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Olaf Sund
Möglichkeiten und Grenzen staatlicher Förderung der beruflichen Bildung in den neuen Bundesländern


1. Gegenwärtige Situation

Der Berufsbildungsbericht gibt die Situation am Ausbildungsstellenmarkt wieder. Nach Aussage der Bundesanstalt für Arbeit ist die Ausbildungsplatzlücke in diesem Jahr gegenüber dem Vorjahr erkennbar größer geworden, obwohl die Wirtschaft in der Bundeskanzlerrunde die Erhöhung der Ausbildungsplätze signalisiert hat. Die Wirtschaftsverbände können aber die Mitgliedsfirmen nicht nötigen, eine höhere Anzahl betrieblicher Ausbildungsplätze bereitzustellen. Die Ausbildungs- und Einstellungsentscheidungen treffen die einzelnen Unternehmen nach ihrer wirtschaftlichen Lage, der jeweiligen Unternehmensprognose, nach der Erwartung, sich aus den Ausbildungsleistungen anderer im Arbeitsmarkt bedienen zu können oder auch durch Anpassungsqualifizierungen von in anderen Bereichen Ausgebildeten.

Zudem gibt es genügend Hinweise dafür, daß der gegenwärtige Ausbildungsstellenmangel in tiefergreifenden Strukturproblemen unseres Wirtschaftssystems begründet liegt, als das etwa noch gelegentlich bei der Bewältigung des Schülerberges in den achtziger Jahren in den Alt-Bundesländern der Fall war.

Wichtigstes Signal ist, daß die Großbetriebe der Industrie und des Handels zunehmend aus der Erstausbildung aussteigen. Vordergründig wird das mit Kostenargumenten begründet. Tatsächlich verbirgt sich dahinter aber auch ein Wandel in der für diese Betriebe geforderten Qualifikationsstruktur, wonach der Facharbeiter traditioneller Prägung in Deutschland zunehmend weniger benötigt wird. Die mit der Facharbeiterausbildung verbundene einfache Formel „Ausbilden heute sichert den Fachkräftebedarf von morgen" scheint ihre Allgemeingültigkeit zu verlieren.

Sie ist jedenfalls zu differenzieren nach

  • mittleren bis großen Betrieben und nach

  • Kleinbetrieben, insbesondere im Handwerk.

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Die freien Berufe und der öffentliche Dienst bleiben hier unberücksichtigt, ebenso die Frage, inwieweit weitere Berufe, z.B. die Gesundheitsberufe, in das duale System einzugliedern wären.

Hintergrund ist der starke Konkurrenzdruck im Rahmen des globalen Wettbewerbs, der insbesondere die Großbetriebe betrifft und dort zu einem Anpassungsdruck an international praktizierte Produktions-, Organisations- und Managementformen führt.

Stichworte sind „lean production" und „lean management" sowie die vielfältigen Formen von computergestützter Produktion und computergestütztem Management, die in den achtziger Jahren auf der Basis der Mikroelektronik begonnen haben. Gegenwärtig werden derartige Formen auf breiter Basis vor allem in Japan praktiziert. Eine gute Allgemeinbildung mit entsprechenden naturwissenschaftlichen Grundkenntnissen sind die auch von den Firmen akzeptierten Voraussetzungen bei der Mehrheit der neu eingestellten Arbeitnehmer. Alles weitere leistet die Firma in der Form von betriebsspezifischen Trainingsprogrammen.

Diese Praxis „beruflicher Bildung" ist den tradierten deutschen Idealen von beruflicher Bildung mit von der Firma unabhängigen bundesweit anerkannten Abschlüssen diametral entgegengesetzt. Deshalb geht es in der Auseinandersetzung um die qualifikatorischen Implikationen neuer Produktions- und Unternehmenskonzepte letztlich auch um kulturelle Konflikte, um Freiheitsgrade des Individuums und um demokratische Werte.

