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Hakki Keskin
Nationalismus und Rassismus im vereinigten Deutschland - Auswirkungen auf die Einwanderer und Gegenstrategien


Wer hätte sich vorstellen können, daß in der Bundesrepublik Deutschland ein Tag käme, an dem Menschen Angst hätten, zur Arbeit zu gehen oder ihre Kinder in die Schule zu schicken, weil sie keine Deutschen sind?

Dies geschah nicht in irgendeinem Land, sondern in diesem demokratischen Staat Bundesrepublik Deutschland, in dessen Vorgängerstaat Millionen von Juden aus rassistischen Gründen auf unvorstellbare Weise noch zu unseren Lebzeiten vernichtet wurden. Als ich Anfang der achtziger Jahre viele Gespräche mit Ausländern über ihre Verbleibeabsichten in der Bundesrepublik Deutschland führte, erfuhr ich nicht selten von Ängsten, wie sich die Stimmung bei der deutschen Bevölkerung entwickeln würde, wenn es zu einer ökonomischen und sozialen Krise käme. Die aus der Vergangenheit abgeleiteten Befürchtungen fand ich extrem übertrieben. „Gerade aus diesem Grunde", erwiderte ich, „kann hier keine rassistische Bewegung mehr Fuß fassen." Nach den Wahlen in West-Berlin und Hessen 1985 und vor allem seit dem 20. April 1989 muß ich feststellen, daß ich mich geirrt habe.

Ich bin seit rund 29 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland. So betroffen und so fassungslos wie am 20. April 1989 war ich noch nie. Ich konnte und wollte es kaum glauben, als mich zwei Tage zuvor viele Türken fragten, ob sie an diesem als „Reichskristallnacht gegen Türken" angekündigten Tag zur Arbeit gehen und ihre Kinder zur Schule schicken sollten. Die meisten Einwandererkinder sind in der Tat an diesem Tag nicht zur Schule geschickt worden und viele ihrer Eltern sind nicht zur Arbeit gegangen. Als ich am 19. April 1989 meine siebenjährige Tochter von der Schule abholte, wollte sie wissen, was eigentlich los sei. Auch in ihrer Klasse wurde darüber gesprochen. „Weshalb wollen die Skinheads uns schlagen?". Ich war nicht imstande, meiner Tochter - eine gebürtige Berlinerin - zu erläutern, worum es geht. Wie sollte ich das?

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Mitte November 1989 sorgte ein Flugblatt unter den Hamburger Nichtdeutschen für große Unruhe und Angst. Neben dem abgebildeten Hakenkreuz war zu lesen: „Führer Befiel wir folgen Dir! DER 100ste Geburtstag von Adolf Hitler wird für euch die Zweite Kristallnacht sein." (Rechtschreibfehler wurden vom Original übernommen.) Namentlich wurden die Türken als diejenigen genannt, die die zweite Kristallnacht erleben sollten. Über die Medien fand diese Ankündigung sehr rasch bei großen Teilen der Bevölkerung Verbreitung. Viele Hamburger Türken fragten sich und uns, ob sie am 20. April, Hitlers Geburtstag, ihre Kinder zur Schule schicken und ob sie selbst zur Arbeit gehen sollten. Obwohl der Bürgermeister und der Innensenator der Freien und Hansestadt erklärten, daß „keine Erkenntnisse für einen 'Aufmarsch' von Rechtsextremisten in Hamburg" vorlägen und Maßnahmen für die Sicherheit ausländischer Mitbürger getroffen seien (Freie und Hansestadt Hamburg 1989), blieben fast alle Einwandererkinder zu Hause und viele ihrer Eltern hatten Angst, zur Arbeit zu gehen. Zu den angekündigten und befürchteten Angriffen von Neonazis kam es in der Tat nicht. Diese hatten aber mit einem Flugblatt erreicht, die gesamte nichtdeutsche Bevölkerung in Angst und Empörung zu versetzen.

Dieses Ereignis macht mehr als deutlich, in welcher psychischen Verfassung sich die Einwanderer-Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland befindet. Eine solche Situation entsteht nicht von heute auf morgen und nicht ohne tiefverwurzelte Gefühle von Angst, Unsicherheit und Beunruhigung auf der einen und Schutzlosigkeit und Mißtrauen auf der anderen Seite.

Diese Angst der Einwanderer hat nichts mit Feigheit zu tun. Sie ist vielmehr Ausdruck des Mißtrauens gegenüber der Politik der Regierenden und Folge der Ausgrenzung aus der Gesellschaft. Die Gesellschaft vermittelt den Minderheiten nicht nur keinen Schutz und keine Geborgenheit, sondern sie zeigt sich vielmehr verschlossen, abweisend, ja zum Teil sogar feindselig.

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Sind diese Gefühle der Einwanderer begründet?

Die Lebenserfahrung, die die Einwanderer vor allem seit Ende der siebziger Jahre machen, begründet diese Gefühle und die daraus resultierende

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Haltung gegenüber der Politik, den Regierenden, der Gesellschaft und der Polizei.

Die 25jährige Türkin Semra Ertan beging an ihrem Geburtstag am 30. Mai 1982 Selbstmord durch Verbrennung, um auf die zunehmende Ausländerfeindlichkeit in der deutschen Öffentlichkeit aufmerksam zu machen: Eine große türkische Tageszeitung nahm dies zum Anlaß und widmete die ganze erste Seite in türkischer und deutscher Sprache einem Aufruf an die Öffentlichkeit, notwendige Maßnahmen gegen die Ausländerfeindlichkeit zu treffen (Milliyet, 3. Juni 1982). Eine junge Türkin opferte ihr Leben, um die deutsche Politik und Gesellschaft zu einer Neuorientierung in der Ausländerpolitik zu bewegen.

Einen Monat danach wurden zwei Ausländer ohne jegliche Veranlassung von einem Rechtsradikalen in Nürnberg erschossen, drei weitere wurden schwer verletzt (Der Tagesspiegel, 26. Juni 1982). Diese waren weder die ersten noch die letzten Opfer rassistischer Anschläge. Bereits Anfang Dezember 1980 waren zwei junge Vietnamesen in Hamburg rassistischer Gewalt zum Opfer gefallen. Über dieses Ereignis berichtete Der Spiegel mit der Überschrift „Bomben und Hetzparolen - in der Bundesrepublik wächst der Haß gegen die Ausländer" (15. September 1980, S. 19-26). Seitdem sind immer wieder Einwanderer, ihre Wohnunterkünfte und ihre Läden Ziele ungezählter Angriffe von rechtsradikalen Personen und Gruppen, vor allem der sogenannten Skinheads. Diese hatten 1985 in Hamburg im Abstand von sechs Monaten zwei junge Türken durch Schläge ermordet (Vom Protest zum Bündnis, Dokumentation des Bündnisses Türkischer Einwanderer, Hamburg 1986). Eine genaue Zahl derer, die infolge rassistischer Anschläge ihr Leben verloren haben, kann wahrscheinlich nicht ermittelt werden. Dies sind einige Beispiele aus dem Anfang der achtziger Jahre, als es mit der brutalen Gewalt gegen die nichtdeutsche Bevölkerung begann. In der Bundesrepublik Deutschland gibt es keine Einrichtung, die sich mit Rassismus und Ausländerfeindlichkeit auf Bundes- oder Landesebene befaßt und solche Ereignisse chronologisch registriert.

Die Presse nimmt sicherlich von den schwerwiegendsten Angriffen Notiz. Die Einwanderer, vor allem die Türken, erleiden aber alltäglich vielfältige ausländerfeindliche und rassistische Handlungen, Beleidigungen, Beschimpfungen, Erniedrigungen. Alltäglich lesen sie in den Straßen und an

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den Wänden, an den Bushaltestellen und in U-Bahnen „Ausländer raus" oder „Türken raus" und allerlei Schimpfparolen.

