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Lutz Hoffmann
Das „deutsche Volk" als Integrationsideologie und seine historische Entwicklung


Die Entstehung der modernen Gesellschaft (zu dieser vgl. Wehler 1975) ist eng verknüpft mit dem Begriff des Volkes oder der Nation (vgl. Ziegler 1931; Anderson 1988).

  • Bevölkerungen treten in die Moderne ein, indem sie lernen, sich als Volk zu begreifen.
  • Der moderne Staat bildet sich aus, indem er als Organisation des Volkes gedeutet wird.
  • Die Industriegesellschaft entwickelt sich, indem sich der Wirtschaftsraum des Nationalstaats öffnet.
  • Die demokratische Legitimation politischer Herrschaft setzt sich durch, indem da ein Volk ist, das sich als Quelle aller Staatsgewalt versteht.
  • Die Gleichberechtigung der Individuen wird zum politischen Programm, indem alle als Mitglieder des Volkes anerkannt werden.

Man kann daher außerhalb der Moderne nicht im gleichen Sinn von Volk oder Nation sprechen, wie dies in unserer heutigen Sprache geläufig ist.

Moderne Gesellschaft und moderner Staat dulden keine intermediären Strukturen, die sich zwischen sie und das Individuum schieben könnten und letzterem nur noch ein mittelbares Verhältnis zu ihnen erlauben würden. Bei aller Anerkennung und Pflege mannigfaltiger Formen zwischenmenschlicher Verbindungen und Gruppenbildungen ist für moderne Gesellschaften und Staaten doch grundlegend, daß das Individuum sich zu ihnen unmittelbar in Beziehung setzt. Verankert ist diese Beziehung in der persönlichen Identität der Individuen, in der sie sich als Angehörige dieses Staates und dieser Gesellschaft erkennen und anerkannt werden. Diese individuelle Zugehörigkeit setzt ihrerseits voraus, daß es eine Vorstellung der kollektiven Zusammengehörigkeit gibt. Es war die Idee des Volkes

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oder der Nation, [Fn 1: Zur Unterscheidung der Begriffe 'Volk' und 'Nation' vgl. den Abschnitt „Der deutsche Dualismus von Volk und Nation".] die dieser Vorstellung beim Übergang zur Moderne ihren Namen gab und zum Durchbruch verhalf.

Die in der Identität der Individuen verankerte Vorstellung der Zusammengehörigkeit gewährleistet die Integration moderner Großgesellschaften. Sie bildet den Rahmen aller fraglos geltenden Selbstverständlichkeiten, auf die sich die Angehörigen einer gesellschaftlichen Lebenswelt beziehen, wenn sie miteinander handeln und strittige Fragen aushandeln (vgl. Hoffmann 1995b). Sie verpflichtet die Individuen auf die Anerkennung bestimmter kollektiv geteilter Normen und Werte, die das Zusammenleben moderner Zivilgesellschaften regeln. Ihr Ethos wäre ohne jede Verbindlichkeit und würde nur als äußerer Zwang empfunden, wenn es nicht seinen sicheren Ort in der Selbstauslegung der Individuen als Angehörige eines Kollektivs hätte (vgl. Taylor 1993). Der moderne Individualismus ist daher nicht - wie es neuerdings gelegentlich unterstellt wird - eine Gefahr für die Integration moderner Zivilgesellschaften, sondern bleibt deren unhintergehbare Voraussetzung.

In den letzten Jahrzehnten hatten wir uns angewöhnt, diese Integration als etwas anzusehen, das modernen Gesellschaften gleichsam von Natur aus eigentümlich ist und folglich nahezu von selbst funktioniert. Doch seit einiger Zeit mehren sich weltweit die Warnsignale, die uns die Frage aufnötigen, ob sie nicht ein eher unwahrscheinlicher, höchst labiler und ständig gefährdeter Zustand ist:

  • Parteien-, Regierungs- und Gesetzesverdrossenheit,
  • Gewaltausbrüche,
  • Sezessionsbestrebungen,
  • Bürgerkriege.

Auch die 'Vereinigungskrise' der um die Länder der früheren DDR erweiterten BRD konfrontiert uns mit der Einsicht, daß die Selbstverständlichkeit, mit der wir bisher von der Integration der BRD ausgehen konnten, nicht beliebig erweiterbar und übertragbar ist. Vor diesen Hintergrund ist es erklärlich, daß zunehmend darüber diskutiert wird, welche Bedingun-

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gen eigentlich vorliegen müssen, um den Zusammenhalt moderner Großgesellschaften auf sichere Grundlagen zu stellen. Es liegt nahe, daß dabei auch die Idee des Volkes oder der Nation wieder ins Spiel gebracht wird. Damit stellt sich die Frage, ob diese Idee nur in der Entstehungsphase moderner Gesellschaften mit diesen verknüpft war oder ob sie grundsätzlich für sie unverzichtbar ist.

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Sowohl Integration als auch Emanzipation

Zum Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte die Idee des Volkes in Westeuropa und in Nordamerika die doppelte Funktion, einerseits die Emanzipation der Individuen und andererseits die Ausbildung staatlich organisierter Großgesellschaften zu fördern. 'Freiheit' und 'Einheit' waren auch in Deutschland Zwillingsschwestern, bis man im Bismarckreich glaubte, die Freiheit wegen der Einheit verächtlich behandeln zu müssen. Wer heute auf diese Idee zurückgreifen will, muß zunächst zur Kenntnis nehmen, daß der aktuelle Gebrauch des Volksbegriffs diese beiden Funktionen nicht mehr ohne weiteres zur Deckung, sondern sie eher in einen Widerspruch zueinander bringt.

Wo die Idee des Volkes in der Gegenwart in herrschaftskritischer Absicht gebraucht wird, scheint sie fast unvermeidlich zu einem Parteigänger der Kräfte zu werden, die den Zusammenhalt der Großgesellschaften herausfordern, in frage stellen und aufkündigen wollen. Das ehemalige Jugoslawien ist nur das für Europäer naheliegendste und dramatischste Exempel dieses globalen Phänomens. Selbst in dem Paradebeispiel der modernen Nation, nämlich in den USA, ist die Idee des Volkes inzwischen eher zu einem Sprengsatz geworden, der den gesellschaftlichen Zusammenhang aufzulösen droht, als daß sie noch eine Klammer wäre, die ihn festigen könnte (vgl. Schlesinger 1991).

