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Dagmar Klose
Deutsche Identität im vereinten Deutschland


Sicherlich kann man kaum davon ausgehen, daß die Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger ein theoretisches Interesse für ihre Identität im vereinten Deutschland hegt. Wohl aber spüren sie, ob sie mit sich und ihrer Umwelt im wesentlichen zufrieden sind, ob sie dieses notwendige Gefühl der „Unzerfallenheit mit sich selbst" (Zimmer 1990, S. 68) haben, das ihnen Kraft zur Lebensbewältigung verleiht.

Es ist bemerkenswert, wie bewußte oder unbewußte Angriffe auf die Identität der Persönlichkeit deren Abwehr- und Kompensationsstrategien initiieren. Da verteidigt unversehens einer solche Positionen, die er längst kritisch überwunden hat, weil er sich in seiner eigenen Lebensgeschichte angegriffen fühlt. Ostdeutsche Frauen zum Beispiel bekennen sich zu ihrer Mehrfachbelastung in der DDR und werten die gesellschaftliche Rolle der Frau als „top", obwohl Historiker die „große" Geschichte auch in dieser Hinsicht anders schreiben. Wir geraten mit dieser Thematik in das komplizierte Geflecht von „objektiver" Geschichte, die in Deutschland getrennt verlaufen ist und aus zwei grundsätzlich verschiedenen Perspektiven in der Geschichtsschreibung kollektiv erinnert wird, sowie subjektiv erinnerter Vergangenheit, die immer Biographisches ist. Und wir stehen unversehens vor dem Faktum unseres historischen Gewordenseins, das in Ost und West sehr unterschiedlich ist und noch längere Zeit sein wird.

Grundlage jeder Identität im Beziehungsgeflecht von Interaktionen ist die Balance von Ich und Wir (Huhn 1993). Es ist folgerichtig, daß angesichts der historischen Zäsur 1989 auch eine wichtige Besetzung des Wir, die Nation, das Nationale, der Nationalismus, erneut aufgeworfen wurde.

Bezogen auf die Identitätsdiskussion ist die sozialpsychologische Deutung des Begriffs brauchbar. Theodor Schieder definiert Nationalismus wertneutral als spezifische Integrationsideologie (Schieder 1992, S. 105). In dieser sozialpsychologischen Deutung versteht ihn auch Elias (Elias 1990). Er charakterisiert den Nationalismus als „eines der mächtigsten, wenn nicht das mächtigste Glaubenssystem des 19./20. Jahrhunderts". Das nationalistische Ethos beruhe auf dem Gefühl der Solidarität und

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Verpflichtung gegenüber einem souveränen Kollektiv. Somit sei die Liebe zur eigenen Nation auch immer die Liebe zu einem Kollektiv, das man als Wir ansprechen kann. Was immer sie sonst noch sein möge: Sie sei eine Form der Selbstliebe.

Letzten Endes kann kein Staat auf Angebote einer Wir-Identität verzichten, und es leuchtet ein, daß gerade nach der Vereinigung beider deutscher Staaten ein theoretisches und politisch-praktisches Bedürfnis nach Neuorientierung besteht.

Wenn man über Identität diskutiert, kommt man nicht umhin, sowohl das Ich zu definieren als auch das, was unter dem Wir zu verstehen ist. Das Ausbalancieren zwischen beiden Polen ist ein lebenslanger Prozeß, in dem Kontinuität und Diskontinuität, Widersprüche und Konflikte, auch Brüche, Neuansätze und Revision etwas Normales sind. Dabei ist nicht so sehr die objektive Situation entscheidend, sondern die Selbstwahrnehmung des Individuums, ein Umstand, der manche Mißverständnisse in den ost- und westdeutschen Begegnungen und Beziehungen erklären kann. Die historisch entstandenen Warnehmungsmuster, Verhaltensstrategien und Wertehierarchien sind aber Faktoren, die gegenseitig akzeptiert werden müssen. Häufig werden sie gar nicht reflektiert, sind sie nicht bewußt. Die Beschreibung und Erklärung ihres Gewordenseins im Systemvergleich kann daher eine wichtige Grundlage für perspektivische Identitätsangebote im vereinten Deutschland sein. Bedauerlicherweise scheinen die Bemühungen, sich auf ostdeutsche Identitäten zu konzentrieren, wesentlich ausgeprägter zu sein. Möglicherweise steht dahinter eine Auffassung, die meint, westdeutsche Identität erfahre nach der Vereinigung lediglich eine kontinuierliche Fortschreibung.