Ausländerfeindlichkeit und Rassismus dürfen aber nicht lediglich als eine Sache der Rechtsradikalen und Neonazis angesehen werden. Welche Ablehnung und Intoleranz die Ausländer täglich erfahren, hat eine junge Studentin selbst erleben und analysieren wollen. Sie kleidete sich wie eine ländliche Türkin mit Kopftuch, änderte ihren Namen und begann in gebrochenem Deutsch zu sprechen. Ihre Erlebnisse geben die Lebenssituation von Hunderttausenden von Ausländerinnen wieder. Sie schreibt: „Wie gewöhnlich gehe ich zur Haltestelle und warte einige Minuten auf den Bus. Die Leute schauen mich an, mustern mich. Während der Fahrt in die Darmstädter Innenstadt komme ich an Mauern und Häuserwänden vorbei, auf denen 'Ausländer raus' oder 'Türken raus' steht. Das Gefühl, das ich dabei als 'Türkin' empfinde, ist jetzt irgendwie anders. Die Schmierereien machen mir richtig Angst, denn heute bin ich selbst betroffen. Ich bin eine von denen, die 'raus' sollen." ... „In meiner so gewohnten Umgebung war ich plötzlich fremd, fühlte mich als Außenseiter, der hier nichts zu sagen hat und keine Ansprüche stellt." (Sozialmagazin, April 1984). Die Erfahrung dieser als Türkin verkleideten Frau titulierte die Frankfurter Rundschau als „ein(en) Gang durch eine Arena der Feindseligkeit" (23. Januar 1984).

Günter Wallraff hatte zweieinhalb Jahre lang als Türke gearbeitet und den Arbeits- und Lebensbedingungen der Einwanderer nachgeforscht. Die Erfahrungen Wallraffs hatten bekanntlich weltweites Aufsehen erregt. Frau Funcke, ehemalige Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, schrieb in ihrer Stellungnahme zu Wallraffs Buch: „Der Bericht von Günter Wallraff 'Ganz unten' macht betroffen... Er ist nicht nur eine Anklage gegen Mißstände im Beschäftigungsbereich. Es richtet sich zugleich auch an die Gesellschaft insgesamt und hält ihr die Frage vor, wie sie mit Menschen anderer Nationalität umgeht - mit Menschen, die seit Jahren oder Jahrzehnten unter uns leben, mit uns arbeiten, lernen und wohnen. Müssen sich diese Menschen nicht vielleicht abgelehnt, zurückgestoßen, mißachtet oder - was noch schlimmer ist - übersehen vorkommen?" (Frankfurter Rundschau, 24. Oktober 1985; Günter Wallraff, Köln 1985).

Die Diskriminierung hört selbst in den öffentlichen Ämtern nicht auf. Nicht selten werden Einwanderer in Behörden grob und inhuman behan-

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delt. Nicht selten entsteht bei vielen Einwanderern der Eindruck, daß selbst die Polizei ihre Aufgaben nicht unparteiisch wahrnimmt.

Diese Entwicklung ist in höchstem Maße alarmierend. Ohne Unterschied der politischen Gesinnung und Parteizugehörigkeit sollten alle Demokraten in diesem Lande diesen Zustand als Herausforderung begreifen und ohne Zeitverlust mit allen demokratischen Mitteln und Möglichkeiten diesem Trend zur Erneuerung der rassistisch-faschistischen Ideologien entgegenwirken.

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Was sind die Gründe und wer trägt die Verantwortung für diese Entwicklung?

Die Gründe für die Zunahme von Ausländerfeindlichkeit und Rassismus sind vielfältig. Der Hauptnährboden für rassistisch-ausländerfeindliche Ideologien und Handlungen ist sicherlich in den ungelösten Problemen im ökonomischen und sozialen Bereich zu suchen. Die seit Ende der siebziger Jahre andauernde Arbeitslosigkeit, die in den letzten zehn Jahren im Jahresdurchschnitt knapp 10% beträgt, die verschärfte Wohnungsnot, vor allem in den Großstädten, Schwierigkeiten in den Schulen der Ballungsgebiete mit hohem Ausländeranteil gehören zu den wichtigsten dieser Engpässe. Der Kampf gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit macht es also zwingend notwendig, die sozialen und ökonomischen Probleme anzugehen und sie zu beseitigen.

Die Engpässe begünstigen zwar Ausländerfeindlichkeit und Rassismus, müssen aber nicht automatisch dazu führen. Dies ist sehr oft erst dann der Fall, wenn die von Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot und relativer Armut Betroffenen hierfür die Minderheiten verantwortlich machen. Oder wenn sie zu der Ansicht gelangen, „die Fremden, die Ausländer haben nicht das Recht, in diesem Land zu sein, zu leben und zu arbeiten."

Und hier beginnt die Verantwortung der Politik. Hier kommt es darauf an, ob die Politiker für diese entstandenen Mißstände und Schwierigkeiten mit ihrem Finger auf die Minderheiten zeigen und sie zum Sündenbock für das Versagen der Politik machen, oder ob sie der Bevölkerung die entstandene Lage sachlich und objektiv erklären. Mindestens genauso wichtig ist ihr Verständnis vom Daseinsrecht der Minderheiten, d.h., ob sie der Bevöl-

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kerung sagen, daß diese Minderheiten zum festen Bestandteil der Gesellschaft geworden sind und zu diesem Land gehören und ob sie die dafür notwendigen Rahmenbedingungen schaffen.

Leider halten die Regierungen in der Bundesrepublik Deutschland unverändert an einer Politik fest, die darauf abzielt, die Einwanderer je nach dem Bedarf des Arbeitsmarktes zu beschäftigen. Bis heute wird darauf beharrt, daß die seit nunmehr 10, 20, 30 Jahren oder länger in der Bundesrepublik lebenden Nichtdeutschen keine Einwanderer, sondern Ausländer seien. Selbst die in der Bundesrepublik Deutschland geborenen und aufgewachsenen Kinder der Einwanderer, die rund ein Drittel der Ausländerbevölkerung ausmachen, werden Ausländer genannt und rechtlich so behandelt. Ich glaube, im Vergleich zu allen übrigen europäischen Staaten ist es ein deutsches Phänomen, daß die Politik für die seit Jahrzehnten in der Bundesrepublik lebenden und dort geborenen Menschen ausschließlich den Begriff „Ausländer" verwendet.

Dies ist aber eine bewußte Politik der Absonderung dieser Menschen von der deutschen Bevölkerung. Ausländer ist eben Ausländer, also jemand, der nicht zu diesem Lande gehört, dessen Aufenthalt hier provisorisch ist und der keine dauerhaften Rechtsansprüche stellen darf. Diese Politik prägt das Bewußtsein der Bevölkerung auch im Verhältnis gegenüber den Minderheiten, nämlich daß die Ausländer letztlich eben kein Recht haben, bei Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot im Lande zu bleiben, sie haben zu gehen!

Durch zahlreiche Erklärungen verantwortlicher Politiker wird diese Haltung bei der deutschen Bevölkerung sogar verstärkt. Ich möchte diese fatale und folgenschwere Politik nur an einem Beispiel deutlich machen: In einer Presseerklärung vom 1. September 1984 sagte der für Ausländerfragen zuständige damalige Innensenator von Berlin-West, Lummer: „Das Ausländerproblem ist neben der schwierigen wirtschaftlichen Situation, der kritischen Arbeitsmarktlage und der Zerrüttung der Staatsfinanzen das schwerwiegendste politische Problemfeld, das die Bundesregierung und der Berliner Senat als Hinterlassenschaft ihrer Amtsvorgänger haben übernehmen müssen. Dieses Problem ist gekennzeichnet durch eine zu große Zahl in Deutschland lebender Ausländer, ihre Massierung in großstädtischen Ballungsgebieten, ihren vergleichsweise geringen Bildungs- und Ausbildungsstand, ihren überproportionalen Anteil an der Zahl der

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Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger, die überdurchschnittliche Kriminalitätsbelastung und die vielfach geringe Bereitschaft oder Fähigkeit zur Eingliederung in die hiesigen Lebensbedingungen und Gebräuche. Diese Faktoren resultieren in einer Belastung unseres Wirtschafts- und Sozialsystems, die auf Dauer weder vertretbar noch verkraftbar ist."

Unter anderem forderte Herr Lummer die Bundesregierung auf, den „Ausländeranteil spürbar zu reduzieren", um so die Arbeitslosigkeit und die Folgeprobleme zu lösen (Der Senator für Inneres Berlin, Pressemitteilung, 1. September 1984). Bei manchen Politikern geht diese Position so weit, daß sie sich mit der ausländerfeindlichen Partei „Republikaner" darüber streiten, wer eigentlich einen härteren Kurs gegen die Ausländer verfolgt. Der frühere bayerische Ministerpräsident Max Streibel unterstrich stolz: „Schönhuber vertritt weithin CSU-Positionen, gerade im Bereich der Ausländerpolitik. Der eigentliche Imitator heißt also Schönhuber." (Die Welt, 1. Februar 1989).

