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TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 17 ]


Eckart Fiedler
Der Wettbewerb der Krankenkassen aus der Sicht des Verbandes der Angestellten-Krankenkassen


Das Thema der heutigen Veranstaltung „Wettbewerb der Krankenkassen" ist hochaktuell - und zwar aus drei Gründen:

  1. Am 01.01.1996 beginnt mit der Wahlfreiheit der Versicherten ein neuer Abschnitt des Kassenwettbewerbs innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV).

  2. Das hohe Defizit in der gesetzlichen Krankenversicherung von rund 7,5 Mrd. DM in den ersten drei Quartalen 1995 zwingt zum raschen Handeln. Dabei stellt sich die Frage, ob weiter der Weg der zunehmenden Vereinheitlichung beschritten wird oder eine verstärkte wettbewerbliche Ausrichtung des Gesundheitswesens erfolgen sollte.

  3. Darüber hinaus hat das aktuelle Wettbewerbsverhalten einiger Krankenkassen dem Thema zusätzliche Brisanz verliehen - zugleich jedoch auch einen negativen Touch. Dies geht sogar soweit, daß der Wettbewerb von einigen Seiten aufgrund dieser Vorkommnisse abgelehnt wird, bevor er überhaupt einsetzen konnte. Bei diesen „Auswüchsen" handelt es sich z.B. um verstärkte Mitgliederwerbung der Krankenkassen durch fragwürdige Anzeigenaktionen bzw. Fernsehspots sowie durch die Zahlung von Kopfprämien und um verstärkte Mitgliederhaltearbeit durch fragwürdige Gesundheitsförderungsangebote.

    Die genannten Aktivitäten der Krankenkassen sind insbesondere deshalb problematisch, weil sich die Kassen zum größten Teil über Pflichtbeiträge ihrer Versicherten finanzieren und deshalb zu einem gewissenhaften Umgang mit diesen Finanzmitteln verpflichtet sind. Diese Aktivitäten machen allerdings auch folgendes deutlich:

    • Der zunehmende Konkurrenzdruck löst bei den Krankenkassen Kreativität sowie Einsatz aus und überwindet Lethargie.

    • Der Wettbewerb zielt noch nicht in die richtige Richtung (wie z.B. beim Service). Dies liegt jedoch vor allem daran, daß zur Zeit keine anderen sinnvollen Wettbewerbsparameter zur Verfügung stehen.

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    • Wer Wettbewerb im positiven Sinne will, muß sich zu Selbstbeschränkungen bereit erklären, ggf. auch Wettbewerbsanordnungen der Aufsichten akzeptieren.

Bevor ich nun im einzelnen darauf eingehen werde, wie sinnvolle Wettbewerbsparameter in einer sozialen Krankenversicherung aussehen müßten, möchte ich zuvor noch einige grundsätzliche Bemerkungen zum Wettbewerb als solchem und insbesondere zum Wettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung bzw. im Gesundheitswesen machen:

Bei allen Überlegungen zur Weiterentwicklung im Gesundheitswesen ist zu berücksichtigen, daß der kranke Mensch in seiner Urteilsfähigkeit als Konsument stark eingeschränkt ist. Es besteht nicht nur ein erhebliches Informations- und Kompetenzgefälle zwischen ihm und dem Arzt, sondern auch eine ausgeprägte psychische Abhängigkeit (ggf. Todesangst). Andererseits existiert wegen der begrenzten Wissenschaftlichkeit der Medizin beim Arzt ein großer Ermessensspielraum beim diagnostischen und therapeutischen Vorgehen. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele: So ist z.B. in Frankreich der Arzneimittelverbrauch fast doppelt so hoch wie in Deutschland, obwohl nicht davon auszugehen ist, daß es zwischen diesen beiden Ländern relevante Morbiditätsunterschiede gibt. Schließlich kann das Risiko Krankheit den einzelnen schnell finanziell überfordern; insbesondere gilt dies für die sozial Schwachen. Aus diesen Gründen muß unsere gesetzliche Krankenversicherung eine solidarisch finanzierte, soziale Krankenversicherung mit Umverteilungsfunktionen sein und auch zukünftig bleiben.