Wo andererseits die Idee des Volkes oder der Nation bemüht wird, um das Auseinanderfallen von Großgesellschaften abzuwehren, da wird sie nahezu ebenso unvermeidlich zu einem Parteigänger derjenigen Gruppen, die den Fortbestand bisheriger Machtstrukturen und Herrschaftsverhältnisse verteidigen wollen. Nicht einmal ein Hauch von Emanzipation klingt noch an, wenn in diesem Sinne von der Nation die Rede ist. Jeder dynamische

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Veränderungswille ist aus ihrer Bedeutung gewichen. Vielmehr dient sie der Unterdrückung derer, die sich nicht mit eingelebten Herrschaftsverhältnissen abfinden wollen und gesellschaftliche Reformen anmahnen. In seiner Anwendung auf bestehende Großgesellschaften ist das Volk zu einer Parole der Reaktion geworden.

Angesichts dieses Dilemmas scheint sich denjenigen, die weder der Auflösung der Gesellschaft noch der Konservierung eingeschliffener Repression das Wort reden wollen, der Gebrauch des Begriffs Volk zu verbieten. Wenn sie denn einen anderen Namen für das hätten, was sie dieser heillosen Alternative entgegenstellen wollen! Auf einen solchen konnte man leichten Herzens verzichten, solange sich die Integration von Großgesellschaften nahezu von selbst verstand und durch Emanzipationsfortschritte eher gefestigt wurde als gefährdet war. Nachdem aber diese Selbstverständlichkeiten zunehmend von einer unheimlichen Auflösung angekränkelt sind, wird es schon eines Namens bedürfen, wenn sie erneut zum Programm gemacht und zur Geltung gebracht werden sollen.

Synthetische Wortschöpfungen wie 'sozialer Rechtsstaat', 'Verfassungspatriotismus', 'multikulturelle Gesellschaft', 'weltoffene Republik' etc. mögen zwar zutreffend zentrale Merkmale moderner Gesellschaften beschreiben. Sie sind aber zu blutleer, als daß sie identitätsstiftend sein könnten. Sie werden den Volksbegriff schon deswegen nicht ersetzen, weil sie zu erkennbar einen Bogen um ihn schlagen. Das scheint angesichts seiner Perversion vor allem auch in der deutschen Geschichte zwar naheliegend. Wenn Großgesellschaften aber einen Namen brauchen, um ihre Integration gegen alle Fährnisse zum Thema machen zu können, dann gerade wird man es bei dieser Perversion nicht belassen können. Denn es ist nicht seine Perversion, sondern es ist seine ursprüngliche Verbindung von Emanzipation und Integration, der das moderne Bewußtsein seine Entstehung verdankt.

Daher könnte es an der Zeit sein, die schwindenden gesellschaftlichen Selbstverständlichkeiten wieder in den Begriff des Volkes zurückzuholen und diesen denen streitig zu machen, die Emanzipation und Integration gegeneinander ausspielen wollen. Das setzt allerdings gerade in Deutschland die Aufarbeitung einer Fehldeutung voraus, die mit der Romantik eingesetzt hat, bis 1945 eskaliert ist und seither eher tabuisiert als aufgeklärt und revidiert wurde.

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Die Abhängigkeit universalistischen Denkens vom Antagonismus des Kalten Krieges

In Deutschland war die Idee des Volkes nach 1945 zunehmend aus dem Bewußtsein und der politischen Sprache geschwunden. Die Integration der Gesellschaften in den beiden deutschen Staaten der Nachkriegszeit schien ihrer nicht mehr zu bedürfen. Man konnte sogar den Eindruck gewinnen, daß ihre Integration auf der Abwendung von der bisherigen Idee des deutschen Volkes basierte. Sowohl die Bonner Republik als auch die DDR integrierten sich nach innen, indem sie sich nach außen universalistisch relativierten. Wir hielten dies für einen Fortschritt und legten uns keine Rechenschaft darüber ab, daß es der Antagonismus des Kalten Krieges war, der ihn möglich gemacht hatte.

Sowohl der liberale Universalismus der Bonner Republik als auch der sozialistische Universalismus der DDR bezogen ihre Überzeugungskraft weniger aus der eigenen Dynamik als aus der Konfrontation mit dem ideologischen Gegenspieler. Ohne ihren vehementen Antikommunismus hätte die Bonner Republik nicht ihre historische Öffnung gegenüber den liberalen Ideen des Westens vollziehen können. Ebensowenig hätte sich der Kommunismus vierzig Jahre lang in Ostdeutschland halten können, wenn er nicht durch die Fixierung auf die kapitalistische Gegenmacht stabilisiert worden wäre. Beide Universalismen waren nur deswegen möglich, weil sie sich in ihrer Polarisierung wechselseitig die Legitimität absprachen.

Dieser Antagonismus zwischen den universalistischen Ideologien zweier Machtblöcke war derart vorherrschend, daß die Idee des Volkes in den Hintergrund trat und für obsolet gehalten wurde. Man glaubte, die Epoche der Nationalstaaten überwunden zu haben. Daher schien es überflüssig, die überlieferte Idee des Volkes noch irgendwie mit dem neuen Universalismus zu versöhnen. Sie gehörte so sehr einer abgelegten und abgelehnten Vergangenheit an, daß es in dem neuen Denken für sie keinen Platz mehr geben konnte. Lediglich die DDR machte den vom Westen eher amüsiert und mit Unverständnis beobachteten Versuch, eine eigene Nation aus der Taufe zu heben (vgl. Naumann 1991).

Die Bonner Republik hatte allerdings noch einen anderen Grund, die überlieferte Idee des deutschen Volkes nicht in ihre sonst konsequent betriebe-

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ne Verwestlichung einzubeziehen. Verschaffte sie ihr doch ein zusätzliches Argument, um die Legitimität eines kommunistischen Staates auf dem Territorium des früheren Deutschen Reiches zu bestreiten. Weil die Konservierung dieser Idee damit in den Dienst der antikommunistischen Ideologie trat, wurde man sich kaum je noch bewußt, daß sie sich nicht mit dem liberalen Universalismus des westeuropäischen Denkens vereinbaren ließ.

Aus zwei höchst widersprüchlichen Gründen wurde daher im Kalten Krieg das vor 1945 herrschende Verständnis des deutschen Volkes unangetastet gelassen. Bei der innenpolitischen Ausgestaltung der Bonner Republik hielt man es für obsolet und glaubte deswegen, sich mit ihm nicht mehr auseinandersetzen zu müssen. Im außenpolitischen Verhältnis zur DDR und zum übrigen Ostblock dagegen wurde es zu einem Instrument der ideologischen Kriegführung, weil man ohne es die „deutsche Frage" nicht „offen" halten konnte.

Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus sind die Bedingungen entfallen, die diesen Widerspruch zusammengehalten hatten. Bei der deutschen Einigung wurde die bisher nur außenpolitisch gewendete Idee einer völkischen Zusammengehörigkeit aller Deutschen zur Grundlage der Innenpolitik erhoben. Sie rechtfertigte nicht nur den „Beitritt" der DDR zur BRD, sondern dient seither dazu, die noch brüchige Integration des neuen Staates zuwege zu bringen. Angesichts dieser völlig neuen Konstellation geraten nunmehr gerade diejenigen in Bedrängnis, die den bisherigen Universalismus der Bonner Republik fortschreiben wollen. Sie müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, sich an eine historisch obsolete, weil an die Ausnahmesituation des Kalten Krieges gebundene, Vorstellungswelt zu klammem und auf die drängenden Probleme der Integration der Berliner Republik keine Antworten bereit zu halten.

Aus dieser Defensive gibt es keinen Ausweg, solange es nicht gelingt, die Konservierung des deutschen Volksbegriffs zu überwinden, wie sie für den Kalten Krieg funktional war. Gerade wenn man die Ideen und Werte der Bonner Republik nicht für überholt halten will, sondern in ihnen auch die unverzichtbare Grundlage für die innere Gestaltung der Berliner Republik sieht, wird es zukünftig nicht mehr reichen, zu dem überlieferten deutschen Volksbegriff auf Distanz zu gehen. Es wird vielmehr darauf ankommen, das bisher aus der Verwestlichung Deutschlands ausgeklam-

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merten Verständnis des Volkes in Deutschland konsequent in diese einzubeziehen und daher zu reformulieren.

In linken und liberalen Kreisen Deutschlands gibt es eine nahezu physische Aversion, zumindest im Hinblick auf das eigene Land den Begriff des Volkes zu verwenden oder auch nur gelten zu lassen. Vordergründig mag dies Ausdruck eines weltbürgerlichen Denkens sein. Letztlich aber ist es eine Kapitulation vor der überlieferten deutschen Tradition dieses Begriffs. Man glaubt, zu den deutschen Greueltaten unter nationalsozialistischer Führung nur auf kompromißlose Distanz gehen zu können, wenn man einerseits an einem Fortbestand des dafür verantwortlichen deutschen Volkes und andererseits und gleichzeitig an einer Ablehnung des dabei handlungsleitenden Volksbegriffs festhält. Daß dies ein innerer Widerspruch ist, wurde auch im Historikerstreit kaum je zur Sprache gebracht (vgl. Hoffmann 1995a).

Gerade wegen dieser Zusammenhänge wird man in Deutschland nicht ohne Umstände zu einem neuen, historisch nicht begründeten Verständnis von Volk übergehen können. Nur zu berechtigt ist die Sorge, daß dabei trotz besten Willens doch wieder die alten Bedeutungen einrasten. Bevor es möglich ist, in Deutschland in einem anderen Sinne vom Volk zu sprechen, als dies bisher im Hinblick auf die eigene Vergangenheit üblich war, ist jene kritische Auseinandersetzung mit dem überlieferten deutschen Volksverständnis nachzuholen, die nach 1945 eigentlich fällig gewesen wäre, wenn der Kalte Krieg sie nicht erspart und verhindert hätte.

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Der Antimodernismus des deutschen Volksgedankens

Der eingangs behauptete Zusammenhang zwischen dem Begriff des Volkes und dem Prozeß gesellschaftlicher Modernisierung scheint für das Volksverständnis der Deutschen nicht zuzutreffen. Vergegenwärtigt man sich nämlich die inhaltliche Bedeutung dessen, was den Deutschen ihr Volk ist, so findet man dort keine Merkmale, die typisch für eine moderne Gesellschaft wären. Es gibt offensichtlich nichts, was dieses Volksverständnis in einen zwingenden Zusammenhang mit der Moderne rücken könnte. Modernisierung ist weder ein Vorgang, den das deutsche Volk

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gewollt und vorangetrieben hätte, noch begreift dieses sich irgendwie als das Resultat von Modernisierungsvorgängen.

Läßt man allerdings die inhaltlichen Vorstellungen beiseite, die das deutsche Volksverständnis kennzeichnen, und fragt, wann dieses jeweils besondere Konjunktur in Publizistik und Politik hatte, so fällt bald auf, daß dies stets Phasen waren, in denen die Gesellschaft in Deutschland von Modernisierungsbrüchen erfaßt und geschüttelt wurde. Die napoleonische Ära (vgl. Wehler 1987; Giesen 1993), die Gründerjahre des Bismarckreiches (vgl. Wehler 1988), der Erste Weltkrieg (vgl. Ecksteins 1990) und selbst die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft (vgl. Dahrendorf 1965, S. 431ff.; Prinz/Zitelmann 1991) waren sowohl von hektischen Modernisierungsprozessen als auch von der rhetorischen Betonung des deutschen Volkes geprägt. Und vielleicht wird man auch für die gegenwärtigen Jahre erst rückschauend sagen können, daß in ihnen um so mehr vom deutschen Volk die Rede war, als sie von einem Modernisierungsbruch gekennzeichnet waren. Auch wenn das deutsche Volk mit der Modernisierung inhaltlich nichts im Sinne zu haben scheint, so hat seine Vorstellung offensichtlich doch eine entscheidende Funktion im Modernisierungsprozeß.

Diese Funktion hat das deutsche Volksverständnis nicht trotz, sondern wegen seiner inhaltlichen Beziehungslosigkeit zur Moderne. Es kompensiert die Folgen der Modernisierung, indem es eine Wirklichkeit vorgaukelt, die von ihr unberührt sein soll. Diese Vorstellung bietet desto mehr Trost, Zuflucht und Geborgenheit, je größer die von Modernisierungsprozessen ausgelösten Irritationen und Ängste sind.

Die Vorstellung vom deutschen Volk fingiert auf ideologischer Ebene eben jene gesellschaftlichen Bedingungen und Verhältnisse, die von Modernisierungen aufgelöst werden. Gegen den modernen Individualismus setzt es die Idee, daß das Ganze des Volkes eine organische Einheit und eine Persönlichkeit sei. Gegen den Antagonismus einer von Konflikten erschütterten Gesellschaft betont es die Fiktion einer naturwüchsigen Volksgemeinschaft. Gegen den aufklärerischen Gedanken der Menschen- und Bürgerrechte besteht es darauf, daß Gleichheit die Gemeinsamkeit der Abstammung, des Schicksals, der Rasse oder Kultur voraussetze. Gegen die Mühsal einer demokratischen Aushandlung des Mehrheitswillens beharrt es darauf, daß dem Wesen des Volkes ein substantiell vorgegebener

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Wille zu eigen sei. Gegen die Mobilität und Wurzellosigkeit der Industriegesellschaft nährt es die Gefühle von Heimat und erwärmt sich für die Ideale des bäuerlichen Lebens. Es ist, wie Hans Freyer es 1933 in affirmativer Absicht beschrieben hat, der „Gegenspieler gegen das System der industriellen Gesellschaft" (S. 52).