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Die „Republikaner" als dominante ausländerfeindliche Partei

Seit Jahren agieren in der Bundesrepublik Deutschland die rassistisch-rechtsradikalen Parteien:

  • Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD)
  • Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei (FAP) und
  • Deutsche Volksunion (DVU).

Sie wetteifern miteinander gegen die ausländische Bevölkerung. Sie verfügen über eine Vielzahl von Publikationsorganen. An ihren Wahlerfolgen gemessen, außer partiellen Erfolgen in einzelnen Bundesländern, blieben sie bis heute ohne nennenswerte Bedeutung. Es gibt auch Listen, die an den Wahlen in Bundesländern teilnehmen, wie z.B. die Hamburger Liste für Ausländerstop (HLA). Auch diese stellen rassistisch-ausländerfeindliche Ziele in den Mittelpunkt ihrer Wahlkämpfe. Auch diese blieben ohne nennenswerte Erfolge (Backers/Jesse 1989).

Die von Schönhuber im November 1983 gegründete Partei „Republikaner" schien sich als diejenige rechtsradikal-ausländerfeindliche Partei etabliert zu haben, die die größten Aussichten auf einen Einzug in die

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Parlamente hat. So waren sie u.a. in den Landesparlamenten von West-Berlin und Hessen sowie im Europaparlament vertreten. Bei den Europawahlen 1989 erhielten die „Republikaner" im Bundesdurchschnitt 7,7% der Stimmen.

Ausländerbezogene Themen werden, ähnlich wie bei den oben genannten Parteien, schwerpunktmäßig behandelt. In ihrer Wahlzeitung zur Europawahl 1989 mit einer Auflage von 3 Millionen, mit Plakaten und Werbespots im Fernsehen hat sie in manipulativ geschickter Weise Ausländerhaß geschürt (Der Republikaner, Sonderausgabe 1/1989).

Der „Republikaner"-Vorsitzende Schönhuber widmet der „Ausländerfrage" offensichtlich so viel Beachtung, daß er 1989 ein Buch über die „Türken, Geschichte und Gegenwart" veröffentlichte. Hier wird die ausländerpolitische Orientierung der „Republikaner" klar dargestellt:

„Vorbei sind Friede und Friedenszeiten. Demonstrationen, z.T. gewalttätige, beherrschen die Straßen. Nicht selten bilden von verfassungsfeindlichen Organisationen irregeführte und mißbrauchte Türken die Speerspitze.

Ängste machen sich breit. Die Türkei ist uns nähergerückt. Sie liegt buchstäblich vor unserer Haustür. Die Türken pochen an die Türen, begehren Wohn-, Arbeits- und Wahlrecht. Das geht vielen Deutschen zu weit. So war's nicht gedacht. Aus Gastrecht muß kein Wohnrecht werden. Die Hausregeln wollen die Einheimischen bestimmen."

Immer wieder malt er ein Bild der Bedrohung durch Türken in Deutschland. „Das Frankfurter Bahnhofsviertel und Berlin-Gropiusstadt haben wenig mit Deutschland zu tun, Berlin-Kreuzberg ist z.T. bereits Ausland. Es ist fünf Minuten vor zwölf auf der europäischen Uhr. Oder hat die Stunde bereits geschlagen?" mahnt er (Schönhuber 1989, S. 12, 215).

Außer den „Republikanern" werden die oben genannten rechtsradikalen Parteien vom Verfassungsschutz observiert. Juristische Maßnahmen wurden nur gegen einige dieser Parteien eingeleitet.

Rassistische Ideologien finden Unterstützung auch aus dem Hochschulbereich. Mit dem sogenannten „Heidelberger Manifest" wandten sich 15 Hochschulprofessoren 1982 an die Öffentlichkeit: „Mit großer Sorge beobachten wir die Unterwanderung des deutschen Volkes durch Millionen

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von Ausländern und ihren Familien, Überfremdung unserer Sprache, unserer Kultur und unseres Volkstums." (Die Zeit, 5. Februar 1982).

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Eine falsche Politik hat dem Rassismus Vorschub geleistet

In den Jahren 1980 bis 1993 wurde eine von Jahr zu Jahr heftiger werdende Asyldiskussion in Deutschland geführt. Mit steigenden Asylbewerberzahlen wurde diese Diskussion zunehmend polemisch, unsachlich und aggressiv geführt. Vor allem die rechtsradikalen Parteien, aber auch CDU und CSU, zeigten mit erhobenem Zeigefinger zunächst auf Asylsuchende und dann auf die Ausländer insgesamt. Das Asylthema wurde zu einem der hauptsächlich diskutierten Themen hochstilisiert, mit dem sich trefflich Emotionen wecken und Stimmen fangen ließen. Selbst als liberal geltende Zeitungen und Zeitschriften widmeten Schlagzeilen und ganze Titelseiten, oft leider nicht ohne Polemik, diesem Thema.

Die am häufigsten verwandten Schlagworte waren die folgenden (Redeweik/Bergeest 1992):

  • Schlepperorganisationen
  • Fluchtarten und Fluchtwege
  • Asylmißbrauch
  • Unterbringungsprobleme
  • Kosten
  • Kriminalität durch Asylbewerber
  • fehlende Akzeptanz durch die Bevölkerung
  • Gewalt gegen Asylsuchende und Ausländer.

Unter diesen Gesichtspunkten spielten und spielen die Ursachen der Flucht, also die Beweggründe der Asylbewerber, kaum eine Rolle. Die sicherlich entscheidenden Fragen:

  • Weshalb kommen die Flüchtlinge nach Deutschland und Westeuropa?
  • Was sind also die Gründe für die Flucht?

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  • Trägt dabei Deutschland, tragen die Staaten Westeuropas dafür Verantwortung, und wenn ja, wodurch?

wurden fast immer ausgeklammert.

Ohne die Ursachen eines Problems zu erkennen und wenn möglich zu bekämpfen, kann die Diskussion über die Auswirkungen, wenn überhaupt, nur begrenzt nützen. Die Ausblendung dieser Ursachenforschung und das Fehlen jeder Diskussion über eben diese Ursachen geschieht nicht aus Unwissen, sondern stellt eine gewollt Strategie dar. Denn für die Ursachen von Flucht und Immigration (zumindest für die von Süd nach Nord!) liegt die Verantwortung ganz maßgeblich bei den westlichen Industriestaaten. Diese Verantwortung und die daraus zu ziehenden Konsequenzen, die im folgenden noch genauer belegt werden sollen, werden von Politik und Medien jedoch ganz bewußt ausgeklammert.

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Ursachen werden ausgeklammert

Solange wir unwillig sind, zunächst einmal eine gründliche Ursachenforschung zu betreiben, werden wir dem zunehmenden Druck der Zuwanderung nicht Herr werden, auch nicht mit einer faktischen Aufhebung des Rechts auf Asyl.

Die Konservativen haben über mehr als ein Jahrzehnt die Diskussion auf die eben genannten Schlagworte reduziert und als Konsequenz immer wieder die Änderung des Asylrechts wie des Asylverfahrens gefordert. Bis heute wurde das Asylverfahrensgesetz neunmal geändert, ohne den vorgesehenen Erfolg auch nur ansatzweise zu erreichen. Mit der Änderung des Asylrechts (§16 GG) und des Asylverfahrensgesetzes im Juni 1993 wird ein weiterer Versuch in dieser Hinsicht unternommen.

Die Liberalen wie auch die Progressiven haben ebenfalls eine, für meine Begriffe falsche Position vertreten. Sie haben sich als Reaktion auf die Vorschläge der Konservativen nur mit deren Schlagworten auseinandergesetzt. Bei dieser Auseinandersetzung ging es unter anderem darum, ob die Asylsuchenden nun tatsächlich politisch Verfolgte sind, oder ob es sich nicht vielmehr um sogenannte Schein- oder Wirtschaftsasylanten handele.

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Richtig ist, daß nur ein Bruchteil der Flüchtlinge aus politischen, der allergrößte Teil in der Tat aus ökonomischen oder sozialen Gründen seine Heimat verläßt.