Wettbewerb beinhaltet jedoch die latente Gefahr der Entsolidarisierung. Wettbewerb individualisiert und stellt damit den Eigennutz vor das Gemeinwohl. Wettbewerb hat damit zerstörerische Kräfte. Diese Gefahr des Wettbewerbs muß uns allen bewußt sein. Die soziale Krankenversicherung darf nicht zur privaten Krankenversicherung (PKV) werden.

Um dies zu verhindern, ist eine Gratwanderung zwischen den Polen Solidarität und Wettbewerb notwendig. Auf der einen Seite bedeutet nämlich umfassende Solidarität immer mehr Planung und Regulierung, so daß es schließlich zu einem Netz normierender rechtlicher Vorgaben, ausufernder Bürokratie und immer differenzierterer Ausformungen von Kontroll- und Prüfinstrumenten kommt. Auf der anderen Seite bedeutet reiner Wettbewerb eine sozialpolitisch unvertretbare Entsolidarisierung.

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Daher haben die Ersatzkassen und mit ihnen später auch die übrigen Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenkassen die Einführung einer solidarischen Wettbewerbsordnung gefordert - nicht zu verwechseln mit solidarischem Wettbewerb, den es aus den geschilderten Gründen per se nicht geben kann. Die solidarische Wettbewerbsordnung soll die ordnungspolitische Basis eines Wettbewerbsmodells im grundsätzlich sozialpolitisch gestalteten und der Solidarität verpflichteten System der GKV bilden. Diese Wettbewerbsordnung muß mit den sozialen Zielen unserer Krankenversicherung in Übereinstimmung stehen.

Zu den Eckpunkten einer derartigen Wettbewerbsordnung zählen folgende Elemente:

  1. Um ausgabentreibenden Wettbewerb zu verhindern und insbesondere wegen des Risikostrukturausgleichs, muß es in der gesetzlichen Krankenversicherung ein einheitliches, kassenartenübergreifendes Leistungsspektrum geben. Lediglich im Bereich der Satzungs-, Erprobungs- und Zusatzleistungen sind kassen(arten)individuelle Angebote sinnvoll.

  2. Es ist an der solidarischen Finanzierung in der gesetzlichen Krankenversicherung festzuhalten. Auch weiterhin sind die Beiträge nicht risikoäquivalent, sondern einkommensbezogen zu erheben. In der GKV sollen auch zukünftig die Einkommensstärkeren für die Einkommensschwächeren, die Ledigen für die Kinderreichen sowie die Jüngeren für die Älteren einstehen.

  3. Das Sachleistungsprinzip bietet die beste Garantie für die hohe Qualität der medizinischen Versorgung und sollte deshalb ein Wesenselement der sozialen Krankenversicherung bleiben. Kostenerstattung sollte nur in Ausnahmefällen möglich sein.

  4. Es muß Chancengerechtigkeit im Wettbewerb hergestellt werden. So darf es keine Sonderregelungen für einzelne Krankenkassen, wie z.B. die optionalen Öffnungsmöglichkeiten für Betriebs- und Innungskrankenkassen, geben. Dazu gehört aber auch, daß für eine gerechte Finanzkraft zwischen den Mitbewerbern gesorgt wird. Dies leistet der bundesweite, kassenartenübergreifende Risikostrukturausgleich.

  5. Die Versicherten müssen Wahlrechte besitzen. Durch Kassenwechsel, aber auch durch die Wahl unterschiedlicher Versorgungsformen muß es ihnen möglich sein, ihre Präferenzen zum Ausdruck zu bringen.

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  6. In der gesetzlichen Krankenversicherung muß es einheitliche Mindestqualitätsstandards und einheitliche Richtlinien bei der Zulassung geben. Nur so ist es möglich, das hohe Qualitätsniveau in unserem Gesundheitswesen zu sichern und auszubauen.