Gleichzeitig stehen traditionelle Ausbildungsstrukturen und die dafür entwickelten betrieblichen Einrichtungen im Zuge der Verschlankungskonzepte unter Druck, und auch hier gilt dann in der Tendenz: Was am Markt kostengünstiger eingekauft werden kann, das muß nicht selber produziert werden, von einer „just-in-time"-Philosophie begleitet.

Die vorstehend beschriebene Problematik betrifft derzeit noch primär die Alt-Bundesländer, weil Großbetriebe in den neuen Bundesländern entweder kaum mehr vorhanden oder noch in der Phase grundlegender marktwirtschaftlicher Anpassungsprozesse begriffen sind. Soweit großbetriebliche Strukturen vorhanden sind, handelt es sich um Niederlassungen aus den Alt-Bundesländern bzw. um entsprechende Konzernzuordnungen. Das Ausbildungsplatzproblem im Osten ist deshalb immer noch primär ein

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Problem der Anpassung an die neuen Verhältnisse und auch des starken Existenzdruckes, in dem sich die meisten neu gegründeten Betriebe noch befinden. Vor dem Hintergrund des allgemeinen Umbruchs ist das Ausbildungsplatzproblem im Osten aber sehr viel existentieller und auch quantitativ gravierender als im Westen.

Es geht um die Zukunft der ersten nachwachsenden Generation unter neuen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen. Dieses Problem ist für jedes der neuen Bundesländer von existentieller und politischer Bedeutung.

Allgemein - im Osten wie im Westen - strapaziert der Ausbildungsplatznotstand die viel gerühmte Integrationsfähigkeit des dualen Systems. Ausgegrenzt werden im Osten vor allem die „äußeren Ränder", weniger leistungsfähige Schüler mit schlechten oder gar keinen Abschlüssen und die Abiturienten. Die Zahl der Ausbildungsverhältnisse für Behinderte nach § 48 BBiG ist in den neuen Bundesländern viermal so hoch wie in den alten Bundesländern. Mädchen werden überproportional in außerbetrieblichen Ausbildungsstätten ausgebildet.

Die Ausgrenzung sogenannter Behinderter ist im Osten auch deshalb ein besonderes Problem, weil es die Kategorie „sozial Benachteiligte" im DDR-System nicht gab bzw. nicht geben durfte. Deshalb bestehen hier zusätzlich besondere Zuordnungsprobleme.

Die tragende Säule des dualen Systems - im Osten wie im Westen - ist inzwischen das Handwerk, wobei sich das Handwerk ein jeweils flächendeckendes System von staatlich geförderten Ausbildungsstätten in der Regie der Kammern für die überbetriebliche Lehrlingsunterweisung ausgebaut hat. Damit sollen Einseitigkeiten und Mängel sowohl der einzelnen ausbildenden Betriebe wie auch der Berufsschulen ausgeglichen werden. Faktisch ist somit das duale System in seinem heute primären Anwendungsfeld ein triales System. Die unter Druck stehende Rolle der Berufsschule im dualen System, die zugleich das „Stiefkind" im System der allgemeinbildenden Schulen ist, wird damit verfestigt.

Das Auseinanderklaffen von Ausbildungs- und Beschäftigungssystem zeigt sich zunehmend an der 2. Schwelle, dem Übergang ins Beschäftigungssystem. Wie neuere Expertenbefragungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung Nürnberg (IAB) ergeben haben, ist dies nicht

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nur ein Problem mangelnder Arbeitsplätze bzw. hoher Arbeitslosigkeit. Nur ein Drittel der befragten Ausbildungsexperten waren der Meinung, daß nach der Lehre keine weitere Einarbeitung erforderlich sei, alle übrigen hielten sie für notwendig, wobei 15% sogar der Meinung waren, dies erfordere mehr als ein Jahr.

Diese Ergebnisse stehen im Gegensatz zu den immer wieder hervorgehobenen Vorteilen der dualen Ausbildung, die vor allem in deren Praxis- und Betriebsnähe gesehen werden. Bei einer durchschnittlichen Dauer von 10 bis 12 Jahren der nach dem Konsensprinzip auszuhandelnden Reformprozesse von Ausbildungsordnungen verwundern diese Einschätzungen nicht.