Die Frage ist aber doch, was die Ursachen der miserablen ökonomischen und sozialen Bedingungen in den meisten Ländern der Dritten Welt sind und inwieweit wir, die reichen Industriestaaten, für diese Entwicklung Verantwortung tragen.

Hierüber hätte die Auseinandersetzung stattfinden müssen! Wir hätten den Bürgern in diesem Lande zurufen müssen: Liebe Leute, wir sind in hohem Maße verantwortlich

  • für Elend, Armut, Hunger,
  • für Massenarbeitslosigkeit, Inflation, fehlende Infrastruktur,
  • für die extrem hohe Auslandsverschuldung so vieler Staaten,
  • für den Preisverfall der Produkte aus diesen Ländern,
  • für die permanente Abwertung ihrer Währungen,
  • für die krassen Gegensätze zwischen Armen und Reichen,
  • für die Interventionen unserer Armeen, um in diesen Staaten uns genehme Regime zu installieren, meist Diktaturen (zumindest war dies in der Vergangenheit stets so),
  • für politische Repressalien und Menschenrechtsverletzungen.

Auf eine kurze Formel gebracht, hätte gesagt werden müssen: Liebe Leute, die Menschen in vielen Ländern der Erde sind deshalb so arm, weil wir so reich sind. Sie haben deshalb einen solch niedrigen Lebensstandard, ein solch niedriges Pro-Kopf-Einkommen, weil wir im Vergleich zur einen Hälfte der Weltbevölkerung ein 500mal höheres Einkommen haben.

Kurzum: Unser hoher Lebensstandard entsteht zu einem beachtlichen Teil zu Lasten dieser Menschen. An dem, was wir diesen Menschen fortnehmen, versuchen nun die Flüchtlinge und Arbeitsimmigranten hier bei uns teilzuhaben.

Den unmittelbaren Zusammenhang zwischen arm und reich belegen folgende Beispiele:

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- Die Entwicklungsländer leiden seit drei Jahrzehnten unter dem Preisverlust ihrer exportierten Produkte. Es findet also ein sehr ungleicher Tausch statt. Im Durchschnitt müssen die Entwicklungsländer aufgrund dieses Ungleichgewichts 300 bis 400% mehr an Waren exportieren, um vergleichbare Importe aus den Industriestaaten bezahlen zu können. Hinzu kommt, daß die Einnahmen dieser Staaten aus ihrem Export zu einem ganz großen Teil wieder in die Industriestaaten zurückfließen.

- Beispiel Kaffee

An dem hier im Lande verkauften Kaffee verdiente der Deutsche Staat 1990 durch Zoll- und Steuereinnahmen 3,191 Mrd. DM. Die deutschen Röstereien machten Gewinne in Höhe von 2,955 Mrd. DM. Das sind insgesamt 6,146 Mrd. DM.

Den Produzenten, den Arbeitern und Bauern in den kaffeeexportierenden Staaten blieb von dieser Summe gerade mal ein Drittel, also 2,127 Mrd. DM.

Zwei von acht Milliarden, das heißt 25% der Erlöse bleiben den Drittweltstaaten, die dafür aber 80% der notwendigen Arbeit, bis der Kaffee beim Verbraucher ankommt, leisten müssen.

Während wir als Verbraucher uns über die niedrigen, in den vergangenen Jahren weiter fallenden Kaffeepreise freuen, betrugen die Verluste allein der Kaffee-Exporteure aus Afrika infolge dieses Preisverfalls 2,550 Mrd. DM allein in den Jahren 1989 und 1990 (Stern, 26. September 1991).

Die Folgen dieses ungleichen Tausches wie des an den Warenbörsen der Industriestaaten bewirkten Preisverfalls sind für diese Länder verheerend. Sie müssen durch vermehrte Verschuldung im Ausland ihre Importe finanzieren. Diese Verschuldung bei uns, den reichen Staaten, verschlingt durch Zinsen und Tilgungsraten zusätzlich noch einen Großteil der Exporterlöse dieser Staaten.

Ein Teufelskreis, der die Hoffnungslosigkeit für Millionen von Menschen in den südlichen Regionen der Erdkugel zementiert und diese Menschen letztendlich auch unter großen persönlichen Risiken zur Auswanderung aus ihrer Heimat treibt.

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Laut OECD (einer Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit, der 24 der reichsten Staaten der Erde angehören) beliefen sich die gesamten Entwicklungshilfeleistungen, Exportkredite, privaten Investitionen und Bankkredite in den Jahren von 1982 bis 1990 für alle Entwicklungsländer auf insgesamt 927 Mrd. US $. Im gleichen Zeitraum flossen allein an Schuldendienst, an Zinsen und Tilgungen also, aus diesen Entwicklungsländern 1.345 Mrd. US $ an die Gläubigerstaaten. Das ergibt einen Saldo von 418 Mrd. US $ zugunsten der Industriestaaten. Damit haben die armen Länder der Dritten Welt allein mit ihrem Schuldendienst den reichen Ländern sechs Marshall-Pläne finanziert.

Die tatsächlichen Zahlungsbilanzverluste sind aber weit größer. Lizenzgebühren, Gewinnrückführungen sowie unterbezahlte Rohstoffe und sonstige Produkte würden diese Summe zu Lasten der Entwicklungsländer in starkem Maße vergrößern.

Das Schlimme ist, daß diese Zahlungen der Entwicklungsländer deren Schuldenlast keineswegs verringern, diese hatten vielmehr Anfang der neunziger Jahre 61% mehr Schulden als 1982 (George 1993, S. 12f.)! Betrug nach 1985 die Auslandsverschuldung der Entwicklungsländer 1.123 Mrd. DM, so stieg sie 1992 auf 1.703 Mrd. DM. Die Auslandsschulden der am wenigsten entwickelten Länder, den sogenannten „Viertwelt-Staaten", stiegen im gleichen Zeitraum um 110%!

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Wir stehen vor einer gewaltigen Aufgabe

Laut Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation der UNO (ILO) gab es 1990 rund 100 Millionen legale oder illegale Immigranten, davon ca. 15 Mio. Flüchtlinge. Wir haben es hier also mit ganz enormen, weltweit wirkenden Wanderbewegungen zu tun. Der Wanderungsdruck vor allem von den ärmeren Regionen in die reichen Industriestaaten, also nach den USA, Kanada, Westeuropa, Australien und demnächst auch Japan, wird mit Sicherheit zunehmen. Auch Staaten wie Italien, Griechenland, Spanien oder Portugal, aus denen noch vor kaum mehr als einem Jahrzehnt Menschen in den reicheren Norden Europas auswanderten, haben heute selbst große Probleme mit Immigranten und Flüchtlingen.

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Selbst die sogenannten Schwellenländer bleiben heute von der Zuwanderung nicht verschont. So hat die Türkei in den letzten zehn Jahren aus Iran, Afghanistan, Irak, Bulgarien, dem ehemaligen Jugoslawien und Rumänien weit mehr als 1,7 Mio. Menschen aufgenommen. Pakistan, Iran, Sudan und Somalia haben in den vergangenen 15 Jahren ein Vielfaches der Flüchtlinge untergebracht wie alle westlichen Industriestaaten zusammen. Die Entwicklungsländer erleben darüber hinaus eine rasante Binnenwanderung, neben einem starken Bevölkerungswachstum. Die Weltbevölkerung wächst jährlich um 90 bis 100 Millionen Menschen. Enorme Verstädterungsprobleme stellen die Länder der „Dritten und Vierten Welt" vor kaum lösbare Aufgaben.

Von diesen dramatischen Umwälzungen können die westlichen Industriestaaten nicht ausgeklammert bleiben. Sie müssen sich dieser historischen Aufgabe stellen. Diese Staaten stehen vor der Alternative, sich entweder in Festungen zu verwandeln und diese Festungen gegebenenfalls mit Polizei- und Militärgewalt vor Zuwanderung zu schützen oder aber gemeinsam gegen die Ursachen von Flucht und Immigration mit den dazu erforderlichen Konzepten und Projekten vorzugehen.