Zu keiner Zeit hatte diese Vorstellung die Aufgabe, die Modernisierung aufzuhalten. Zwar lenkte sie die Blicke nach rückwärts. Aber sie tat es, um den Fortschritt zu ermöglichen. Der Preis dieser ideologischen Ungleichzeitigkeit war das Fehlen eines Ethos, das der Moderne entsprochen hätte. Je mehr sich die Modernisierung Bahn verschaffte, desto antimodernistischer wurde der deutsche Volksgedanke und desto weniger konnte er noch Ideen und Werte bereitstellen, die Richtmaß und Korrektiv in den Umbrüchen der Gesellschaft hätten sein können. Er wurde immer unfähiger, den Ideen der Humanität, der Menschenrechte, der Freiheit und der Demokratie noch Raum zu geben. Und als diese nach 1945 in Deutschland endlich zur Geltung gebracht wurden, da war es nicht die Vorstellung des deutschen Volkes, sondern eben die Abwendung von ihr, auf die dieses neue Ethos gegründet wurde.

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Der deutsche Dualismus von Volk und Nation

Die Ambivalenz des deutschen Volksverständnisses gegenüber der Moderne findet ihren theoretischen Ausdruck in der typisch deutschen Unterscheidung zwischen Volk und Nation. [Fn 2: Diese im vorigen Jahrhundert in die deutsche Staatslehre eingeführte Unterscheidung wird bis heute in der einschlägigen Fachliteratur fortgeschrieben. Vgl. z.B. Heckmann, 1992, S. 57.]
Dabei steht jeweils einer der beiden Begriffe für die Resultate des Modernisierungsprozesses. Bei Bluntschli ist es das Volk, dessen „Entstehung ... einen politischen Prozeß, eine Staatenbildung" voraussetzt (Bluntschli 1886, S. 92). Für Carl Schmitt ist es dagegen umgekehrt die Nation, die erst „durch politisches Sonderbewußtsein" gebildet wird (Schmitt 1928, S. 231). Der jeweils andere Begriff - bei Bluntschli also die Nation, bei Carl Schmitt dagegen das Volk - beschreibt demgegenüber eine vorpolitische, naturgegebene Einheit. Für Bluntschli ist sie „die erblich gewordene Geistes-, Gemüts-

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und Rassegemeinschaft" (Bluntschli 1886, S. 92). Bei Carl Schmitt besteht sie schlicht „in der substanziellen Gleichartigkeit des Volkes" (Schmitt 1928, S. 236). In jedem Fall hat diese zweite Einheit ihren Ort jenseits aller Modernisierungsvorgänge. Aus ihrem Verständnis sind alle Phänomene getilgt, die auch nur entfernt etwas mit der Moderne zu tun haben könnten.

Der Zweck dieser Verdoppelung des Volkes ist die Verankerung des für unsicher gehaltenen modernen Bewußtseins in der Fiktion einer objektiven Realität, die von keinen Modernisierungsvorgängen berührt ist und erreicht werden kann. Diese objektive Realität soll dem subjektiven Bewußtsein einerseits die Inhalte und andererseits den rechtfertigenden Halt bieten. Ein eher um Anschaulichkeit bemühtes Denken verortet dieses vormoderne Volk tief im Nebel der Vorgeschichte, ohne sich weiter darüber Rechenschaft abzulegen, daß dadurch die Frage seiner Entstehung nur verlagert, aber nicht beantwortet wird. Die philosophische Spekulation durchschaut diese Schwäche und verankert daher die Fiktion eines natürlichen Volkes in den Tiefenschichten der Metaphysik. Dazu hat Johann Gottlieb Fichte 1808 in seinen „Reden an die deutsche Nation" die bis heute maßgebende Vorlage geschrieben (vgl. Hoffmann 1994, S. 131ff.).

Bei dieser Verdoppelung der Begriffe erhält das objektive, vormoderne Volk die Stellung einer unabhängigen, das moderne, sich seiner selbst subjektiv bewußte Volk dagegen die einer abhängigen Variablen. Seine schärfste Formulierung hat dieser Zusammenhang im Programm der NSDAP vom 24. Februar 1920 erhalten: „Staatsgenosse kann nur sein, wer Volksgenosse ist, Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist." (zit. in Hoffmann 1986, S. 76). Das hält deutsche Staatslehrer nicht davon ab, eine solche Abhängigkeit bis heute zu vertreten, wenn z.B. unterstellt wird, aus der Zugehörigkeit zur „deutschen Kulturnation" ergäbe sich eine „materielle Staatsangehörigkeit", die Bedingung für die Verleihung der förmlichen Staatsangehörigkeit sei (Bleckmann 1990, S. 1400; Blumenwitz 1993, S. 153). Und in der Tat können sie sich dabei auf das herrschende Denken in Deutschland berufen, das keinen klaren Begriff von der Eigenständigkeit des modernen Volkes hat, sondern dessen Verständnis mit den Inhalten des vormodernen, letztlich nur mythischen Volksbegriffs füllt (vgl. Hoffmann 1994c).

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Ein ideologiekritisches Denken muß demgegenüber auf einer umgekehrten Abhängigkeit bestehen. Ohne ein Volk, das sich im Sinne der Moderne durch das Bewußtsein seiner Angehörigen konstituiert, versinkt die Fiktion eines objektiven Fundaments ins Bodenlose. Sie wäre für sich allein betrachtet willkürlich, beliebig und nichtssagend. Erst als ideologischer Unterbau eines subjektiven Bewußtseins erhält sie ihre Konturen und ihre Bedeutung. Deswegen setzt nicht das subjektive Bewußtsein eines modernen Volkes eine objektive Substanz voraus. Vielmehr verlangt alles Reden von einem vormodernen, an scheinbar objektiven Merkmalen festgemachten Volk, daß es zunächst einmal das aktuelle Bewußtsein von Individuen gibt, die sich gemeinsam als dieses Volk definieren, bevor diesem Bewußtsein die Fiktion untergeschoben werden kann, daß ihm seine Einheit bereits in einer Welt objektiver Wirklichkeiten vorgegeben ist (vgl. Ziegler 1931).