  7. Wettbewerb kann nicht mit Monopolen geführt werden. Grundvoraussetzung für einen sinnvollen Wettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung sind daher gleichgewichtige Vertragspartnerschaften. Im ambulanten Bereich zählen dazu zumindest Konfliktlösungsmechanismen für den Fall, daß Verträge von der Kassenärztlichen Vereinigung blockiert werden, obwohl ein Teil der Ärzte zum Vertragsabschluß bereit wäre

Im Rahmen einer derartigen solidarischen Wettbewerbsordnung sind die Freiheit der Vertrags- und der Organisationsstrukturen die entscheidenden Wettbewerbsparameter. Bevor ich darauf näher eingehe, möchte ich zunächst die Frage beantworten, warum wir unser Gesundheitswesen verstärkt wettbewerblich ausrichten sollten.

Ausgangspunkt ist die dramatische Finanzlage. In der gesetzlichen Krankenversicherung ist derzeit mit einer Welle von Beitragssatzanhebungen zu rechnen. Wenn dieser Trend nicht gestoppt werden kann, wird der GKV-durchschnittliche Beitragssatz schnell die Rekordhöhe von 14% erreichen. Damit steht fest: Trotz 46 Gesetzen und Rechtsverordnungen sowie 6.800 Änderungen von Einzelbestimmungen konnte die Ausgabenentwicklung nicht in Grenzen gehalten werden. Diesen Weg der zunehmenden Reglementierung weiter zu beschreiten, wäre fatal. Denn weitere Vereinheitlichungen begleitet von ausufernder Bürokratie und schleichender Leistungsrationierung bergen die Gefahr einer teuren und darüber hinaus schlechten Einheitsversicherung.

Theoretisch sind drei Lösungswege denkbar, um die derzeitige Finanzmisere zu meistern:

  1. könnte mehr Geld in das System gepumpt werden. Dies wäre z.B. durch eine Ausweitung der Beitragsschöpfung möglich. So könnte zum einen zukünftig die Beitragsbemessungsgrundlage auf andere Einkunftsarten, wie z.B. Zinsen, Mieten und Pachten, erweitert werden. Zum anderen könnte die Selbstbeteiligung der kranken Versicherten erhöht werden.

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  2. könnten Leistungen aus dem Katalog der gesetzlichen Krankenversicherung gestrichen werden. Die Vorschläge zu Grund- und Zusatzversorgungsmodellen bzw. Regel- und Wahlleistungen zielen in diese Richtung.

  3. könnten schließlich die vorhandenen Wirtschaftlichkeitsreserven im Gesundheitswesen mobilisiert werden. Mit den so erwirtschafteten Mitteln wäre es möglich, den medizinischen Fortschritt bzw. die Auswirkungen der demographischen Entwicklung zu finanzieren.

Die beiden zuerst genannten Ansätze - Ausweitung der Finanzierungsgrundlagen und Leistungsausgrenzung - machen die gesetzliche Krankenversicherung tendenziell teurer und schlechter. Sie belasten sowohl die Arbeitgeber, die ihre Wettbewerbsfähigkeit zunehmend bedroht sehen, als auch die Arbeitnehmer, die bei steigenden Beiträgen oder zunehmender Selbstbeteiligung weniger Nettolohn zur Verfügung haben. Zudem geht eine Ausweitung der Zuzahlungen bzw. Leistungsausgrenzungen einseitig zu Lasten der kranken Versicherten, die eigentlich besonderen Schutz genießen sollten.

Angesichts der zahlreichen Wirtschaftlichkeitsreserven in unserem Gesundheitswesen ist die dritte Möglichkeit dagegen durchaus erfolgversprechend. Bei näherem Hinsehen zeigt sich nämlich, daß in allen Leistungsbereichen umfangreiche Reserven stecken. Um hier nur einige Beispiele zu nennen:

  • Das Selbstkostendeckungsprinzip in Verbindung mit den tagesgleichen pauschalierten Pflegesätzen in den Krankenhäusern führte in der Vergangenheit zu einer medizinisch unnötig langen Verweildauer der Patienten und zu einem Überangebot an Betten.

  • Die mangelhafte Kooperation im Gesundheitswesen zwischen ambulantem und stationärem Sektor, aber z.B. auch zwischen Haus- und Fachärzten, führt zu unnötigen Doppeluntersuchungen und Mehrfachbehandlungen, die nicht nur belastend für die Patienten, sondern auch aufgrund ihrer fehlenden medizinischen Notwendigkeit unwirtschaftlich sind.