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Ursachen von Flucht und Zuwanderung bekämpfen

Weit über die Hälfte der Erdbevölkerung verfügt über einen Lebensstandard, welcher um bis zu 50fach niedriger ist als der der entwickelten Industriestaaten. Dieses extreme Gefälle nimmt nicht etwa ab, es nimmt vielmehr laufend zu. In vielen Ländern der sogenannten „Dritten Welt" wächst die Hoffnungslosigkeit, fehlt der Glaube daran, daß es je besser werden könnte. Diese zunehmende Polarisierung zwischen vielen armen und wenigen reichen Ländern ist dabei nicht das Ergebnis einer Laune der Natur, sie wurde vielmehr ganz zielgerichtet durch eine jahrhundertelange Politik kolonialer Ausbeutung von den Industriestaaten hergestellt und danach mittels ihrer Wirtschafts- und Entwicklungspolitik zementiert. So profitieren bis heute aus den bestehenden Wirtschaftsbeziehungen zwischen Dritter und Erster Welt fast ausnahmslos die ohnehin schon reichen Staaten. Auch die Gründe für Kriege zwischen oder Bürgerkriege innerhalb der „Dritte-Welt-Staaten" haben nur allzu oft koloniale Wurzeln.

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Diesem Nord-Süd-Konflikt ist durch den Zerfall der Sowjetunion und ihrer Satelliten auch noch ein Ost-West-Problem zur Seite getreten, so daß aufgrund der dortigen desolaten Wirtschaftsverhältnisse auch aus diesem Bereich mit verstärkter Zuwanderung gerechnet werden muß.

Welche Folgen hätte es wohl für unseren Planeten, wenn ein großer Teil der Erdbevölkerung unser Konsumniveau nebst dem damit verbundenen Rohstoff- und Energieverbrauch erreichen würde? Die zunehmenden Belastungen und weitreichenden Folgen für Klima, Strahlung, Luft- und Wasserqualität sind kaum vorstellbar. Wie utopisch und wirklichkeitsfremd es heute auch in den reichen, allein an Konsum orientierten Industriestaaten anmuten mag, seitens der Politik auf neue Wertmaßstäbe hinzuarbeiten, die man dort heute noch propagiert, so bleibt eine radikale Abkehr von unseren heutigen Wertmaßstäben doch unsere einzige Überlebenschance. Wir werden nicht mehr lange für den Erhalt der tropischen Wälder in den Dritte-Welt-Staaten werben, diesen gar durchsetzen können, wenn wir weiterhin unsere eigenen Wälder ruinieren. Nur wenn wir selbst neue Wertmaßstäbe setzen und diese auch glaubwürdig vorleben, haben wir eine Chance, jene daran zu hindern, ihren enormen Nachholbedarf im Konsumbereich auszuleben.

Soziale Gerechtigkeit darf es nicht allein innerhalb der Grenzen nationalstaatlicher Territorien geben, sie muß weltweit propagiert und ihre Umsetzung gerade von uns Sozialdemokraten auch gefordert und praktiziert werden. Solange dieses Ungleichgewicht aber herrscht, dürfen wir uns auch nicht darüber wundern, wenn Menschen immer wieder versuchen, an diesem Reichtum zu partizipieren. Der Einsatz für eine gerechte Weltwirtschaftsordnung entspringt daher keineswegs sozialromantischen Gefühlen, er ist vielmehr eine Maßnahme zur Eindämmung einer ungeregelten Zuwanderung. Willy Brandt, Olof Palme sowie Bruno Kreisky waren Vertreter einer solchen Politik.

Deutschland kann diese gänzlich neue Orientierung, die die Grundlagen unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems berühren wird, nicht allein gestalten. Dazu bedarf es des Zusammenwirkens aller Industriestaaten. Deutschland könnte sich aber an die Spitze einer Entwicklung stellen, die ohnehin nicht aufzuhalten sein wird, und sich damit als Nebeneffekt gar noch einen Spitzenplatz bei all den neuen Technologien sichern, die mit dieser Umgestaltung einhergehen werden.

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Die Eskalation rassistischer Gewalt

Nicht die Asyldiskussion und die Änderung des Asylrechts, sondern die Art und Weise der Asyldiskussion hat entscheidend zur Eskalation der rassistisch-ausländerfeindlichen Gewalt beigetragen.

In Hoyerswerda hat sich zum ersten Mal in der Geschichte Deutschlands der demokratische Rechtsstaat durch die Neonazis in die Knie zwingen lassen. Der Staat wäre ohne Zweifel imstande gewesen, der Lage dort mit rechtsstaatlichen Mitteln Herr zu werden. Ganz offensichtlich gehörte es zur politischen Strategie, die Angriffe gegen die mozambikanischen und vietnamesischen Bewohner so weit eskalieren zu lassen, daß sie gezwungen waren, die Stadt zu verlassen. Bei diesen Aktionen genossen die rechtsradikalen Täter nicht nur eine überaus milde Behandlung von den politisch Verantwortlichen, sondern auch breite Zustimmung aus der Bevölkerung. Der Weg für weitere Gewaltaktionen gegen nichtdeutsche Menschen war für die Neonazis nunmehr frei. Sie wurden ermutigt, die politisch gewollte Verdrängung der Flüchtlinge mit Hilfe der Gewalt exemplarisch und moralisch zu exekutieren.

In welchem Ausmaß die rassistisch motivierte Gewalt gegen Nichtdeutsche zugenommen hat, zeigt folgende Tabelle, die wir nach den Angaben des Bundesverfassungsschutzes zusammengestellt haben.

Gesetzesverletzungen mit erwiesener oder zu vermutender rechtsextremistischer Motivation*

Delikt

1993

1992

1991

Tötungsdelikte

20

6

3

Sprengstoffanschläge

3

11

3

Brandanschläge

284

656

380

Landfriedensbrüche

36

k.A.

k.A.

Körperverletzungen

727

585

449

Sachbeschädigungen mit erheblicher Gewaltanwendung

539

1.019

648

Summe

1.609

2.277

1.483

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Delikt

1993

1992

1991

Bedrohungen/Nötigungen

1.414

1.191

351

Propagandadelikte (u.a. Schmier-, Klebe-, Plakat-, Flugblattaktionen sowie Zeigen des Hitlergrußes)

1.437

1.211

1.624

Sonstige Gesetzesverletzungen (z.B. Volksverhetzungen, Beleidigungen, Verunglimpfungen)

2.261

329

426

Summe

5.112

2.731

2.401

Gesamt

6.721

5.008

3.884

* Zahlen gemäß den Verfassungsschutzberichten von 1992 und 1993.

Dies sind die polizeilich gemeldeten und registrierten Zahlen. Viele gegen Nichtdeutsche verübte Delikte werden erst gar nicht bei der Polizei gemeldet. Die tatsächlichen Zahlen dürften um ein Vielfaches darüber liegen.

Ein weiterer unrühmlicher Höhepunkt auf dem von vielen Politikern geduldeten Wege, die Gewalt der Neonazis eskalieren zu lassen, war die brutale Vertreibung nichtdeutscher Bewohner eines Heimes für Asylsuchende in Rostock. Dort wurden die Heimbewohner stundenlang schutzlos den mit Molotowcocktails und Schlagstöcken angreifenden fanatisierten Neonazis vor den Augen von Millionen Fernsehzuschauern ausgeliefert. Es ist sicher nicht das Verdienst der Ordnungskräfte, sondern vielmehr ein glücklicher Zufall, daß niemand bei den Bränden ums Leben kam. Dies war für mich ein unfaßbares Ereignis, das ich nie vergessen werde.

Ich sage hier ganz bewußt, daß der Staat diese Schandtaten duldete, enthielt diese Haltung doch deutliche Botschaften. Zum einen sollte den Einwanderern signalisiert werden, wie unerwünscht sie sind, andererseits wollte man den Angreifern und den ihnen zujubelnden Volksmassen zu verstehen geben, daß ihr Tun durchaus im Sinne der offiziellen Politik sei.

Es folgten die Ereignisse von Mölln, Solingen, Lübeck und an vielen weiteren Orten in Deutschland. Die Weltöffentlichkeit begann mit großer Aufmerksamkeit und zunehmend mit Sorge und heftiger Kritik die Entwicklung in Deutschland zu verfolgen. Dank des Einflusses der Weltöffentlichkeit, aber auch dank der kritischen Berichterstattung in Deutschland selbst, kamen die Regierenden zu der Erkenntnis, daß sie über das

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Ziel hinausgeschossen waren. Das Ansehen Deutschlands hatte weltweit gelitten, auch die Wirtschaft spürte erste negative Auswirkungen. Auch das Asylrecht wurde schließlich so weit beschnitten, daß die Bewerberzahlen ab 1993 deutlich zurückgingen. Millionen von Menschen, beunruhigt und besorgt, nahmen an Lichterketten und anderen Protestaktionen teil. Selbst Bundeskanzler Kohl war über das Ansehen Deutschlands besorgt. Endlich sollte dieser außer Kontrolle geratenen rechtsradikalen Gewalt mit rassistischem Hintergrund Einhalt geboten werden.