Letztlich entstammen diese beiden Versionen des Volkes zwei höchst unterschiedlichen Denktraditionen. Das subjektive Volk ist eine Errungenschaft der Aufklärung und der dieser verpflichteten Ereignisse der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der Französischen Revolution. Das objektive Volk ist demgegenüber eine Erfindung der Romantik, die mit dieser Idee zugleich der Aufklärung, den Ideen der Französischen Revolution und der napoleonischen Vorherrschaft in Europa glaubte das Wasser abgraben zu können.

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Die Geburt des deutschen Volkes in den 'Befreiungskriegen 3
[Fn 3: Fundstellen aller Zitate und weitere Belege in Hoffmann 1994a, S. 75ff.]


Während die heutige Vorstellung vom deutschen Volk ungeniert weit über die historische Schwelle zurückgreift, die die moderne von der vormodernen Gesellschaft trennt, sahen die Zeitgenossen dieser Epochenschwelle klarer. Sie wußten, daß es in ihrer damaligen Gegenwart kein deutsches Volk gab, auch wenn einige von ihnen es tief in den germanischen Urwäldern zu erkennen glaubten, um ihrer Idee eines zukünftigen deutschen Volkes die historische Rechtfertigung zu verschaffen.

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Noch im Jahr 1792 registriert Christoph Martin Wieland kühl: „Wer das deutsche Reich aufmerksam durchwandert, lernt zwar nach und nach Östreicher, Brandenburger, Sachsen, Pfälzer, Baiern, Hessen u.s.w. ..., aber keine Deutschen kennen." Selbst der angebliche Erfinder des völkischen Nationalismus der Deutschen, Johann Gottfried Herder, kennt den Begriff des deutschen Volkes noch nicht, sondern spricht immer nur von den „Nationen Deutschlands", von „mehreren Völkern", aus denen „von jeher Deutschland bestand". Im Jahr 1811 ist Johann Heinrich Campe zwar mittlerweile der Begriff eines deutschen Volkes bekannt, aber zugleich muß er konzedieren: „Man spricht und liset vielfach von dem britischen, französischen, schwedischen, spanischen etc. Volk. Nur an einem deutschen Volk hat es leider gefehlt, und man muß hoffen, daß eins aus den Trümmern des deutschen Reichs entstehen werde."

In diesen Jahren begann Napoleon seinen Siegeszug, in dessen Verlauf er sich die deutschen Staaten unterwarf. Und nun taucht in der antinapoleonischen Publizistik Deutschlands schlagartig der Begriff des deutschen Volkes auf. Er wird zu einem kalkulierten Instrument der Propaganda, die die Bevölkerung zum Widerstand gegen die französische Besatzung mobilisieren soll.

Die militärische Überlegenheit Napoleons verdankte sich in erster Linie dem Modernisierungsvorsprung Frankreichs. Seine Truppen bezogen ihre Schlagkraft aus dem durch die Französische Revolution geweckten Nationalbewußtsein. Es ging ihnen nicht mehr um den Sieg ihrer Feldherren und Fürsten, sondern um ihren eigenen Sieg. In den Kreisen um den Freiherrn vom Stein, die konspirativ den Widerstand gegen Napoleon vorbereiteten, war man sich bewußt, daß Napoleon nur überwunden werden konnte, wenn sich ihm Armeen entgegenstellen ließen, die eine vergleichbare Motivation antrieb. Schon 1798 hatte Schamhorst, der spätere Schöpfer der preußischen Landwehr, geschrieben: „Wir werden erst siegen können, wenn wir gelernt haben, so wie die Jakobiner den Gemeingeist zu wecken, ... wenn man mit derselben Tatkraft und Rücksichtslosigkeit alle Hilfsquellen der Nation mobil machen wird, ihre Leiber, ihr Vermögen, ihren Erfindungsgeist, ihre Hingabe zu dem Heimatboden und nicht zuletzt ihre Liebe zu den Ideen." Auch für Stein hing alles davon ab, ob man eine mit der französischen Nation vergleichbare Idee für Deutschland formulieren und die Deutschen mit ihr vertraut machen konnte: „Nur

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indem man den Geist der Nationen aufreizt und in Gärung bringt, kann man es dahin bringen, alle ihre moralischen und physischen Kräfte zu entwickeln." Die führenden Ideologen und Strategen Preußens hatten also die Ursache für die eigene militärische Schwäche deutlich in einem Modernisierungsrückstand diagnostiziert. In der Kriegsparole des deutschen Volkes glaubten sie ein Mittel gefunden zu haben, diesen zu überwinden.

Vor allen anderen ist es Ernst Moritz Arndt, der die Idee des deutschen Volkes propagiert, um den Widerstandsgeist gegen Frankreich auf ein ideologisches Fundament zu stellen. Allen, die gegen Napoleon in den Kampf ziehen, solle gepredigt werden, „wie sie ein viel besseres Volk sind als die Franzosen und daher nicht leiden dürfen, daß diese ihre Herren bleiben". Um den Aufstand gegen Napoleon zum „Volkskrieg" zu machen, müßten „alle Unterschiede ... sich in dem einen Gefühl aufheben, daß nur einmütige Liebe und Begeisterung den Kampf siegreich machen kann".

Vordergründig ließ sich dieses neue Volksgefühl an der leidvollen Erfahrung französischer Unterdrückung festmachen. Kein Volk sei von Napoleon „mehr geschunden und gemißhandelt worden als das teutsche Volk". Jenseits dieser unmittelbar nachvollziehbaren Konfrontation aber fehlte zunächst alles, um der französischen Nation eine eigene Idee des deutschen Volkes gegenüberzustellen. Solange man sich noch in den Vorstellungen der Aufklärung bewegte, bedurfte es eines eigenen Staates, um von einem Volk reden zu können, und einer Revolution, damit dieses Volk zum Bewußtsein seiner selbst kommen konnte. An beides war in Deutschland nicht zu denken. Um daher überhaupt die Vorstellung von einem deutschen Volk entwickeln zu können, mußte zunächst ein völlig neuer Begriff von Volk geschaffen werden. Hierzu das Ideengut geliefert zu haben, war das Werk der Romantik.

Die Schriftsteller der Romantik, besonders aber jene der sogenannten 'politischen Romantik', waren auch persönlich in die konspirativen Kreise um den Freiherrn vom Stein eingebunden. In einer doppelten Frontstellung einerseits gegen die bislang das politische Denken beherrschende Aufklärung, andererseits gegen die militärische Suprematie Frankreichs entwickelten sie die geistigen Grundlagen, durch die es möglich wurde, trotz der fehlenden politischen Voraussetzungen von der Einheit eines Volkes in Deutschland reden zu können. Ihr organologisches Denken rückte an die

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Stelle des Verstandes das Gefühl, an die Stelle des Individuums die Idee eines von der Natur geschaffenen sozialen Ganzen, an die Stelle der wenig ermutigenden Gegenwart die Verherrlichung des Mittelalters. Aus diesen Bausteinen ließ sich die mythische Idee von der Einheit eines Volkes konstruieren, ohne noch nach dessen gesellschaftlicher und politischer Realität fragen zu müssen.