Andererseits ist diese Asymmetrie auch verständlich, denn Ostdeutsche befinden sich, epistemologisch gesehen, in einer privilegierten Situation, wie sie Koselleck treffend charakterisiert:

„Der geschichtliche Wandel zehrt von den Besiegten. Sofern sie überleben, haben sie jene nicht austauschbare Urerfahrung aller Geschichten gemacht, daß sie anders zu verlaufen pflegen als von den Betroffenen intendiert. " (Koselleck 1988, S. 60).

Ostdeutsche haben die Chance, mit ihren Erinnerungen die Potentiale in Erwägung zu ziehen, die hätten sein können, d.h., sie haben die epistemo-

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logischen Möglichkeiten, auch das Gegebene produktiv in Frage zu stellen. Voraussetzung dafür ist die Erschütterung, der Schmerz, der so oft Geburtshelfer für Kreativität ist. Ihr Verhältnis zur Vergangenheit und zur eigenen Identität ist ein doppeltes: Zum einen ist die Vergangenheit abgeschlossen. Die Geschichte der DDR ist zu Ende. Zum anderen wirkt die in der DDR erworbene Sozialisation fort, und es kann, verbunden mit dem Paradigmenwechsel und anderen sozialen Erfahrungen, etwas Neues entstehen. Auch ist nur das unwiederbringlich dahin, was vergessen ist, was nicht unsere Wirklichkeit berührt.

Es ist sicherlich nicht zufällig, daß gerade ein Dissident aus der Zeit des Prager Frühlings, der Berliner Historiker Bedrich Loewenstein, über eben diese Alternativen nachdenkt. „Wir kennen das Ergebnis eines so arbeitenden Gedächtnisses (gemeint ist das gegenseitige Aufrechnen - D.K.) und wissen inzwischen, daß die Geschichte alles und nichts beweist und auch niemandem 'rechtgibt', es sei denn als Autosuggestion durch einseitig zurechtgemachte Geschichtsbilder, von denen Tacitus die Formel 'fingunt simul creduntque' geprägt hat, also das alte Kinderspiel mit der Furcht vor der eigenen Erfindung. Ich meine, wir sollten gegen diese ideologisierende Rechthaberei eine andere Art von Geschichte stellen, nämlich die Vergegenwärtigung vergangener Chancen, Chancen, die zwar nicht wiederkehren müssen, aber unser Bewußtsein sensibilisieren, und damit auch die Fähigkeit zu trauern wecken... Trauerarbeit ist schmerzlich und befreiend zugleich: vorausgesetzt, sie bleibt nicht auf uns selbst fixiert, sondern schließt kritisches und selbstkritisches Erinnern, den Ausbruch aus der Lebenslüge, das Begreifen des anderen als Teil unserer selbst, mit ein." (Loewenstein 1993, S. 19).

Bezogen auf die Ich-Wir-Balance jeder Identitätsfindung wäre also im historischen Rückblick zu fragen, wieviel Individualität die DDR-Gesellschaft überhaupt zuließ, welcher Normen- und Wertekatalog als Raster einem „guten" Staatsbürger zugrunde gelegt wurde, welche kollektiven Parameter zu erfüllen waren und wie das Verhältnis von Ich-Wir-Balance definiert war.

In der geschlossenen Gesellschaft DDR wurde auf ein sozialistisches Bewußtsein orientiert, das zum Teil in die Gestalt eines vermeintlichen DDR-Nationalbewußtseins gekleidet wurde. (In den siebziger Jahren

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orientierte man auf ein DDR-Nationalbewußtsein gerade für solche, die weniger über das sozialistische Bewußtsein zu gewinnen waren.)