  • Durch die angebotsinduzierte Mengenentwicklung im Gesundheitswesen wird eine fragliche Qualität der Leistungen geliefert. So stellte erst kürzlich der Präsident der Deutschen Röntgengesellschaft, Prof. Wolf, fest: „Es wird zu viel und zu schlecht geröntgt."

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  • Eine aktuelle Untersuchung von Prof. Schwartz zeigt, daß mehr als die Hälfte aller Fachärzte Operationen, die sie ihren Patienten empfehlen, nicht an sich selbst vornehmen lassen würden. Schwartz zieht daraus die Schlußfolgerung, daß bei manchen Krankheitsbildern viele Operationen schlicht unnötig seien.

Der Wettbewerb zur Mobilisierung von derartigen Wirtschaftlichkeitsreserven ist durchaus lohnend. Die Weichen in diese Richtung hat der Gesetzgeber bereits im Gesundheitsstrukturgesetz durch die Einführung von Risikostrukturausgleich und Wahlfreiheit gestellt.

Der kassenartenübergreifende, bundesweite Risikostrukturausgleich gleicht alle Einnahmen der Krankenkassen bis zum GKV-durchschnittlichen Beitrag komplett aus. Die Ausgaben werden gewichtet nach Alter und Geschlecht ebenfalls bis zum GKV-Durchschnitt ausgeglichen. Dies gilt für alle Leistungsausgaben, auch die der Krankenversicherung der Rentner. Damit wird jede Kasse hinsichtlich ihrer Versichertenstruktur - d.h. hinsichtlich der Faktoren beitragspflichtige Einnahmen, Zahl der beitragsfrei versicherten Familienmitglieder, Alter und Geschlecht - so gestellt, als ob sie dem GKV-Durchschnitt entspräche. Mit anderen Worten:

Der Risikostrukturausgleich sorgt bei allen Krankenkassen für eine gleiche Ausgangsposition im Wettbewerb.

Wer unter diesen Bedingungen höhere Ausgaben verursacht, weil er teure Verträge geschlossen hat, muß einen höheren Beitrag erheben. Bei Wahlfreiheit besteht damit die Gefahr von Mitgliederverlusten. Dies kann bis zum Untergang der Kasse führen. Einen Bestandsschutz der Kasse wird es nicht geben. Jede Krankenkasse ist für ihr Überleben im Wettbewerb selbst verantwortlich. Rosinenpickerei nach jungen, ledigen und gut verdienenden Versicherten, die in der Vergangenheit möglicherweise lohnend war, führt unter den neuen Bedingungen zu hohen Zahlungen im Risikostrukturausgleich. Allein Sparsamkeit auf der Ausgabenseite zahlt sich aus. Damit wird ein geschickter Vertragswettbewerb zum Mittelpunkt einer erfolgreichen Kassenpolitik. Einer Krankenkasse, die sich dabei verkalkuliert, laufen die Versicherten weg.

Die zur Zeit von der Krankenversicherung zu schließenden gemeinsamen und einheitlichen Verträge wirken demgegenüber kontraproduktiv. Sie sind zwar bequem, aber meist teuer: Man kann sich nämlich großzügig verhalten, da die Lasten gleichmäßig auf alle verteilt werden. Echte Ver-

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tragsvielfalt gibt es unter den derzeitigen Bedingungen nicht. Damit bleibt den Kassen nichts anderes übrig als ein ausuferndes Marketing. Nur wer die schönsten Plakate klebt oder die pfiffigsten Werbespots sendet, kann auf sich aufmerksam machen. Tatsache bleibt jedoch: Dies ist kein sinnvoller Wettbewerb für eine soziale Krankenversicherung.

Risikostrukturausgleich und Wahlfreiheit machen nur Sinn, wenn im Gesundheitswesen endlich Vertragsfreiheit eingeführt wird. Das Ziel eines freien Vertragswettbewerbs ist es, die Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung im Sinne der Versicherten zu optimieren. Im Kern geht es also um die Devise „Rationalisierung statt Rationierung". Dem Versicherten sind bei günstigen Beitragssätzen eine gute und umfassende medizinische Versorgung zu garantieren.