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2. Von der Bundesregierung und den Sozialpartnern angekündigte „Maßnahmen"

Vor dem Hintergrund der vorstehend skizzierten Probleme hat die Bundesregierung kürzlich nach einem Gespräch der Wirtschaftsverbände und der Gewerkschaften beim Bundeskanzler am 15. März 1995 eine bemerkenswerte Pressemitteilung herausgegeben, die neben einigen Sondermaßnahmen für die neuen Bundesländer, insbesondere sogenannte „Ausbildungsplatzentwickler" das Einvernehmen über folgende zu ergreifende Maßnahmen verkündet:

  • Das Berufsbildungssystem muß den dynamischen Veränderungen von Wirtschaft und Gesellschaft zügiger und flexibler angepaßt werden.

  • Die Palette der Ausbildungsberufe ist weiter zu modernisieren und um neue, zukunftsgerichtete Berufsbilder zu erweitern, beispielsweise im Bereich moderner Kommunikation und moderner Dienstleistungen.

  • Die Verfahren zum Erlaß von Ausbildungsordnungen werden - unter Wahrung des Konsensprinzips - beschleunigt; sie sollen innerhalb von zwei Jahren abgeschlossen sein. Die Erprobung von Zukunftsberufen wird vorangetrieben.

  • Das Spektrum bestehender Ausbildungsberufe soll durch neue Ausbildungsangebote ergänzt werden. Dabei ist beispielsweise an spezielle Angebote für Abiturienten und auch an besondere Ausbildungsgänge

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    für Jugendliche mit mehr praktischer Begabung in entsprechenden Be-schäftigungsfeldern gedacht.

  • Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die bisher ohne abgeschlossene Berufsausbildung bleiben, soll auch künftig durch verstärktes Angebot geeigneter Hilfen ein Abschluß in einem anerkannten Ausbildungsberuf ermöglicht werden.

  • Modelle zur Verknüpfung von betrieblicher Ausbildung und von Ausbildungen im tertiären Bereich (Lehre in Verbindung mit Studium) werden erprobt und in der Umsetzung beschleunigt.

  • Möglichkeiten des Hochschulzugangs für Absolventen beruflicher Bildungsgänge werden erweitert.

  • Von den Bundesländern wird erwartet, daß sie das Berufsschulwesen als wichtigen Bestandteil des dualen Ausbildungssystems nachhaltig verbessern und modernen Anforderungen anpassen.

Der zu erwartende Erfolg dieser wenig konkretisierten Maßnahmen ist zurückhaltend einzuschätzen, weil sie das gegebene System beruflicher Bildung in Deutschland nicht transzendieren und deshalb für die heute gegebenen Probleme keine Lösungen anbieten. Es werden wichtige Ziele und Erprobungsfelder angesprochen, diese aber nicht in Umsetzungsstrategien konkretisiert.

Im einzelnen bedarf es einer Unterscheidung nach kurz- und mittelfristigen Strategien, vor allem im Osten, und auch einer Erweiterung des Perspektivfeldes, indem deutsche Traditionen und Ideale beruflicher Bildung in die globalen wirtschaftlichen Entwicklungen eingeordnet werden. Dies scheint notwendig, wenn der Anspruch, den Wirtschaftsstandort Deutschland halten und ausbauen zu wollen, eingelöst werden soll.

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3. Kurzfristige Strategien zur Bewältigung des Ausbildungsplatznotstandes

Kurzfristig gesehen bleibt vor allem in den Ost-Ländern, wo die demographische Entwicklung weiter steigend ist bei rückläufigem Ausbildungsplatzangebot, nichts weiter übrig, als die Bereitstellung von betrieblichen

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Ausbildungsplätzen massiv zu subventionieren. In Brandenburg experimentieren wir in diesem Jahr mit einer verstärkten Honorierung von Betrieben, die erstmalig ausbilden. Damit wollen wir noch vorhandene Reserven ausschöpfen. Wir müssen aber auch die Betriebe weiter fördern, die bisher schon ausgebildet haben, weil andernfalls mit einer Einstellung der Ausbildungsbereitschaft gerechnet werden muß. Dies mag als Förderung von „Subventionsmentalität" diskreditiert werden. Im Interesse der Jugendlichen bleibt aber keine andere Wahl, weil kurzfristig realistische Alternativen nicht sichtbar sind.