Es war diese von Teilen der Politik so gewollte politische Atmosphäre, die diesen Zustand wollte und ermöglichte. Erst die dann einsetzende Reaktion mit ihren für das Ansehen Deutschlands negativen Auswirkungen führte dazu, eine weitere Eskalation vorerst einzudämmen.

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Gegenstrategien

Noch bis vor wenigen Jahren vertrat ich die Auffassung, daß wir bei der Verwendung des Begriffs „Rassismus" in bezug auf die Ereignisse in Deutschland wegen der Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus sehr vorsichtig sein sollten. Der damals praktizierte Rassismus hat bis in die heutige Zeit reichende Überzeugungen bei einer Reihe von Menschen hinterlassen.

Ich kam aber zu der Überzeugung, daß Deutschland damit kein guter Dienst erwiesen wird, wenn man das Problem verharmlost. Auch muß die Tragweite richtig eingeschätzt werden, damit Gegenstrategien und Lösungswege gefunden werden können. Es ist unbestreitbar, daß es in Deutschland einen gewissen Bodensatz rechtsradikaler Menschen und rassistischen Gedankenguts gibt, doch haben sich daraus ganz unterschiedliche Formen des Rassismus gebildet, denen es zu begegnen gilt.

Eine radikale Neuorientierung von der Ausländerpolitik hin zur Kulturellen-Minderheiten-Politik mit dem Ziel der Gleichstellung und Gleichbehandlung der hier dauerhaft lebenden Nichtdeutschen ist in der Bundesrepublik Deutschland erforderlich.

Der beste Weg zur Gleichstellung der Immigranten und ihrer Kinder wäre die Einführung der Doppelstaatsangehörigkeit mit ruhender Staatsange-

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hörigkeit des Herkunftslandes und aktiver Staatsbürgerschaft der Bundesrepublik Deutschland. Diese Forderung der Einwanderer erfährt zunehmend Unterstützung durch die SPD, die Grünen, die FDP, von Teilen der CDU, die Gewerkschaften und Kirchen.

Für den Kampf gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit ist die Verabschiedung eines Gesetzes erforderlich, welches rassistisch-ausländerfeindliche Äußerungen und Handlungen unter Strafe stellt. Zu diesem Zweck wurde 1989 in Frankreich ein Antidiskriminierungsgesetz verabschiedet (Frankfurter Rundschau, 29. März 1990). Bekanntlich hatten Belgien bereits im Juli 1981 und Schweden 1983 ein solches Antidiskriminierungsgesetz verabschiedet und strafrechtliche Sanktionen bei Zuwiderhandlung festgeschrieben (Hürriyet, 27. Juli 1981; Information fran Statens Invandrarverk hets mod folksgrup Turkiska, Januar 1983). Außerdem ist die Einrichtung eines „Ausländer-Antidiskriminierungsbüros" erforderlich, um sämtliche rassistisch-ausländerfeindlichen Vorkommnisse zu registrieren und Gegenmaßnahmen zu ermöglichen.

Die Grundvoraussetzung eines friedlich-solidarischen Zusammenlebens der in Deutschland dauerhaft lebenden kulturellen Minderheiten mit der deutschen Bevölkerung ist nicht nur die rechtliche, politische und soziale Gleichstellung, sondern auch ihre Gleichbehandlung in allen Bereichen der Gesellschaft. Dies ist heute nicht gewährleistet. Deshalb braucht auch Deutschland neben anderem ein Antidiskriminierungsgesetz, ähnlich wie es u.a. bereits die USA, Kanada, die Niederlande, Frankreich, Belgien, Großbritannien und Schweden haben.

Ziel und Zweck eines solchen Gesetzes ist die Beseitigung und Verhinderung von Benachteiligungen der nichtdeutschen Bevölkerung von staatlicher und von privater Seite. Adressaten des Gesetzes sind dementsprechend sowohl der Staat als auch private (juristische) Personen. [Fn 1: Erläuterungen zum Antidiskriminierungsgesetz vgl. letztes Kapitel.]

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Die verschleierte Form des Rassismus

Selbst wenn es nicht allen Politikern bewußt und verständlich ist, kann eine dauerhafte Ausgrenzung von Menschen, die anerkanntermaßen Mit-

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glieder der deutschen Gesellschaft sind, nicht anders als eine andere Form der Apartheid, also des Rassismus, bezeichnet werden. Es kann auch nicht anders verstanden werden, wenn Menschen, die seit 10, 20 oder mehr als 30 Jahren in Deutschland leben, und zwar mit allen Pflichten (bis auf den Wehrdienst, den sie nicht leisten dürfen), von denen viele sogar in Deutschland geboren wurden. Schulen besuchten und ihre Berufe erlernten, mit einem Sonderrecht, also minderen Rechten hier leben. Da hilft auch nicht das Argument, sie besäßen nicht die deutsche Staatsbürgerschaft. Den Menschen, die allein den Makel aufweisen, in ihrer Ahnenreihe nicht auf deutschstämmige Vorfahren gestoßen zu sein, wird der Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft so weit erschwert, daß sie sie nur unter großen Opfern oder gar nicht erwerben können. Zugleich erhalten aber Aussiedler aus Kasachstan, Rumänien oder anderen ehemaligen Staaten des Ostblocks ohne Probleme die deutsche Staatsbürgerschaft, weil sie deutscher Abstammung sind, obwohl sie oft weder deutsch sprechen noch je in Deutschland gelebt haben.

Deshalb finden Nichtdeutsche auch keinen Zugang zu Berufen im Öffentlichen Dienst, selbst wenn dieses als gesellschaftspolitisch wichtig angesehen wird. So können sie ohne deutschen Paß nicht als Polizeibeamte eingestellt werden. Da dies aber oft sinnvoll und politisch erwünscht ist, muß man dafür über Hilfskonstruktionen zweifelhafte Möglichkeiten finden.

Wir haben es hier also mit einer institutionalisierten Absonderung, Diskriminierung und einer neuen Form des Rassismus zu tun. Wer den Rassismus bekämpfen will, muß vor allem helfen, diese staatlich praktizierte Diskriminierung zu beseitigen.

Bei der Gegenwehr gegen den Rassismus erachte ich folgende Maßnahmen für überfällig:

  1. Beseitigung der institutionalisierten Diskriminierung durch eine erleichterte Einbürgerungspolitik, ohne den Zwang des Verlusts der bisherigen Staatsbürgerschaft.
  • Wer sind diese sogenannten Nichtdeutschen, die als Ausländer bezeichnet werden?

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  • Weshalb besitzen diese dauerhaft in Deutschland lebenden Menschen nicht die deutsche Staatsbürgerschaft?

Diese „Ausländer" leben meist seit Jahrzehnten mit ihrem Dauerwohnsitz in Deutschland. Ihre Kinder sind gebürtige Bundesrepublikaner oder in Deutschland aufgewachsen. Ihre Enkel werden in Deutschland geboren. Sie gehen in ihrem Wohnort zum Kindergarten, zur Schule, und erst in einem fortgeschrittenen Alter erfahren und erleben sie, daß sie „Ausländer" oder „Fremde" sind. Die erste Generation, die angeworbenen Arbeitsimmigranten, haben ihren Wunsch, nach einem mehr oder weniger kurzen Aufenthalt in Deutschland in ihr Herkunftsland zurückzukehren, mehrheitlich längst aufgegeben. Deutschland ist für diese Menschen faktisch zur neuen Heimat geworden. In gleicher Weise wie die deutschen Staatsbürger zahlen sie ihre Steuern, Sozialabgaben und Rentenbeiträge. Sie erfüllen alle staatsbürgerlichen Pflichten bis auf den Wehrdienst, den sie als Nichtdeutsche ungewollt nicht leisten dürfen. Eben diese Menschen, die längst zu einem festen Bestandteil dieses Landes geworden sind, blieb der Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft - von nur wenigen Ausnahmen abgesehen - bis zum Inkrafttreten des neuen Ausländergesetzes am ,1l. Januar 1991 versperrt.