Dieser von der Romantik aus der Taufe gehobene Volksbegriff sollte Deutschland auf das fortschrittliche Niveau Frankreichs heben, ohne sich dabei dem Verdacht auszusetzen, irgend etwas von dem kopiert zu haben, was die Modernität Frankreichs ausmachte. Er war durchtränkt vom Protest gegen das Ideengut der Aufklärung und der Französischen Revolution. Er modernisierte Deutschland, indem er gleichzeitig den Nebel antimodernistischer Mythen und Emotionen verbreitete.

In der Folgezeit ist diese romantische Erfindung nicht auf Deutschland beschränkt geblieben. Sie hat vielmehr Pate gestanden bei der Vorstellung dessen, was heute als das Ethnische bezeichnet wird. Das ethnos ist nichts anderes als eine Abstraktion des romantischen deutschen Volksbegriffs. Angeblich soll es sich dabei zwar um eine zeitlos und universell gültige Kategorie handeln. Aber sie kommt nie los von ihrer Fixierung auf ein modernes, demotisches Volksverständnis, durch das erst sie politisch zur Geltung gebracht wird. Daher taugt sie immer dort, wo sich die Konstellation der 'Befreiungskriege' wiederholt. Wenn Bevölkerungen sich modernisieren und ihre Eliten gleichzeitig die Vorherrschaft einer im Modernisierungsprozeß schon weiter fortgeschrittenen Macht abschütteln wollen, bleibt ihnen fast kein anderer Weg, als sich zunächst die Fiktion der Überlegenheit und Eigenständigkeit bei historischen Mythen und metaphysischen Konstrukten zu besorgen (vgl. Hoffmann 1995b).

In den ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts blieb die romantische Idee des deutschen Volkes zunächst mehr das Lieblingsthema einiger bürgerlicher Intellektueller, als daß sich diejenigen, die von ihr gemeint waren, tatsächlich schon von ihr die eigene Identität hätten definieren lassen. Dazu bedurfte es noch der gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse der nachfolgenden hundert Jahre. Aber es war nicht deren geistige Bewältigung, die sich im deutschen Volksbegriff ihren Ausdruck verschafft hätte. Nicht innenpolitische Umwälzungen, sondern außenpolitische Konfronta-

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tionen sorgten dafür, daß die Integration der modernen Gesellschaft in Deutschland durch die romantische Volksidee zuwege gebracht wurde.

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Feindbilder als Bindeglieder zwischen der romantischen Volksidee und der modernen Gesellschaft
[Fn 4: Fundstellen aller nicht belegten Zitate und weitere Belege in Hoffmann 1994a, S. 88ff.]

Wenn die Idee eines natürlichen Volkes zur Integrationsideologie einer modernen Gesellschaft werden soll, muß ein doppeltes Problem gelöst werden. Denn die Fiktion einer vormodernen völkischen Einheit kann ihre Funktionalität für die moderne Gesellschaft nicht selbst zur Darstellung bringen. Sie muß diese, gerade um sie auszuüben, beharrlich leugnen. Damit aber ist einerseits die Frage aufgeworfen, woher diese Idee dann die Schubkraft bezieht, um sich überhaupt des Bewußtseins der Angehörigen einer modernen Gesellschaft bemächtigen zu können. Andererseits dürfen die Modernisierungsphänomene nicht uninterpretiert bleiben. Sie müssen, da sie im Volksbegriff keine Erklärung finden, auf außerhalb des Volkes liegende Faktoren zurückgeführt werden. Die damit aufklaffende Durchsetzungs- und Erklärungslücke zwischen der modernen Gesellschaft und dem antimodernistischen Volksbegriff wird durch kollektive Feindbilder und Bedrohungsgefühle geschlossen.

Nun läßt sich kaum bestreiten, daß Feindbilder sich generell eignen, um Integrationsdefizite moderner Großgesellschaften zu überbrücken. Für den deutschen Volksbegriff haben sie jedoch eine weit über diese allgemeine Beobachtung hinausgehende Bedeutung. Sie vermitteln der Einheit der modernen Gesellschaft nicht eine zusätzliche Erlebnisqualität, sondern konstituierten diese überhaupt erst. Neben ihnen verblassen alle typisch modernen Prozesse und Strukturen zur Unkenntlichkeit, so daß sie dem Selbstverständnis der Angehörigen dieser Gesellschaft als fremd und störend erscheinen.

Die im 19. Jahrhundert entstehende Einheit der Industriegesellschaft in Deutschland bezog ihr Selbstbewußtsein weder aus dem Staat und dem politischen Handeln noch aus der Ökonomie und dem individuellen Wohl-

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stand noch aus der Rechtsordnung und der bürgerlichen Gleichheit. Jedenfalls haben die Versuche, daraus ein kollektives Bewußtsein zu entwickeln, sich historisch nicht durchsetzen können. Statt dessen waren es Bedrohungsgefühle, die erst eine Vorstellung von der Einheit des Volkes in Deutschland möglich gemacht und diese dann Schritt für Schritt in das Bewußtsein seiner Angehörigen geschoben haben.

Schon im Jahr 1803 vermag Ernst Moritz Arndt kein anderes Mittel zu erkennen, „wie mein Vaterland je zur Einheit eines Volkes gelangen könne", als daß „ein großes Tyrannen- und Feldherrngenie ... erobernd und verderbend die Deutschen zu Einer Masse zusammenarbeitete, woraus endlich ein gesunder Leib würde". So predigt er denn zehn Jahre später, als Napoleon tatsächlich diese Rolle übernahm, den „Volkshaß". Nur durch ihn könne „das vereinzelte Gefühl des Elends zum allgemeinen Gefühl der Kraft, die sklavische Wut der Schande zur männlichen Wut der Rache" werden. Der „Volkshaß" sei „das Leben selbst, denn ohne reinen Haß gegen etwas ist gar kein Leben". Daher müsse „alles, was Leben und Bestand haben soll, eine bestimmte Abneigung, einen Gegensatz, einen Haß haben". „Das Volk wird immer einen Vereinigungspunkt haben," wenn es nur gelänge, „brennenden und blutigen Haß in ihm zu erwecken".