Dabei sind wir uns darüber im klaren, daß diese Art der Förderung mehr die Arbeitslosigkeit der unter 20jährigen bekämpft und hoffentlich dazu beiträgt, daß die Jugendlichen im Lande bleiben, als daß dadurch richtungs- und zukunftsweisende Ausbildung gefördert wird. Die relativ niedrige Arbeitslosenquote von Jugendlichen in Deutschland im europäischen Vergleich wie auch etwa mit den USA ist einer der positiven Begleiteffekte des dualen Systems, der auch andere Länder immer wieder dazu veranlaßt, die Übernahme des Systems zu prüfen. Wenn aber diese Länder das System im einzelnen prüfen, etwa die Rolle der Tarifpartner und den schwerfälligen Prozeß der Aushandlung von Ausbildungsordnungen etc., schrecken sie meist davor zurück, es zu rezipieren, zumal die Beziehungen der Tarifvertragsparteien zueinander und zu anderen beteiligten Stellen eine eigene Entwicklung zu verzeichnen haben und nicht ohne weiteres übertragbar sind.

Wir experimentieren in Brandenburg in diesem Jahr auch erstmalig mit der Förderung von Ausbildungsverbünden zwischen Betrieben und zwischen Betrieben und Bildungsträgern, meinen aber - anders als der Arbeitgeberverband in Berlin und Brandenburg - nicht, daß dies ein Instrument sein kann, die Ausbildungsbereitschaft der größeren Betriebe und des Handels dauerhaft zu erhalten oder wiederherzustellen. Es wird hauptsächlich darum gehen, kleine Betriebe an die Ausbildung heranzuführen und zu entlasten. Es wird auch darum gehen, die schulischen Ausbildungsangebote dabei mit einzubeziehen und die Ausbildungsangebote von freien Trägern.

Am interessantesten sind Versuche, in drei besonders strukturschwachen Landkreisen die regionale Ebene zu mobilisieren, mit Unterstützung der jeweiligen Landräte alle Kräfte der Region zu koordinieren und im Sinne

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einer Maximierung der Effekte zusammenzuführen, auch die meist untereinander konkurrierenden Bildungsträger. Diese Versuche lassen wir wissenschaftlich begleiten, um daraus für andere strukturschwache Regionen systematisch lernen zu können.

Insgesamt handelt es sich um eine Förderstrategie, die im Rahmen des bestehenden Systems alle noch vorhandenen betrieblichen Ausbildungskapazitäten zu mobilisieren versucht, um damit das weitere Ausufern außerbetrieblicher Kapazitäten bei freien Bildungsträgern, die sich quasi neben dem dualen System etabliert haben und in Brandenburg inzwischen fast ein Viertel der benötigten Ausbildungsplätze bereitstellen, zu verhindern. Dennoch wird auch in diesem Jahr an der Bereitstellung und Förderung außerbetrieblicher Kapazitäten in erheblichem Umfange kein Weg vorbeiführen.

Daneben werden Möglichkeiten der Arbeitsförderung in unterschiedlichen Kombinationen zu nutzen sein, die zugleich der finanziellen Entlastung von Kosten für zusätzliche Ausbildung dienen können, wie Ausbilder-ABM. Hier handelt es sich aber ausschließlich um Ad-hoc-Ergänzungen.

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4. Reformnotwendigkeiten und Reformunfähigkeiten des Systems

Mittel- und längerfristig hilft es wohl wenig, am Bild des im deutschen Kulturraum tradierten dualen Systems der Berufsausbildung festzuhalten, insbesondere wenn der gegenwärtig sichtbare Trend - weg von der industriellen Ausbildung hin zu kleinbetrieblich-handwerklichen Strukturen - anhält. Und alle Zeichen deuten darauf hin.