Bis heute blieb das geltende Staatsangehörigkeitsrecht von 1913 im wesentlichen unverändert. Dabei wurde an dem Prinzip der Abstammung von deutschem Blut, von deutschen Vorfahren also, bis heute festgehalten. Die Eingewanderten ohne deutsche Vorfahren hingegen konnten bisher nur auf Antrag nach den sehr strengen Modalitäten und dem Ermessen der Behörden eingebürgert werden. Hierbei mußte die Einbürgerungsbehörde zu der Überzeugung gelangen, der Antragsteller habe sich bereits soweit integriert, daß er als assimiliert, als eingedeutscht akzeptiert werden könne. Dies setzte und setzt noch immer die Aufgabe der bisherigen Staatsbürgerschaft und die völlige Hingabe zum Deutschtum voraus. Diese großen Hürden bewirkten, daß letztlich kaum ein an der deutschen Staatsbürgerschaft Interessierter einen Antrag auf Einbürgerung stellte.

Das neue Ausländergesetz von 1990 sieht zwar in einigen Paragraphen eine Lockerung und Erleichterung bei der Einbürgerung vor, hält aber an der erzwungenen Aufgabe der bisherigen Staatsbürgerschaft weitestgehend fest.

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Wenn also heute nach über dreißigjähriger Immigration nach Deutschland der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit nur von einem kleinen Teil der Einwanderer genutzt wird, so trägt hierfür allein das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht, das am Ende dieses Jahrtausends wie ein „Einbürgerungsverhinderungsgesetz" wirkt, die Verantwortung und keineswegs die Einwanderer.

In dieser Hinsicht ist Deutschland im Vergleich zu allen seinen Nachbarn, insbesondere neben Frankreich und Großbritannien, ein ultrakonservatives, wenn nicht gar rückständiges Land. Bereits durch Geburt erwerben alle Immigrantenkinder in Frankreich und Großbritannien, um bei diesen Ländern zu bleiben, automatisch die dortige Staatsbürgerschaft. Die erste Generation kann nach fünfjährigem Aufenthalt die französische bzw. britische Staatsbürgerschaft erwerben, ohne ihre bisherige aufgeben zu müssen.

Die in Deutschland dauerhaft lebende Einwandererbevölkerung ist nicht mehr bereit, die Verweigerung ihrer rechtlichen, politischen und sozialen Gleichberechtigung hinzunehmen. Vor allem die zweite und alle weiteren Generationen werden diesem Zustand mit zunehmender Bitterkeit, Empörung und Protest begegnen.

Aber auch das Gebot der Demokratie und der Menschenrechte erfordert die Gleichstellung vor dem Gesetz und die praktizierte Gleichbehandlung aller Menschen, die Deutschland zu ihrem Lebensmittelpunkt gemacht und sich hier niedergelassen haben.

Die Gretchenfrage, die einer raschen Antwort bedarf, lautet also: Wie wird diese Aufgabe zu lösen sein? Auf welchem Wege können wir Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit für alle in Deutschland lebenden Menschen erreichen? Hierbei kommt einem radikal erneuerten und der realen Entwicklung angepaßten Staatsangehörigkeitsrecht eine zentrale Bedeutung zu. Dieses neue Recht muß:

  • den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft durch Geburt in Deutschland für alle automatisch ermöglichen,

  • den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft für die hier dauerhaft lebenden Nichtdeutschen nach einer bestimmten rechtmäßigen Aufenthaltsdauer als einen Rechtsanspruch vorsehen (in Schweden reichen

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    dafür drei, in Frankreich fünf Jahre aus, auch für Deutschland müßten fünf bis acht Jahre genügen),

  • beim Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit sollten alle, die aus den unterschiedlichsten, für sie jedoch plausiblen Gründen, ihre alte Staatsbürgerschaft - wenn auch in passiver Form - beibehalten wollen, dieses Recht haben.

    „Von den 26 Europaratsstaaten halten außer der Bundesrepublik Deutschland nur Österreich und Luxemburg", so Verfassungsrechtler Hailbronner (1992), an der Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit fest.

Kurz: Nur über die Doppelstaatsbürgerschaft, für die ich seit 12 Jahren konsequent eintrete und die das Bündnis Türkischer Einwanderer zu seiner zentralen Forderung gemacht hat, haben wir die Chance, das für einen demokratischen Staat selbstverständliche Grundrecht nach Gleichheit aller dort lebenden Menschen zu realisieren.

Dieses ist, gerade nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, daß selbst auf kommunaler Ebene nur deutsche Staatsbürger wählen dürfen, die einzige Alternative, die wir haben. Das Gutachten von Prof. Hailbronner zur Doppelstaatsbürgerschaft hat außerdem klargestellt, daß es keine triftigen verfassungs- oder gar völkerrechtlichen Gründe gibt, die gegen eine doppelte Staatsbürgerschaft sprechen.

  1. Eine interkulturelle Erziehung als Konzept gegen Rassismus und Antisemitismus müßte als Gesamtkonzept gegen Rassismus und Antisemitismus im Vorschul-, Schul- und Hochschulbereich als neue Erziehungs- und Bildungspolitik akzeptiert und eingesetzt werden.


Interkulturell bedeutet dabei:
  • voneinander lernen, Dialog, Austausch, Entgrenzung, Gegenseitigkeit, Erziehung zur Solidarität;
  • Anerkennung der Lebensweisen, der Verschiedenheit des Verhaltens und der kulturellen Werte, ihrer Bedeutsamkeit und ihrer Funktionsweisen (Rey-von Allmen 1989, S. 47ff.).

Die interkulturelle Erziehung und Bildung sollte als Chance verstanden werden, in der angestrebten Erziehungs- und Bildungspolitik folgende Ziele zu ermöglichen:

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  • Verständigung zwischen den Menschen aus unterschiedlichen Kulturen,
  • Offenheit und Toleranz gegenüber dem Andersseienden,
  • Abbau von Vorurteilen, um eine vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit anderen Kulturen zu ermöglichen.

Das Hauptziel der interkulturellen Erziehung wird sein:

Was kann ich von anderen Kulturen lernen, was können die Menschen aus anderen Kulturen von mir lernen?

Globale Ziele dieser Erziehungs- und Bildungspolitik müßten sein:

  1. Die Weltoffenheit und weltweite Verständigung zwischen den Menschen unterschiedlicher Rasse, Herkunft, Religion, Muttersprache und elterlicher Tradition und Lebensweise.
  2. Erziehung zum Engagement für Frieden, Gleichheit, Brüderlichkeit und Solidarität im eigenen Lande und in der Welt.
  3. Erziehung zum Eintreten für eine gerechte Welt und Weltwirtschaftsordnung, in der Benachteiligung und Ausbeutung anderer Länder keinen Platz findet, in der kein Mensch mehr verhungert und in der die Grundbedürfnisse aller Menschen gestillt werden.
  4. Erziehung zur Bewahrung der Erde und des ganzen Planeten auch für die kommenden Jahrtausende für die Menschen und alle Lebewesen (Keskin 1992).

Diese Erziehung müßte bereits in den Kindergärten beginnen. Wie wir wissen, wirken die Vorurteile der Eltern und des Umfeldes über angeblich negative Eigenschaften anderer Kulturen bereits recht früh auf die anfangs vorurteilsfreien Kinder. Deshalb sollte die interkulturelle Erziehung in den Vorschul- und Schuleinrichtungen bei den Elternabenden und Festen mit pädagogischen Mitteln auch die Eltern erfassen.

Das Zusammenleben mit anderen Kulturen kann man nur in einem langwierigen Prozeß lernen, mit dem man nicht früh genug beginnen kann. „Das 'Andere' zu bejahen, ohne das 'Eigene' zu mißbilligen, einen realistischen und relativierenden Blick für kulturelle Unterschiede zu erwer-

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ben, das ist die Aufgabe, vor die der interkulturelle Unterricht gestellt ist" (van Geertruyen 1989, S. 189).

Mit Hilfe des interkulturellen Lernens könnten die Menschen „als Träger der Kultur den Schritt vom Nebeneinander zu einem Miteinander der Kulturen bei sich selbst erleben ...", um sich mit den Problemstellungen und Chancen dieses Wandels identifizieren zu können (Kula 1986, S. 330).