Was damals noch mehr Propaganda als Realität war, dem verhalfen zwei weitere Kriege gegen Frankreich zur Durchsetzung. Den Einfluß des Krieges von 1870/71 beschreibt ein unter seinem Eindruck zum Bismarckanhänger gewendeter Liberaler (Hermann Baumgarten) in einer zeitgenössischen Schrift mit dem bezeichnenden Titel „Wie wir wieder ein Volk geworden sind". Damals hätte sich „der lange schwere Auferstehungsproceß unseres Volkes" vollendet. Denn „die Völker in ihrer Gesammtheit werden nur durch den Donner der Schlachten geweckt". Der Erste Weltkrieg überwand dann endgültig jene zersetzenden Mächte, die im Frieden unsere Volkseinheit in Frage stellten" (Otto von Gierke). Beglückt registrierte die geistige Elite Deutschlands in den ersten Kriegsmonaten, „daß erst mit diesem Kriege auch unser Volk endlich eine Einheit und Ganzheit geworden ist" (Georg Simmel).

Diese Abhängigkeit der inneren Einheit von der äußeren Bedrohung kritisiert Arnold Rüge schon im Vormärz. Noch den Ideen der Aufklärung verpflichtet meint er, es gäbe überhaupt „kein deutsches Volk, nur eine Revolution könnt es schaffen". Der durch die Romantik geweckte deut-

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sche Patriotismus sei weiter nichts als das „bedauerliche Selbstgefühl einer nicht existierenden Nation", die „Unterwerfung unter das Deutschthum". Weil die Deutschen nicht wie die Franzosen sich in einer Revolution als modernes Volk konstituiert hätten, könne „der Deutsche sich das Gefühl seiner Existenz nur von außen holen": „Der Haß der Franzosen (d.h. gegen die Franzosen, L.H.) ... ist das 'Volksgefühl' der Deutschen." Neunzig Jahre später wendet Carl Schmitt diesen Zusammenhang positiv, indem er die politische Einheit des Volkes auf „die Unterscheidung von Freund und Feind" gründet: Hat das Volk „nicht mehr die Fähigkeit und den Willen zu dieser Unterscheidung, so hört es auf, politisch zu existieren".

Den Feinden fällt jedoch nicht nur die Funktion zu, durch ihre fiktive oder faktische Bedrohung ein Gefühl angeblich natürlicher Zusammengehörigkeit ins Leben zu rufen. Da dieses Gefühl seine eigene Modernität nicht begreifen kann, müssen die Feinde auch für deren Erklärung herhalten. Den die Existenz des Volkes bedrohenden Feinden wird die Verantwortung für die dem Volk selbst fremden Modernisierungsprozesse zugeschoben.

Schon von den Ideologen der 'Befreiungskriege' wurde die „unwürdige Ausländerei" (J.G. Fichte), der „Franzosenkram" (J. Görres), die „unglücklichen Irrthümer der Französischen Revolution" (A. Müller), die „Französische Unordnung" (J.F. Fries) für alles verantwortlich gemacht, was die „angestammte Natur und Freiheit" des „unvertilgbaren Deutschen Charakters" (J. Görres) an Modernisierung zu ertragen hatte. Als die Franzosen schließlich besiegt worden waren, rückten die durch deren Reformen emanzipierten Juden in diese Funktion ein. Es kam zu judenfeindlichen Schriften und dadurch angezettelten Krawallen (vgl. Katz 1994), die sich zum ersten Mal auf die Nichtzugehörigkeit der Juden zum deutschen Volk beriefen: „Sie wollen als Juden ein eignes Volk seyn, trennen sich also dadurch nothwendig von unsrer Deutschen Volksgemeinschaft." (J.F. Fries). Im Antisemitismus des Kaiserreichs mußten die Juden für alle Modernisierungsphänomene herhalten, die dem deutschen Wesen widersprechen sollten. Ob es sich um Begleiterscheinungen des heftigen Industrialisierungsprozesses oder um den aufstrebenden Sozialismus oder um den zunehmend in die Defensive geratenden Liberalismus handelte - alles sollte seinen Grund in dem „vielfach sich vordrängenden und zersetzenden

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jüdischen Einfluß auf unser Volksleben" haben (Programm der konservativen Partei vom 8. Dezember 1892, zit. in Massing 1986, S. 69). In der imperialistischen Phase des späten Kaiserreichs und des Ersten Weltkrieges waren es die Briten, die durch ihre ökonomische Überlegenheit, ihren Kolonialismus und ihre Seemacht das deutsche Volk angeblich nötigten, es ihnen gleichzutun, obwohl dies seinem Wesen widersprechen und bei ihm von völlig anderen Motiven gelenkt sein sollte. Für Werner Sombart verkörpert der „englische Händlergeist" die Merkmale einer modernen Industrienation; die den Deutschen eigentümliche „heldische Auffassung vom Leben" äußert sich dagegen „zunächst einmal in der einmütigen Ablehnung alles dessen, was auch nur von ferne englischem oder insgesamt westeuropäischem Denken und Empfinden nahe kommt" (Sombart 1915, S. 9, S. 66, S. 55). Und schließlich entledigten sich die Nationalsozialisten von aller Verantwortung für die von ihnen vehement betriebene Modernisierung Deutschlands, indem sie von dem Kampf sprachen, den die Jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung" dem lediglich um seinen Seelenfrieden ringenden deutschen Volk aufzwang.

Selbst noch die jüngste Welle deutscher Bedrohungsgefühle, die das Verriegeln Deutschlands gegenüber Asylsuchenden zur Folge hatte, läßt sich noch nach diesem Muster deuten. Verkörperten doch die Flüchtlinge gegen ihren Willen die Mobilität, den Kosmopolitismus und die Wurzellosigkeit, die der Modernisierungsprozeß gerade den Industrienationen aufnötigt. In den Flüchtlingen lassen sich die die Modernisierung begleitenden Irritationen bekämpfen, ohne daß man auf die Vorzüge verzichten müßte, die sie gleichzeitig mit sich bringt.

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Die deutsche Einheit und das Volk in Deutschland
[Fn 5: Fundstellen aller Zitate und weitere Belege in Hoffmann 1994a, S. 156ff., S. 165ff.]

Die völkische Vorstellung, das deutsche Volk sei eine ursprüngliche, allem Handeln vorausliegende Einheit, will trotz ihres antimodernistischen Gehalts eine Antwort auf die Frage sein, wie die Integration moderner Gesellschaften zuwege gebracht werden kann. Es käme nur darauf an, daß

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die Menschen sich die objektiv schon immer bestehende Zusammengehörigkeit auch subjektiv zu Bewußtsein bringen.