Wenn in Brandenburg inzwischen 80% aller Ausbildungsverhältnisse in der einen oder anderen Form öffentlich subventioniert sind bis hin zur vollen Kostenübernahme durch öffentliche Zuschüsse, dann ist eine bloße Fortschreibung der durch Interventionen entstandenen Entwicklung nicht sinnvoll und nicht vertretbar. Wenn überdies klar ist, daß die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen in den nächsten 10 Jahren wegen der Schülerjahrgangsstärken nicht zurückgeht und eine 10jährige Notversorgung mit der entsprechenden Zahl von Angeboten weder ökonomisch noch inhaltlich sinnvoll ist und ganze Jahrgänge durch die immer neu zu führenden

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Diskussionen und Auseinandersetzungen demoralisiert und desorientiert werden, dann muß der Druck, der von veränderten Bedarfen und Inhalten kommt, mit dem Druck aus dem Ausbildungsstellenmarkt zusammen in einen fruchtbaren Reformdruck umgewandelt werden.

Der Wert der Lehre scheint sich weitgehend auf die Vermittlung von Tugenden, wie Sauberkeit, Ordentlichkeit, Pünktlichkeit im Dienst etc. zu reduzieren, nachdem Elternhaus und Schule dieses zunehmend weniger leisten. Aber es muß auch das Arbeiten im Team geübt werden, die Lösung von Problemen zusammen mit anderen, das Abwägen von Alternativen. Dazu bedarf es der Umsetzung, auch durch neue Formen der Ausbildung.

Wenn in den alten Strukturen über den Bedarf ausgebildet wird, wie das auch durch die Förderpraxis unterstützt wird, sind die Probleme an der 2. Schwelle programmiert, und zwar unabhängig von überhöhten Arbeitslosenquoten, weil die so ausgebildeten Jugendlichen für eine Tätigkeit in Betrieben mit neueren Organisations- und Unternehmenskonzepten weitgehend nicht voll vorbereitet sind bzw. erst langwierig eingearbeitet und neu sozialisiert werden müssen.

Diesem Problem kann auch nicht dadurch abgeholfen werden, daß - wie die Bundesregierung in Übereinstimmung mit den Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften fordert - die Palette der Ausbildungsberufe modernisiert und um neue, zukunftsgerichtete Berufsbilder erweitert wird, zugleich die Verfahren zum Erlaß von Ausbildungsordnungen beschleunigt werden (so das denn „unter Wahrung des Konsensprinzips" gelingen kann), weil sich die qualifikatorischen Anforderungen neuer Unternehmenskonzepte und Produktionsformen im Zeichen des beschleunigten technologischen Wandels immer sehr viel schneller verändern werden als bundesweit auszuhandelnde Ausbildungsordnungen und ihre Umsetzung.

Die seit einiger Zeit bekannten, neuerdings sichtbar verschärften Probleme sind:

  • Eine auf eingeschränkte Tätigkeitsfelder bezogene Berufsausbildung nach dem Muster sogenannter Berufsbilder trägt immer weniger durch das Berufsleben hindurch.
  • Die verschiedenen Ergänzungen und Hilfskonstruktionen, die das System der dualen Berufsausbildung sichern und unterstützen sollen

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    (über- und außerbetriebliche Ausbildung, ausbildungsbegleitende Hilfen und Förderlehrgänge der Bundesanstalt für Arbeit), treten zunehmend an seine Stelle.

Unternehmenskonzepte, die im internationalen Wettbewerb bestehen wollen, brauchen vor allem solche Arbeitnehmer, die frühzeitig „gelernt haben zu lernen" und fortlaufend aus eigenem Antrieb problembezogen weiterlernen, ohne daß sie von der Bundesanstalt für Arbeit „formal" umgeschult werden. Vor diesem Hintergrund sind weitere Ausdifferenzierungen von in sich abgeschlossenen „Berufsbildern" für die Erstausbildung und bundesweit zwischen den Tarifpartnern auszuhandelnde Ausbildungsordnungen kontraproduktiv und behindern eher als daß sie befördern.