Interkulturelle Erziehung heißt auch die Bewahrung der kulturellen Identität der Minderheiten. Die Lippenbekenntnisse vieler Politiker, sie wollten die „kulturelle Identität" der Einwanderer und ihrer Kinder bewahrt sehen, widersprechen der praktizierten Politik im Vorschul-, Schul- und Hochschulbereich. In vielen Kindertagesheimen und Schulen, in denen ein beachtlicher Teil der Kinder Einwandererkinder ist, kann von interkultureller Erziehung, Lernen und Lehren in keiner Weise die Rede sein. Die Lehrprogramme, Inhalte und Methoden zeigen vielmehr ein Bild, als seien diese Einrichtungen ausschließlich von deutschen Kindern besucht.

Zur Bewahrung der eigenen kulturellen Identität für ethnisch-kulturelle Minderheiten gehört selbstverständlich auch das Erlernen der Muttersprache im Rahmen des regulären Unterrichtsprogramms.

Die Kinder und Kindeskinder der ethnisch-kulturellen Minderheiten müssen die Möglichkeit haben, ihre Muttersprache als erste oder zweite Fremdsprache, also auch als Prüfungsfach, zu wählen.

Die Kinder mit einer anderen Religion müssen die Möglichkeit haben, in der Schule parallel zu dem üblichen Religionsunterricht über ihre eigene Religion unterrichtet zu werden. Noch besser wäre es allerdings, wenn der Religionsunterricht im Sinne der interkulturellen Erziehung in einer Mischform die Grundzüge der Religionen aller Kinder behandeln würde.

Bis heute berücksichtigt die Ausbildung der Lehrerinnen und Sozialpädagoginnen - von wenigen Ausnahmen abgesehen - die unterschiedliche Lage kultureller Minderheiten nicht. Auch bei der Ausbildung von Erzieherinnen, Lehrerinnen und Sozialarbeiterinnen müßten die Lehrprogramme, Inhalte und Methoden der realen Situation gerecht werden.

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  1. Verabschiedung eines Antidiskriminierungsgesetzes, welches auch das Verbot rassistisch-antisemitischer Organisationen und Publikationen beinhalten müßte.

Ein solches Gesetz sollte folgendes beinhalten:

  • „Positive Aktionen": Dieses umfaßt die Maßnahmen, die benachteiligten kulturellen Minderheiten in bestimmten öffentlichen und privaten Bereichen solange bevorzugt zu fördern, bis eine Chancengleichheit mit den übrigen gesellschaftlichen Gruppen hergestellt ist.

  • Benachteiligungsverbote: Benachteiligungsverbote untersagen etwa Arbeitgebern, Vermietern von Wohnraum oder Gastwirten, Nichtdeutsche zu benachteiligen. Diese Vorschriften sollten Beweislasterleichterungen für die Nichtdeutschen enthalten. Eine solche Beweislasterleichterung könnte etwa so aussehen, daß es genügt, daß der Betroffene Tatsachen glaubhaft macht, die eine Benachteiligung vermuten lassen und der andere, z.B. der Arbeitgeber, beweisen muß, daß eine Diskriminierung nicht vorliegt. Benachteiligungsverbote sollten dem Betroffenen Schadensersatz gewähren. Dieser Schadensersatz sollte den Schaden umfassen, den der Betroffene dadurch erleidet, daß er auf das Zustandekommen etwa des Arbeits- oder Mietvertrages vertraut hat und auch immateriellen Schadensersatz (eine Art Schmerzensgeld) gewähren. Diskriminierungen von erheblichem Umfang sollten zudem mit Strafe bedroht sein. Daneben sollten in die entsprechenden Gesetze (etwa die Gewerbeordnung oder das Gaststättengesetz) Regelungen eingefügt werden, wonach bei erheblichen Diskriminierungen dem Gewerbetreibenden oder Gastwirt die entsprechende Erlaubnis entzogen werden kann.

  • Strafverschärfung: Die Strafandrohung für Straftaten sollte erhöht werden, wenn diese mit rassistischem Hintergrund begangen werden. Hier könnten die jüngst modifizierten Strafrechtsbestimmungen zum Vorbild genommen werden.

    „Wer öffentlich gegen eine Person oder eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse oder ihrer Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder religiösen Gruppe zu Hass oder Diskriminierung aufruft,

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    wer öffentlich Ideologien verbreitet, die auf eine systematische Herabsetzung, die Verleumdung der Angehörigen einer Rasse oder einer ethnischen oder religiösen Gruppe gerichtet sind,

    wer mit dem gleichen Ziel Propagandaaktionen organisiert, fördert oder daran teilnimmt,

    wer öffentlich durch Wort, Schrift, Bild, Gebärden, Tätlichkeiten oder in anderer Weise eine Person oder einer Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse oder ihrer Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder religiösen Gruppe in ihrer Menschenwürde angreift oder aus einem dieser Gründe das Andenken von Verstorbenen verunglimpft,

    wer in Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit einer Person oder einer Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse oder ihrer Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder religiösen Gruppe eine öffentlich angebotene Leistung verweigert,

    wird mit Gefängnis oder mit (Geld)Buße bestraft." (Das schweizerische Strafgesetzbuch § 261, geändert 1994).

  • Interkulturelle Erziehung: Das Lehrmaterial in den Schulen und Hochschulen sollte auf diskriminierende Inhalte untersucht werden und ergänzt werden, um zu mehr Toleranz, zu einem offenen Dialog und zu mehr Akzeptanz gegenüber kulturellen Minderheiten beizutragen.

  • Vertretung in den Rundfunkräten: Kulturelle Minderheiten müssen in Institutionen wie den Rundfunkräten vertreten sein.

  • Bestehende Gesetze überarbeiten: Die bestehenden Regelungen in den Gesetzen, die in Anwendung tatsächlich zu Diskriminierungen von kulturellen Minderheiten führen, müssen abgebaut werden.

  • Beschwerdeinstanz: Das Antidiskriminierungsgesetz schreibt auch die Errichtung von Beschwerdestellen gegen Diskriminierung der kulturellen Minderheiten vor. Diese Beschwerdestellen sind auf Landesebene anzusiedeln. Sie sind schlichtungs- und klagebefugt.

  • Subventionsvoraussetzungen: Darüber hinaus dürfen staatliche Subventionen und Aufträge des Bundes und der Länder nur dann an Unternehmen vergeben werden, wenn diese nachweisen können, daß sie

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    die Ziele des Gesetzes, nämlich Gleichstellung und Gleichbehandlung, erfüllen.



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Literatur

Backers, U./E. Jesse: Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1989.

Freie und Hansestadt Hamburg, Staatliche Pressestelle: Erklärungen von Senator Hackmann vom 18. April und Bürgermeister Voscherau vom 19. April 1989.

van Geertruyen, G.: Eine kulturanthropologische Sicht auf die Praxis des interkulturellen Unterrichts, in: M. Hohmann/H.H. Reich (Hrsg.): Ein Europa für Mehrheiten und Minderheiten, Münster/New York 1989.

George, S.: Der Schuldenbumerang, Hamburg 1993.

Hailbronner, K.: Rechtsfragen der doppelten Staatsangehörigkeit bei der erleichterten Einbürgerung von Wanderarbeitnehmern und ihren Familienangehörigen. Rechtsgutachten im Auftrag des Ausländerbeauftragten des Senats der Freien und Hansestadt Hamburg, Hamburg 1992.

Keskin, H.: Gleichstellung und Identitätsbewahrung für ethnisch-kulturelle Minderheiten in Deutschland, in: Standpunkt: Sozial, Nr. 1/92, Hamburg 1992.

Kula, O.B.: Türkische Migranten-Kultur als Determinante der interkulturellen Pädagogik, Saarbrücken 1986.

Redeweik, B./T. Bergeest: Gewalt gegen „Fremde" und der Mediendiskurs 1991. Der Spiegel, die Bildzeitung und das Thema Asyl, Diplomarbeit im Fachbereich Sozialpädagogik an der Fachhochschule Hamburg, Hamburg 1992.

Rey-von Allmen, M.: Interkulturalismus - Holzwege und Herausforderungen, in: M. Hohmann/H.H. Reich (Hrsg.): Ein Europa für Mehrheiten und Minderheiten, Münster/ New York 1989.

Schönhuber, F.: Die Türken. Geschichte und Gegenwart, München 1989. Wallraff, G.: Ganz unten, Köln 1985.


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