Wettbewerb ist das legitime und gewollte Streben nach unternehmenspolitischen Vorteilen. Er beschleunigt die Dynamik des Wandels und regt die Suche nach der jeweils besten Versorgungslösung an. Durch das Nebeneinander von verschiedenen Modellen in der Praxis kann der relative Vorteil eines Lösungsweges sicher nachgewiesen werden. Dann wird sich zeigen, ob ein Hausarzt-Abo, kombinierte Budgets, vernetzte Praxen oder ganz andere Versorgungsformen erfolgreich sind.

Wettbewerb verhindert, daß man sich auf einmal Erreichtem ausruht. Da kein Innovationsschutz besteht, werden gute Lösungen von den Konkurrenten schnell kopiert, schlechte Modelle dagegen rasch fallengelassen. Damit erfolgt eine Optimierung durch Nachahmung. In diesem Sinne zwingt Wettbewerb zu Wirtschaftlichkeit, Bedarfsgerechtigkeit und gutem Service. Er fordert die Leistungsbereitschaft, Kreativität, Innovation sowie Flexibilität und wird zu Versichertennähe und damit Versichertenzufriedenheit führen.

Bei aller Einsicht in diese Zusammenhänge bleiben jedoch insbesondere auf seiten der Politik Zweifel am Erfolg - nicht zuletzt bedingt durch die fehlende Bereitschaft, die notwendigen Freiräume für den Wettbewerb zu schaffen. Deshalb wird von dieser Seite zusätzliche Sicherheit entweder durch eine Begrenzung der Einnahmen (z.B. Beitragsleitsatz, Beitragsobergrenze) oder eine Begrenzung der Ausgaben (z.B. Globalbudget) gefordert.

Eine Begrenzung der Einnahmen ist vor allem dann problematisch, wenn gleichzeitig - wie zum Teil diskutiert wird - Satzungsleistungen um

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bis zu ca. 15% ausgeweitet werden sollen. Bei steigenden Ausgaben sollen sie quasi als Puffer dienen, um Beitragssatzanhebungen zu vermeiden. Bei gefährdeter Beitragssatzstabilität oder bei fehlender qualifizierter Zustimmung der Arbeitgeberseite für Beitragssatzanhebungen sollen sie schrittweise gestrichen werden, um eine entsprechende Ausgabensenkung zu erreichen. Dies kann jedoch nicht im Sinne der Versicherten sein, die im Krankheitsfall umfassend versorgt sein wollen.

Der Vorschlag, eine Begrenzung der Einnahmen vorzunehmen, läuft zudem an den aktuellen Problemen im Gesundheitswesen vorbei. Denn eine Einsicht der Leistungserbringer in Kostendisziplin ist kaum vermittelbar. Zudem hat Bundesgesundheitsminister Seehofer selbst darauf hingewiesen, daß die Politik der eigentliche Verursacher für die besorgniserregende Finanzentwicklung in der gesetzlichen Krankenversicherung ist. Ich möchte an dieser Stelle insbesondere an die zahlreichen Verschiebebahnhöfe zwischen den Sozialversicherungszweigen erinnern:

  • Die Absenkung der Beitragsbemessungsgrundlage für Arbeitslose um 20% kostet die gesetzliche Krankenversicherung allein im Jahre 1995 insgesamt 5 bis 6 Mrd. DM. Hinzu kommen Belastungen durch die erhöhten Renten- und Arbeitslosenbeiträge aus Krankengeld in Höhe von 800 Mio. DM. Da werden an der einen Stelle Löcher aufgerissen, um sie an anderer Stelle zu stopfen.

  • Die Instandhaltungskosten der Krankenhäuser sollen nach den aktuellen Gesetzesentwürfen bis Ende 1998 von den Ländern getragen und ab 1999 über die Pflegesätze finanziert werden. Hier ist ein weiterer Verschiebebahnhof zu befürchten. Es sei denn, der Bundesgesundheitsminister löst sein Versprechen ein, daß eine entsprechende Kompensation erfolgen wird.