„Identität" zielt auf eine Selbstvergewisserung des Ich 's und hebt im philosophischen Sinne die Differenz zwischen Innen- und Außenwelt auf. Obwohl dieser Begriff weniger gebräuchlich war, galt die Außenwelt (sprich: Gesellschaft) gerade für DDR-Bürger als entscheidende Bezugsgröße, in der das kleine Ich aufgehen sollte. Das Ich wurde kategorial mit der „sozialistischen Persönlichkeit" gefaßt. Die in allen Partei- und Staatsdokumenten und besonders in schulpolitischen Deklarationen geforderte Individualität des Menschen hatte sich in diesen Grenzen zu bewegen.

Zunächst soll die gesellschaftlich wünschenswerte Wir-Identität beleuchtet werden:

Das bereits erwähnte auszubildende sozialistische Bewußtsein wurde vom Krippenalter an systematisch für alle Bildungs- und Erziehungsträger konzipiert und als verbindlich erklärt. Darüber hinaus waren dem alle weiteren gesellschaftlichen Institutionen, Medien etc. verpflichtet. Ein monolithisches Gesellschafts-, Geschichts- und Menschenbild, einschließlich polarisierender Wertehierarchien, verbunden mit dem Anspruch auf absolute Wahrheit, dienten als Raster für die Aneignung von Wirklichkeit, ob vergangen oder gegenwärtig.

Über die Systematik einer gesellschaftlich verordneten Identitätsbildung hat Wendelin Szalai ausführlich geschrieben (Szalai 1993).

Historischer Bildung und Erziehung wurde ein sehr hoher Stellenwert für die Entwicklung des sozialistischen Staatsbürgers zugewiesen. Geschichtsbewußtsein wurde als gewichtiger Bestandteil des gesellschaftlichen und individuellen Bewußtseins aufgefaßt, als dessen Kern das Geschichtsbild galt. Ihm wurde Abbildcharakter eines „realen" Geschichtsprozesses zugesprochen. Somit ist es auch nicht verwunderlich, daß zwischen den Begriffen „Vergangenheit" und „Geschichte" nicht unterschieden wurde, sondern diese synonym gebraucht wurden. Weitere dem Geschichtsbild zugesprochene Eigenschaften sind auf der Grundlage dieser Prämisse in sich stimmig: Dieses „erstmals wissenschaftliche" Geschichtsbild war mit dem Anspruch auf objektive Wahrheit verbunden und präsentierte sich in relativer Geschlossenheit. Es vereinte sowohl historische Tatsachen und

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'historisch-materialistische' Deutungen als auch weltanschaulich-ideologische Wertungen. Sein philosophisches Kernstück war der historische Materialismus. Aus ihm wurden Erklärungs-, Deutungs- und Wertungsmuster im Geflecht von Fakten, Prozessen, Ereignissen und Persönlichkeiten rekrutiert." (Klose 1994).

Es ist äußerst aufschlußreich für das Selbstverständnis einer Gesellschaft, was sie für wert erachtet, aus der Vergangenheit zu erinnern, was das Konstituierende dieser kollektiven Erinnerung ausmacht und was ausgeblendet, „vergessen" wird. Das entscheidende Selektionsprinzip bestand darin, ein Geschichtsbild zu konstruieren, welches das sozialistische Weltsystem als einzige vernünftige Gesellschaftsprognose historisch herleitete und in ihm die Verkörperung des Menschheitsfortschrittes idealisierte. Als Pendant dazu materialisierte die DDR den Höhepunkt alles Fortschrittlichen in der deutschen Geschichte. Ein DDR-Nationalbewußtsein herauszubilden, war ein wichtiges Anliegen historischer Bildung und Erziehung. Die Traditionslinie der Arbeiterbewegung und die des antifaschistischen Widerstandskampfes „unter Führung der KPD" stellten wesentliche Angebote einer Wir-Identität dar. Sie bewirkten aber eher Sättigungseffekte und Ablehnung als Identifikation.

