einmal Mehrheiten für unkonventionelle Vorschläge zustande kommen, wenn es politisch eng wird. Die Wahlfreiheit für die Versicherten stand auch einmal bei vielen auf dem politischen Index. Innerhalb von wenigen Stunden war sie dann da. Das kann sich bei anderen Themen durchaus wiederholen.

Erlauben Sie mir allerdings entsprechend unserem Thema zu den Aspekten des Wettbewerbes unter den Krankenkassen Stellung zu nehmen. Wir wollen diesen Wettbewerb um die Versicherten überall dort, wo er mit den sozialen Zielen der Krankenversicherung in Übereinstimmung zu bringen ist. Wer die derzeitige Situation verfolgt, der könnte, fast zu dem Eindruck kommen, daß diese einschränkende Bedingung ebenso systematisch wie geflissentlich von den Beteiligten übersehen wird.

Damit das nicht vergessen wird: Wettbewerb der den sozialen Zielen der Krankenversicherung entspricht und nicht widerspricht darf also

  • das Solidaritätsprinzip nicht aushebeln,

  • die Umverteilungswirkungen in der Finanzierung nicht relativieren,

  • den Zugang aller Versicherten zu den medizinisch gebotenen Leistungen nicht erschweren oder gar blockieren,

um nur drei der Ziele zu benennen.

Ich will in diesem Zusammenhang ein Beispiel nennen, das vor wenigen Wochen als das Nonplusultra eines sinnvollen Wettbewerbes durch die Presse ging. Ich meine die von den Allgemeinen Ortskrankenkassen in Hamburg und Berlin geplante Beitragsrückgewähr für Gesunde.

Ich will mit meiner Meinung dazu nicht hinter dem Berg halten. Eine solche Beitragsrückgewähr ist

  • gesellschaftspolitisch unannehmbar,

  • gesundheitspolitisch falsch,

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  • finanzwirtschaftlich fragwürdig und

  • wettbewerbspolitisch kontraproduktiv.

Wer diese Maßnahme einführt, wer den kranken Beitragszahlern zumutet, Beitragsermäßigungen für Gesunde mitzufinanzieren, legt die Axt an die solidarische Krankenversicherung. Ich nenne das eine sozialpolitische Perversion.

Jeder muß wissen: Für die SPD wird hier ein Rubicon überschritten, jenseits dessen es nur noch erbitterte und entschlossene Gegnerschaft in dieser Sache geben kann. Wir haben die soziale Krankenversicherung nicht Jahrzehnte gegen anti-solidarische Systemüberwinder verteidigt, um zuzulassen, daß sie nun durch einige AOK's zerstört wird.

Ich fasse mich an den Kopf, wenn ich sehe, daß ausgerechnet jene Krankenkassen diesen unannehmbaren Weg gehen, die in Gefahr stehen, finanziell zu kollabieren. Ich frage mich selbstkritisch, ob es nicht ein Fehler war, in der Vergangenheit in der großen Familie der Krankenversicherung so nachhaltig für finanzielle Solidarität mit den beiden AOK's in Hamburg und Berlin geworben zu haben, wenn mit diesen Solidaritätsleistungen der anderen nun die Solidarität unter den Beitragszahlern zerstört werden soll.

Damit kein Zweifel bleibt: Ein derartiger Wettbewerb ist unerwünscht, die SPD steht hierfür nicht zur Verfügung.

Im Zusammenhang mit der Ausrichtung der Krankenversicherung auf Wettbewerb will ich jedoch noch auf einen weiteren Gesichtspunkt hinweisen. Es war immer Auffassung der SPD, daß eine Erweiterung der Wettbewerbskriterien erst dann in frage kommt, wenn wir sicher abschätzen können, wie sich die bisherigen bewähren und zu welchen Ergebnissen sie führen. Die bisherigen Wettbewerbskriterien aber lauten: Beitragssatz, Prävention, Rehabilitation.