  • Im Bereich des Rettungswesens nutzen die Kommunen die Krankenversicherung zur Sanierung ihrer Budgets. Trotz vielfältiger Appelle ist die Kostenentwicklung im Rettungswesen nach wie vor besorgniserregend.

  • Die ab 1997 vorgesehene Aufnahme der Sozialhilfeempfänger als Pflichtmitglieder in die gesetzliche Krankenversicherung wird aller Wahrscheinlichkeit nach ebenfalls zu Lasten der Krankenkassen gehen, da zu befürchten ist, daß ihre Versicherungsbeiträge nicht kostendeckend sein werden.

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  • Zwei Drittel des aktuellen GKV-weiten Defizits lassen sich auf den Krankenhausbereich zurückführen. Ursächlich für diese überschießende Entwicklung sind die vom Gesetzgeber gewollten „Ausnahmetatbestände" - also Budgetlöcher, die überproportionale Ausgabensteigerungen im stationären Bereich zulassen. Dreßler hat dies treffend wie folgt bewertet: „Dieses Budget ist keines. Die steuernde Wirkung ist gleich null. Das Krankenhausbudget hat so viele Löcher, daß im Vergleich dazu ein Sieb als dichtes Behältnis angesehen werden darf."

Alles in allem wird damit deutlich, daß von Seiten der Politik nur eine mangelnde Bereitschaft zur konsequenten Kostendämpfung besteht. Vorfahrt der Selbstverwaltung, um peu à peu Satzungsleistungen den Versicherten zu streichen, damit Verschiebebahnhöfe finanziert werden können: Das kann es nicht sein!

Dann lieber übergangsweise eine klare Ausgabenbegrenzung. So wäre es möglich, in der gesetzlichen Krankenversicherung den durchschnittlichen Ausgabenbetrag je Mitglied an den Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts zu koppeln. Damit wird die Entwicklung der Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen mitberücksichtigt. Dieses Budget müßte entsprechend fortgeschrieben und über den Risikostrukturausgleich jeder Kasse zur Verfügung gestellt werden.

Für eine derartige Lösung sind keine organisationspolitischen Änderungen notwendig, und sie macht die Leistungserbringer zu Verbündeten gegen die Verschiebebahnhöfe. Für die Krankenversicherung bedeutet das: freier Vertragswettbewerb unter einem globalen Ausgabendeckel; für die Politik: doppelte Sicherheit, also quasi Gürtel und Hosenträger zugleich.

Im Übergang ist dies sicher der beste Weg: Wenn es gelingt, über intelligente Vertragslösungen Wirtschaftlichkeitsreserven zu mobilisieren, wird man die Budgetgrenze so schnell nicht durchstoßen. Große Gefahr besteht allerdings, wenn die Politik versucht, - ohne Beitragserhöhungen direkt verantworten zu müssen - weitere Lasten auf die gesetzlichen Krankenversicherung zu überwälzen. Deshalb muß es eine echte Vorfahrt für die Selbstverwaltung ohne staatliche Einmischung, Bevormundung oder Lastenumverteilung geben.

Es kommt nun auf den ernsthaften Versuch an, durch einen konsequenten Vertragswettbewerb die Probe aufs Exempel zu machen. Sollte dieser

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Versuch insgesamt fehlschlagen, wird die Politik nicht zögern einzugreifen und das tun, was sich als schlechte Alternative schon jetzt anbietet: nämlich durch Budgetierungen, Leistungsabbau, Bürokratie und Reglementierung die Ausgabenentwicklung im Griff zu halten, aber gleichzeitig die medizinische Versorgung in Richtung Zweiklassenmedizin abdriften zu lassen. Deshalb sollte es keinen Dissens darüber geben, den neuen Weg erst einmal auszuprobieren. Gerade Wettbewerb spornt zu Kreativität und Ideenreichtum an. Um mit Bundespräsident Herzog zu sprechen: „Die Gestaltung der Zukunft gelingt am besten in den Köpfen der unmittelbar Betroffenen." Dafür müssen wir die notwendigen Freiräume schaffen und Bürokratie abbauen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2000

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