Dennoch erscheint es gerechtfertigt, von einer DDR-spezifischen Identität zu sprechen. Und an dieser Stelle kommt man mit der Analyse offizieller Dokumente etc. allein nicht aus, denn sie erfassen nur z.T. Lebenswirklichkeit und diese mitunter auch verzerrt. Zweifellos darf das Systemtypische nicht ausgeklammert werden; es ist im Gegenteil unverzichtbar für das Verstehen der ostdeutschen Mentalitäten. Zugleich bedeutet eine ausschließliche Konzentration auf das Schrifttum eine unzulässige Verengung und damit Verzerrung ostdeutschen Lebens. Einerseits waren die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen durchaus prägend; andererseits entfaltete sich die genetische Ausstattung der Menschen ganz individuell, und diese Individualität war dank intensiver Sozialbeziehungen möglicherweise reicher als unter den soziokulturellen Bedingungen der alten Bundesrepublik, weniger exogen als vielmehr endogen. Darum werden wohl Ostdeutsche als vergleichsweise weniger oberflächlich, bezogen auf Lebenssinn, empfunden. Und zweifellos gibt es zwischen äußeren und inneren Bedingungen einen vielschichtigen Zusammenhang. Mit größerem zeitli-

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chen Abstand wird es möglich sein, immer tiefer in diesen Zusammenhang einzudringen.

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen und zu können, kann man wohl sagen, daß die Identitätsprobleme im Osten von drei gravierenden Faktoren bewirkt werden: Das ist zunächst die systemimmanente Bewertung von menschlichen Eigenschaften und Handlungen, die unter diametral entgegengesetzten Systembedingungen auf den Kopf gestellt wird. Zum zweiten ist es das Infragestellen der Traditionslinie, in die sich das bewußt handelnde Individuum bis zur Wende gestellt sah und sich nun neu orientieren muß. Und schließlich ist es die mangelnde Perspektivität des sozialen Handlungsspielraumes, die Demotivation verursacht.

Inwieweit die sich auf Marx, Engels und Lenin berufende Gesellschaftsutopie von Anfang an von den Machtinteressen einer politischen Clique bewußt mißbraucht wurde, inwieweit die damit verbundenen Ideale generell uneinlösbar waren und in welchem Maße aufrechte Anhänger dieser Utopie gezielt instrumentalisiert wurden, bedarf wohl noch einer genaueren Analyse der Verflechtung von inneren und äußeren Faktoren. Außerdem wissen wir wenig über die tatsächlichen Bewußtseinsinhalte der DDR-Bürger. Neben den generellen Schwierigkeiten der Bewußtseinsforschung ist der Tatbestand zu beachten, daß es sich ein „gelernter" DDR-Bürger in der Regel zur Gewohnheit gemacht hatte, mit einer Bewußtseinsspaltung zu leben, mit dem offiziell erwünschten Bewußtsein und seinem individuellen.

Dennoch haben die DDR-spezifischen soziokulturellen Bedingungen zu einer bestimmten Mentalität und Identität geführt, und diese Tiefenprägungen werden noch länger weiterwirken, selbst wenn bestimmte Anpassungs- und Kompensationsstrategien diese zum Teil verdecken. Man kann sie zumindest in der generationsspezifischen Dimension erkennen, d.h. bei Menschen, die über Jahrzehnte DDR-sozialisiert waren.

Ostdeutsche haben ihre Urerfahrungen, daß ihnen aus der Sicht von Besserwissenden mitgeteilt wird, wie sie ihre Vergangenheit zu sehen haben. Bedauerlicherweise behindert die Asymmetrie solcherart Kommunikation gegenseitige Verstehensprozesse. Dabei hätte unsere Gesellschaft eine große Chance, wenn sie die gesellschaftlich bedingten unterschiedlichen Lebensziele, Sinngebungen und Wertvorstellungen im Dialog austrüge, und zwar so, daß die Dialogpartner ihre Eigenwahrheiten erläuterten, sich

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dabei der eigenen Denk- und Verhaltensstrategien in ihrer Determiniertheit bewußt würden und nicht dadurch, daß die Autorität oder der Aktionsradius eines Konfliktpartners quasi eliminiert wird.