Das Dilemma beruflicher Bildung in Deutschland ist, daß die die Szene bestimmenden Tarifpartner und sonstigen Wirtschaftsverbände inzwischen große Routine entwickelt und ihre Machtpositionen gegeneinander abgesteckt haben: jeder Rollenträger in dieser Szene weiß die Antwort des anderen meist bereits im voraus. Reformen sind in diesem System nur schwer durchzusetzen, es fehlt auch an nachhaltigem Reformantrieb, zumal der Staat in der „Sorge für die Jugend" im Ernstfall bislang immer noch als Ausfallbürge eintritt.

Das allgemeinbildende Schulsystem und auch die Hochschulen andererseits haben sich bis heute weitgehend erfolgreich aus den Auseinandersetzungen um die berufliche Bildung herausgehalten, getreu ihrer Beschränkung auf Reformdiskussionen in den eigenen, in sich ebenfalls reformbedürftigen Handlungsfeldern.

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum die Aufgabe beruflicher Bildung in Deutschland weitgehend auf von der Bundesanstalt finanzierte freie Bildungsträger und in der Regie der Kammern und sonstiger Wirtschaftsverbände betriebene Bildungsstätten delegiert ist. So können Strukturen nicht verändert werden, es wachsen eher neue Besitzstände hinzu.

Die Finanzströme staatlicher Finanzierung und Förderung solcher Bildungsunternehmen sind inzwischen sehr umfangreich und kaum noch durchschaubar: in den neuen Bundesländern haben Bundeswirtschaftsministerium, Bundesbildungsministerium und die Bundesanstalt für Arbeit

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weitgehend unabgestimmt und nebeneinander her in die Errichtung und Ausstattung der Bildungsträgerlandschaft investiert. Die laufende Unterhaltung der überbetrieblichen Ausbildung wird vom Bund und den Ländern gefördert, außerbetriebliche Ausbildungsplätze werden von der Bundesanstalt für Arbeit sowie von Bund und Ländern gefördert. Hinzu kommt die umfangreiche Förderung betrieblicher Ausbildung durch die Länder. Was bei der Vielzahl der Finanzierungsströme ein Ausbildungsjahrgang im dualen System an Steuermitteln kostet, ist kaum mehr zu erfassen. Trotz der hohen staatlichen Finanzierung einer Ausbildung, die angeblich in der Verantwortung der Wirtschaft liegt, kommt es jährlich zu dem ebenso peinlichen wie bedrückenden Streit um die Ausbildungsplätze. Was dabei in den jungen Leuten vorgeht und welches Maß an Enttäuschung, auch an Fatalismus und Mißerfolg wächst, das ist nur zu ahnen.

Diese Situation verlangt nach Reformen, in der sich insbesondere das allgemeinbildende Schulsystem und die Hochschulen auf ihre Mitverantwortung für berufsbezogene und berufspraktische Bildung besinnen müssen.

Je mehr eine berufspraktische Grundbildung an Bedeutung gewinnt und weniger eine auf bestimmte Fertigkeiten und Tätigkeiten ausgerichtete berufsspezifische Bildung, ist das auch unabdingbar.

Wer allerdings für eine solche neue Richtung beruflicher Bildung die Initiativ- und Durchsetzungskraft entfalten soll, ist in der föderal geprägten Bildungslandschaft in Deutschland nicht erkennbar, zumal das Bundesinstitut für berufliche Bildung (BiBB) unter dem Daumen der jeweiligen Bundesregierung seine Erkenntnisse nicht so ausprägen kann, wie es dazu in der Lage wäre, geschweige denn eigene Initiativen für von der Bundeslinie abweichende Strategien entwickeln darf. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hingegen gilt als außerhalb des Bildungssystems im engeren Sinne stehend und wird daher von den „berufenen" Bildungspolitikern nicht genügend ernst genommen. Das IAB wird der Arbeitsmarktpolitik zugeordnet. Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik haben sich aber in Deutschland bislang in ihren Strategien nicht ernsthaft miteinander verbunden.