Nun erlebe ich seit mehreren Monaten, daß die verschiedenen Kassenarten mit großem Eifer weitere Wettbewerbskriterien entwickeln. Die einen schlagen ein Hausarzt-Abo vor, die anderen basteln an einem naturheilkundlichen Leistungspaket und die Dritten philosophieren über kombinierte Budgets oder vernetzte Praxen oder noch anderes. Damit hier kein Zweifel bleibt: Für mich ist das Schnee von morgen! Die SPD hält es für

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falsch, jetzt eine Erweiterung der Zahl der Wettbewerbskriterien ins Gesetz zu schreiben.

Ich will einen Gesichtspunkt wiederholen, der wichtig ist, wenn es um die Wettbewerbsaspekte geht. Der Wettbewerb in der sozialen Krankenversicherung soll die solidarischen Elemente stärken, er soll sie nicht zerstören. Was uns derzeit aus bestimmten politischen Kreisen an vermeintlichen Wettbewerbselementen angedient wird - ich nenne Wahl- und Regelleistung, ich nenne Zusatzleistungen gegen Zusatzbeitrag, ich nenne Leistungsverzicht bei Beitragsabschlägen -, ist nicht die erwünschte Stärkung der Solidargemeinschaft, es ist der Auftakt zu ihrer Zerstörung. Und es ist der Einstieg in einen grundlegenden Umbau unseres Krankenversicherungssystems.

Es muß auch in Zukunft der Grundsatz gelten, daß das gesamte Leistungspaket, das eine Krankenkasse für alle ihre Versicherten anbietet, aus dem einheitlichen Beitragssatz für alle Versicherten finanziert werden muß. Es kann keine Tarifdifferenzierungen geben. Ich kann die Krankenkassen nur eindringlich davor warnen, unter Zuhilfenahme der Grundsätze der europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft zu versuchen, Elemente der privaten Krankenversicherungswirtschaft in die gesetzliche Krankenversicherung einzubauen.

Wer nicht zum Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung gehörende Angebote gegen zusätzliche Beitragszahlungen anbieten möchte, betreibt das Geschäft der privaten Krankenversicherungswirtschaft. Dies ist für die SPD nicht akzeptabel. Wir wollen auch weiterhin eine klare Trennung zwischen beiden Bereichen. Gesetzliche Krankenkassen und private Krankenversicherungsunternehmen arbeiten in alternativen Systemen. Eine Systemvermischung kommt mit uns nicht in Betracht.

Wer diese Türe aufmacht, wird erleben, daß sie sich nie wieder wird schließen lassen. Bitte bedenken Sie, nicht jede Türe, hinter der Geld vermutet wird, ist begehbar. Denn auch Falltüren sind Türen. Ich möchte unser leistungsfähiges Krankenversicherungssystem mit seinen solidarischen Wirkungen erhalten und nicht meine Hand zu dessen Abbau oder gar Zerstörung reichen.

Ich will abschließend zu einem Wettbewerbsaspekt Stellung nehmen, der ausschließlich die Betriebs- und Innungskrankenkassen betrifft. Ich weiß,

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daß die mit dem Gesundheitsstrukturgesetz eingeführte Gesetzesoption einer allgemeinen Öffnung von Betriebs- und Innungskrankenkassen in Ihren Kreisen heftig diskutiert wird. Ich habe meine Meinung dazu nicht geändert. Wer die Öffnung seiner Betriebs- oder Innungskrankenkasse ausschließt, vergibt sich eine Zukunftschance. Er kommt in eine Situation, in der er nur Mitglieder im Wettbewerb abgeben, aber neue nicht hinzugewinnen kann. Soll das ein tragfähiges Konzept für die Zukunft sein? Ich kann nicht glauben, daß das ernst gemeint sein soll.

Sie sehen, im Zusammenhang mit der Frage, wie wir uns eine zukünftige Wettbewerbsordnung innerhalb der sozialen Krankenversicherung vorstellen, bleibt vieles klärungs-, vor allem aber entscheidungsbedürftig. Ich möchte nicht, daß wir unter Mißinterpretation dessen, was Wettbewerb in einem Solidarsystem leisten kann und leisten darf, allmählich wie auf einer schiefen Ebene in einen Status der Entsolidarisierung abgleiten.

Darüber müssen wir reden. Ich freue mich deshalb auf die Referate von Herrn Kirch und Herrn Dr. Fiedler und auf unsere Diskussion.

[Seite der Druckausg.: 16 = Leerseite ]


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2000

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