Und sicherlich müssen Ambivalenzen in ihrem Bedingungsgefüge akzeptiert werden.

Der Wahrheitsanspruch der sozialistischen Gesellschaftstheorie implizierte ein sehr hohes Maß an Erziehungsverantwortlichkeit des Staates gegenüber seinen Bürgern, verbunden mit entsprechenden Sanktionen bei „unangemessenem" Verhalten. Der sozialistische Verhaltenskatalog führte zweifellos zur Nivellierung von Individualität; doch gewährte andererseits der eindeutige Maßstab im Zusammenwirken mit dem „demokratischen Zentralismus" eine gewisse normgerechte Regelung des Zusammenlebens. Dies erklärt auch, daß Ostdeutsche ihre Schwierigkeiten haben, sich auf ein freies Spiel der Kräfte einzustellen und daß ihre anerzogene Selbstdisziplin sie im Konkurrenzverhalten behindert. Sie werden heute für eine ehemals zentrale Tugend bestraft oder zumindest belächelt.

Geringe Unterschiede in den Einkünften motivierten nicht zu einem auf Konkurrenz gerichteten Leistungswillen. Aber die relativ ähnlichen Verteilungsmechanismen schufen auch eine Atmosphäre der Befriedung in den Arbeitskollektiven. Neben dem Familienleben war ein solches Arbeitsleben eine wichtige Lebensgrundlage. Die dort entfalteten zwischenmenschlichen Beziehungen, die Verknüpfung von beruflichen und privaten Kontakten, waren eine zentrale Verortung von Identität. Die Sprengung dieser kollektiven Heimstätten bedeutete somit auch einen Identitätsverlust; der Rückzug der „Kommunikationsgesellschaft" DDR auf bedacht abgeschirmte private Inseln und eine doppelbödige Kommunikation, eine unter der schützenden Maske und eine - eingeschränkte - mit Vertrauenspersonen, wird als großer Verlust empfunden. Vermutlich rührt von daher solch ein Phantomschmerz, von dem Christa Wolf spricht und der anzeigt, daß da ein Verlust empfunden wird, vielleicht noch sehr unklar, im Unbewußten ruhend. Ganz allmählich erst steigen rationale Artikulationen dieses Phantomschmerzes in das Bewußtsein auf, und es sind demzufolge noch viel zu einfach anmutende Erklärungen (Wolf 1994). Christa Wolf möchte ihn mit dem veränderten Verhältnis zum Eigentum erklären. Ist es nicht eher der neuerliche Warenwert menschlicher Beziehungen, der die Ostdeutschen mit Trauer erfüllt und ihnen das Gefühl eines großen Verlustes

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vermittelt? Und sicherlich sind dies zwei Seiten einer Medaille. Denn wie human sind Beziehungen zwischen Menschen, wenn sie von Autismus, Konkurrenz, Abschottung, Verschleiß und Verlust von Emotionalität und Bindungsfähigkeit bestimmt werden?

Wenn Freundlichkeit und Wärme als auf Inkompetenz beruhende Gutmütigkeit deklariert werden, so läßt dies auf ein entfremdetes Menschenbild schließen.

Die oft kritisierte Doppelbelastung der Frau mag de facto gegeben gewesen sein, aber sie wurde mehrheitlich eher als Doppelanspruch empfunden. Und dieser Anspruch prägte ganz wesentlich die Geschlechter- und Familienbeziehungen in einer Weise, daß Rollenklischees abgebaut wurden und Partnerbeziehungen von beiderseitiger Souveränität getragen wurden.