Wenn man ein System entwickelt und befestigt hat und es leistungsfähig halten will, muß man sich Reformanstöße in das System hereinholen, um es zu verändern. Die Träger des Systems in der Bundesrepublik scheinen

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Reformimpulse eher aussperren zu wollen und setzen ihre Kraft darein, trotz aller Kenntnisse und Modellerfahrungen, die vor allem das Bundesinstitut für Berufliche Bildung (BiBB) ihnen vermittelt, es nach wie vor für das Beste in der Welt zu proklamieren. Dies ist es möglicherweise einmal gewesen. Heute ziehen den Wirtschafts- und Machtinteressen, aber auch den veränderten Notwendigkeiten besser entsprechende Regelungen am System vorbei und die in ihnen zum Ausdruck kommenden Impulse für eine Reform auch.

Gefordert sind:

  • Der Ausbau der Berufsschulen zu Berufsfachschulen polytechnischer Prägung, wobei „polytechnisch" die frühzeitige enge Verbindung von Unterricht und Erziehung mit der Arbeitswelt und ihren Anforderungen bedeutet. Diese berufsfeldbezogenen Bildungsgänge sollen primär auf die praktisch begabten Schüler ausgerichtet werden, aber auch die Möglichkeit der Berufsausbildung mit Abitur bieten. Leider haben wir die diesbezüglichen Ansätze aus der DDR-Zeit allesamt „aufgelöst", „abgewickelt" und „überführt".

  • Die Anreicherung der Ausbildung an Fachhochschulen um sogenannte duale Komponenten. Ansätze für derartige Studiengänge, in denen Theoriephasen in der Fachhochschule und Praxisphasen im Betrieb regelmäßig abwechseln, gibt es schon an verschiedenen Hochschulen (NRW, Niedersachsen und Berlin mit derzeit rd. 1.000 Plätzen).

  • Insgesamt die Verlagerung der Verantwortung für berufliche Grundbildung und Erstausbildung in das Schul- und Hochschulsystem und die Stärkung der Verantwortung der Wirtschaft für die Weiterbildung. Damit sollen keine „japanischen Verhältnisse" hergestellt werden. Vor dem Hintergrund europäischer Traditionen würde das ohnehin nicht funktionieren. Aber die Wirtschaft kann von der Verantwortung für an einzelnen Berufsbildern orientierten Abschlüssen der beruflichen Erstausbildung weitgehend entlastet werden. Das bedeutet Reformen des Berufsbildungsgesetzes und der Handwerksordnung.

  • Verbindliche Festschreibung der Verantwortung der Wirtschaft für die Weiterbildung und eine Beteiligung an der Grundbildung in der Form von Betriebspraktika etc. analog dem französischen System: eine be-

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    stimmte Quote der Bruttolohnsumme muß für Bildung ausgegeben oder an den Staat abgeführt werden.

Um dieses alles zu bewerkstelligen, bedarf es in der Tat einer neuen Ausbildungskultur, die das Bildungs- und das Beschäftigungssystem miteinander verschränkt und verbindet.

Wer sollte aber ein Interesse an einer Bildungsreform, gleichsam als Kulturreform haben? Die Claims sind abgesteckt und befestigt. Kleinere Grenzkorrekturen und „Modelle" befrieden, aber verändern nicht. Alle scheinen auf ihre Weise von der Misere zu profitieren. Der Fiskus müßte aber ein Interesse daran haben, sich von der gegenwärtigen Situation nicht in eine Dauermisere ziehen zu lassen.

Die sich um regionale Lösungen und Notversorgungen mühen, die Kenner der Misere in den wissenschaftlichen Instituten, die vielen einzelnen, die nicht aufgegeben haben, neue Einsichten zu befördern, sie alle müssen eine öffentliche Diskussion in Gang setzen, in der sich möglicherweise mehr Verbündete für Reformlösungen finden und mobilisieren lassen, als es jetzt den Anschein hat.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2000

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