DDR-Identität sollte auch dadurch vermittelt werden, daß seit den siebziger Jahren das Wort „deutsch" im offiziellen Sprachgebrauch gemieden wurde und durch DDR ersetzt wurde. In gewissem Sinne war damit eine pejorative Bedeutungsnuancierung des „Deutschen" verbunden. Es sollte vielmehr die Assoziation erweckt werden, zu einer zweiten deutschen, nunmehr sozialistischen Nation zu gehören, die alles Fortschrittliche in sich aufhob bzw. verkörperte. Im Grunde lief dies auf einen DDR-Nationalismus hinaus. Doch es ist nicht anzunehmen, daß diese Intention von einer Mehrheit verinnerlicht wurde. Eine andere Wirkung hatten die deklarierten und zum Teil auch empfundenen bzw. erlebten Grundwerte des Sozialismus. So ist eine kurze Zeit des „postsozialistischen Optimismus" unmittelbar nach den Novemberereignissen 1989 Indikator für eine solche Reformstimmung, die in das Bemühen um eine Konföderation mündete, aber letztlich nicht realistisch war.

In dem Maße, wie die Wirklichkeit DDR zu Ende ging, begann dann allerdings auch die Erschütterung der Identität vieler Menschen in Ostdeutschland.

Wie bereits gesagt, ist Identität an die individuelle Lebensgeschichte geknüpft. Diese Lebensgeschichte erwies sich nun weitgehend als Irrtum. Denn als Volk von Widerstandskämpfern hat sich die Mehrheit der DDR-Bevölkerung wohl nicht aufgeführt.

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Eine solche Erkenntnis ist eigentlich nicht auszuhalten. Es ist, als verlöre der Mensch seinen Schatten, seine Identität.

Um so erstaunlicher erscheint, daß die Deutschen, die in diesem Jahrhundert bis zu fünf Umbrüche erlebt haben, die jeweiligen Anpassungsvorgänge relativ schnell vollzogen haben. Dies hat in der Literatur zu sehr kontroversen Diskussionen geführt, die noch heute anhalten.

Der psychologische Vorgang zur Erklärung dieses Phänomens nach Luc Ciompi hellt dieses Grundmuster menschlichen Verhaltens auf:

Die menschliche Psyche bemüht sich um ein möglichst spannungsarmes Verhältnis zwischen Innen- und Außenwelt. In Zeiten der Kontinuität bzw. des sanften Wandels besteht zwischen Innen- und Außenwelt eine harmonische Beziehung (wenn man einmal von Streßfaktoren absieht), und diese Harmonie, diese Selbstverständlichkeit hat eine Stützfunktion. Sie vermittelt Sicherheit und Kontinuität im Erleben der Wirklichkeit, auf die das Individuum zur adäquaten Lebensbewältigung dringend angewiesen ist. Beim Verlust dieser Selbstverständlichkeit, wie das Umbrüche mit sich bringen, wird dem Individuum bewußt, daß seine gewohnte Welt mit ihren Eigenwahrheiten keineswegs selbstverständlich ist. Es bemerkt, daß daneben offensichtlich noch andere Welten mit anderen Wahrheiten existieren, mit anderen Kategorien, die der Ordnung dieser Wirklichkeit dienen und mit anderen Wertmaßstäben. Die Psyche hat nun zwei Möglichkeiten, ein neuerliches Gleichgewicht zwischen veränderter Innen- und Außenwelt herzustellen: über den Einbau von Elementen der neuen Außenwelt in die bereits bestehende innere Struktur und über die Anpassung der inneren Struktur an die neu aufgenommenen Elemente. Da beim Umbruch 1989 Ordnungskriterien zweier diametral entgegengesetzter Gesellschaftssysteme aufeinanderprallten, mußten die Interaktionen zwischen Innen- und Außenwelt - je nach individueller Integration in das System - zumindest sehr turbulent, wenn nicht außerordentlich schmerzhaft sein. Sie mußten über einen gewissen Zeitraum ambivalent sein (Ciompi 1988, S. 196).

Mit ambivalenten Gedanken und Gefühlen ist jedoch kaum zielgerichtetes Handeln möglich. Infolgedessen ist der Mensch um eine schnelle Neuorientierung bemüht.

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In diesem Prozeß spielt die menschliche Erinnerungsleistung eine besondere Rolle. Es findet eine Umschreibung der Vergangenheit statt, und zwar so, daß die persönliche Gegenwart erträglich wird, daß das Selbstbewußtsein erhalten bleibt. Man kann den Sachverhalt auch umkehren: Je größer der Entwicklungsspielraum eines Menschen in der neuen sozialen Situation ist, desto „freier" kann er sich mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen, desto ehrlicher kann er sich erinnern. Aber nicht nur dies: Der Paradigmenwechsel kann zu sehr produktiven Fragestellungen an die Geschichte führen, etwa in dem Sinne, wie das Loewenstein weiter oben zum Ausdruck bringt.

Die generationsspezifische Dimension von Identität nimmt bislang nur unscharfe Konturen an, doch ist sie sehr wichtig. Identität hat immer eine historische Genese. Und so ist es nicht verwunderlich, daß gemeinsame Erlebnisse, die im Zeitgeschehen verwurzelt sind, die Spezifik der historischen Ära, gemeinsame Erinnerungen eine bestimmte Wir-Identität erzeugen, die von vielen Menschen einer Generation angenommen werden können. Auch ist es nicht unerheblich, auf welchem Punkt der Lebensachse eine Zäsur eintritt. Die Endlichkeit seines Lebens vor Augen, wird der Mensch nicht so sehr über vergangene Chancen nachdenken wollen, weil die Möglichkeiten, diese noch zu erleben, relativ gering sind. Und so ist es verständlich, daß er seinen Lebenssinn, die Erinnerung an sein Leben, nicht mehr ändert. Er stünde sonst vor dem Trümmerhaufen seines Lebens. Es hätte keinen Sinn. Und so muß man wohl auch akzeptieren, wenn nicht wenige zu wissen glauben, wie es nicht sein soll, aber gegenwärtig nicht in der Lage sind, etwas Positives dagegenzusetzen.

Der letzte Roman von Hermann Kant „Kormoran" vermittelt solch ein Empfinden: Die ehemalige DDR-Elite der älteren Generation hat sich nichts mehr zu sagen und demzufolge auch kein Motiv für das Erinnern. Außer Sarkasmus als Welt- und Selbstverleugnung, Sinnentleerung des Lebens, bleibt nach dem Verlust von Prestige, Autorität und sozialem Status wenig übrig. Die Auseinandersetzung in langjährigen Kollektiven, in denen sozialer Status und Entwicklungsspielraum des einzelnen mit der Wende auseinandergesprengt wurden, konnten und können nicht im Sinne eines „Durcharbeitens" geführt werden. Denn den einen blieb keine Zeit, die notwendige ehrliche und langwierige Erinnerungsarbeit zu leisten, die eben Abstand braucht. Sie müssen demzufolge die größeren Chancen an-

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derer als permanente Akte von Illoyalität empfinden. Und da sowohl der Schmerzverursachende als auch der Schmerzempfindende sich gegen den Schmerz wehren, meidet man die Begegnung. Die sozial Privilegierteren wiederum können nicht ihrer sozialen Entwicklungssituation zuwiderhandeln, es sei denn, sie haben das Charisma eines indischen Gurus.

Je weiter sich der Umbruch auf die erste Lebenshälfte verlagert, desto mehr ändert sich natürlich die Perspektive. Unsere heutige Jugend ist im sogenannten Sozialismus aufgewachsen. Es waren nicht wenige Stimmen, die nach der Wende eine ähnliche Bewegung wie die der 68er im Westen erwarteten. Wir wissen heute, daß dies nicht sein konnte. Der langwierige Prozeß des Erinnerns, von der Erschütterung über die Destruktion, die Blockierung, die Trauer bis zum allmählichen Aufbau konstruktiver neuer Elemente dauert eine Generation, so wie auch die 68er-Bewegung eine Reaktion auf das Verhalten der Väter und Mütter war. Die jungen Leute sollten, wenn sie ihre Eltern und Lehrer befragen, wozu sie ein Recht haben, auf das Schweigen hören. In diesen Tabu-Zonen liegen die Verdrängungen und die Projektionen. Im behutsamen Dialog bestünden Chancen des Bewußtwerdens, des Erinnerns, der Identitätsrevision.

Abschließend einige zusammenfassende Gedanken:

Nostalgie wird allgemein als eine unproduktive Haltung charakterisiert, doch sollte man sich bewußt sein, daß jegliche Erinnerung Vergangenes umschreibt und schönfärbt. Zugleich ist das Bedürfnis ostdeutscher Menschen nach einer Zukunftsvision sehr ausgeprägt. Dahinter verbirgt sich noch eine Geschichtsauffassung, die an Vernunft in der Geschichte glaubt. Auch wirken sozialistische Ideale fort.

Die pauschale Diskreditierung der DDR-Wirklichkeit ist sehr problematisch und sie provoziert Widerstand. Die Anzahl derer, die von einem schwelenden Unmut beherrscht werden, ist schwer auszumachen. Die Motive sind sicherlich vielschichtig: gekränkter/enttäuschter Idealismus, kein akzeptables Identifikationsangebot, Frustrationen gegenüber dem neuen Werteangebot wie Konsumdenken, Ellenbogenverhalten, Materialismus... Es entsteht Widerstand, die erlebte Geschichte von der „objektiven" Geschichte tilgen zu lassen. Das hängt sicherlich mit dem erlebten Verlust von Identität zusammen. Ein dialogisches Verfahren der Aufarbeitung wäre zu empfehlen, also Innen- und Außensicht.

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Das Gefühl von Missionierung schafft permanente Minderwertigkeitskomplexe; das Empfinden der Zweitrangigkeit, Zweitklassigkeit erzeugt Aggressionen. Paritätische Verantwortlichkeiten sowie Dialogbereitschaft und -fähigkeit dagegen könnten Innovationspotentiale produktiv machen. Die entscheidende Grundlage für Chancen einer gemeinsamen, wie immer gestuften und komplexen Identität jedoch dürfte in der Angleichung des Lebensniveaus und der Schaffung gleichwertiger Entwicklungsspielräume liegen.

Literatur

Ciompi, L.: Außenwelt. Innenwelt. Die Entstehung von Raum, Zeit und psychischen Strukturen, Göttingen 1988. S. 196.

Elias, N.: Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1990, S. 194-197.

Huhn, J.: Historische Identität als Dimension des Geschichtsbewußtseins, in: U. Uffelmann (Hrsg.): Identitätsbildung und Geschichtsbewußtsein nach der Vereinigung Deutschlands, Weinheim 1993, S. 9-34.

Klose, D.: Prägungen und Wandlungen ostdeutscher Identitäten, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament B 41/94 v. 14.10.1994, S. 3-11.

Koselleck, R.: Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine historische anthropologische Skizze, in: Theorie der Geschichte, Bd. 5. Historische Methode, hrsg. von Chr. Meier und J. Rüsen, München 1988, S. 60.

Loewenstein, B.: Identitäten - Vergangenheit - Verdrängungen, in: D. Klose, U. Uffelmann (Hrsg.): Vergangenheit - Geschichte - Psyche, Idstein 1993, S. 19.

Schieder, Th.: Nationalismus und Nationalstaat. Studien zum nationalen Problem im modernen Europa, hrsg. von O. Dann und H.-U. Wehler, Göttingen 1992, S. 105.

Szalai, W.: Wie „funktionierte" die Identitätsbildung in der DDR?, in: U. Uffelmann (Hrsg.): Identitätsbildung und Geschichtsbewußtsein nach der Vereinigung Deutschlands. Weinheim 1993, S. 58-108.

Wolf, Ch.: Auf dem Weg nach Tabou, Köln 1994, S. 33ff.

Zimmer, D.E.: Den Völkern Gespött oder Furcht, in: Die Zeit v. 6.4.1990, S. 68.


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