Nun mangelt allerdings einer auf diese Weise hergestellten Einheit jeder inhaltliche Bezug zu den Prozessen, in denen moderne Gesellschaften tatsächlich um ihre Integration ringen. Eine derartige Zusammengehörigkeit bleibt ohne jede Verbindung zu dem konkreten Handeln, durch das sich die Angehörigen einer modernen Gesellschaft miteinander in Beziehung setzen und sich über ihre gemeinsamen Belange zu verständigen suchen. Die Einheit wird von oben und außen übergestülpt und nicht von unten und innen konstituiert. Sie ist das Ergebnis einer Unterwerfung unter das 'Schicksal', aber sie ist nichts, in dem die Individuen sich wiederfinden könnten, weil sie es selbst geschaffen hätten. Sie ist der Solidarität vormoderner Gesellschaften nachgebildet und kann daher den Prozessen und Strukturen moderner Gesellschaften keine Funktion für sich einräumen. Daraus resultiert eine eigentümliche Realitätsferne, die durch eine zunehmend repressive Indoktrination und das Wuchern ideologischer Konstrukte kompensiert werden muß. Sowohl der quasi-religiöse Charakter des deutschen Nationalbewußtseins als auch seine Anfälligkeit für Rassentheorien finden darin eine Erklärung.

Weil dieses deutsche Volksverständnis die gesellschaftliche Einheit immer schon voraussetzt, aber keine Vorstellungen anzubieten hat, wie es durch das Handeln von Individuen erst geschaffen werden könnte, fehlt es an einem zwingenden Zusammenhang zwischen der Idee des deutschen Volkes und der einer demokratischen Staatsverfassung und Gesellschaftsordnung. Vielmehr hat die Berufung auf das deutsche Volk in der Vergangenheit immer wieder dazu herhalten müssen, um sich über demokratische Grundsätze und Verfahren hinwegzusetzen.

Vier Jahre nach der Gründung des Bismarckreiches und der halbherzigen Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts (für Männer!) hat Paul de Lagarde die völkischen Vorbehalte gegenüber der Gleichsetzung des deutschen Volkes mit dem Wahlvolk mit den Sätzen zum Ausdruck gebracht: „Das Volk spricht gar nicht, wenn die einzelnen Individuen sprechen, aus denen das Volk besteht; das Volk spricht nur dann, wenn die Volkheit... in den Individuen zu Worte kommt." Niemand weniger als Thomas Mann hat ihn deswegen in der völkischen Emphase des Ersten Weltkriegs neben Friedrich Nietzsche und Richard Wagner unter die

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„Großen des Volkes" eingereiht. Das deutsche Volk sei „eine mythische Person von eigentümlichsten Gepräge", weswegen es „die politische Demokratie niemals wird lieben können". Daher sei „der vielverschrieene 'Obrigkeitsstaat' die dem deutschen Volke angemessene, zukömmliche und von ihm im Grunde gewollte Staatsform."

Auf diese natürliche Einheit des deutschen Volkes berief man sich auch 1990 bei der deutschen Einigung (vgl. Hoffmann 1994, S. 25ff.). Der damalige Streit, ob diese auf dem Wege des Artikels 23 oder dem des Artikels 146 des Grundgesetzes hergestellt werden sollte, wurde nur vordergründig mit verfassungsrechtlichen und praktischen Argumenten geführt. Letztlich ging es um die Frage, ob eine objektive Einheit des deutschen Volkes vorausgesetzt werden könne, so daß es nicht mehr auf den Willen der Menschen ankam, oder ob das Volk als eine Einheit verstanden werden sollte, die sich erst durch den Willen der Individuen, einen gemeinsamen Staat zu bilden, konstituiert hätte.

Ihre symbolische Darstellung hat diese Entscheidung bereits im Spätherbst 1989 erfahren, als bei den Montagsdemonstrationen in Leipzig der Ruf „Wir sind das Volk" durch den Slogan „Wir sind ein Volk" ersetzt wurde (vgl. Hoffmann 1990; Hoffmann 1993, S. 29ff). Die scheinbar geringfügige semantische Korrektur brachte einen radikalen Wandel des politischen Programms zum Ausdruck. In der ersten Version lag die Betonung auf den Worten „wir" und „Volk", während die zweite Version das Gewicht auf die Worte „sind" und „ein" legte.

Der Ersatz des bestimmten durch den unbestimmten Artikel veränderte die Bedeutung des Begriffs Volk. „Das Volk" ist das Volk der Moderne. Es kommt zur Darstellung, wenn die Menschen sich bewußt werden, daß die Einheit der Gesellschaft und die Legitimation ihrer politischen Organisation ein Produkt ihres gemeinsamen Willens sind. Seit der Aufklärung wird dies durch das Bild des Gesellschaftsvertrags zum Ausdruck gebracht. „Ein Volk" dagegen ist die vormoderne, angeblich objektive Einheit, die Gesellschaft und Staat zwar ihren äußeren Rahmen liefert, aber darüber hinaus keine Aussagen treffen kann, wie die Einheit der Gesellschaft organisiert und auf welche Weise in ihr politische Herrschaft ausgeübt werden soll. Dazu konnte dann ein Vertrag genügen, den zwei Technokraten miteinander ausgehandelt haben (vgl. Schäuble 1991).

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„Das Volk" kommt zum Bewußtsein seiner selbst, indem es handelnd zum kollektiven Subjekt wird. „Ein Volk" braucht nicht zu handeln, um es zu sein. Es genügt, wenn die Menschen sich seiner objektiv vorgegebenen Existenz bewußt werden. Bei ihm ist - wie Carl Schmitt formuliert - „die Einmütigkeit naturhaft vorhanden. Wo sie besteht, ist wegen ihrer Naturhaftigkeit der Vertrag sinnlos; wo sie nicht besteht, nützt kein Vertrag."

Dem ersten Slogan lag ein revolutionärer Impuls zugrunde. Das Volk beanspruchte, die politische Herrschaft, die bisher nur in seinem Namen ausgeübt wurde, in die eigenen Hände zu nehmen. Der herrschaftskritische Akzent dieser Worte war nicht zu überhören und jagte wohl auch der politischen Klasse in Bonn eine Gänsehaut über den Rücken. Es war daher nicht verwunderlich, wenn der damalige Generalsekretär der CDU meinte, die zweite Version gehört zu haben. Denn die hatte eine restaurative Tendenz. Es ging nicht mehr darum, die politische Herrschaft in die Hände des Volkes zu legen; sie sollte nur noch eine für alle Deutschen sein.

Weil „ein Volk" in seiner Naturhaftigkeit nicht das Prozeßhafte der modernen Gesellschaft reflektiert, weil es keinen Begriff hat von der täglichen und alltäglichen Anstrengung, sich als Volk erst integrieren und konstituieren zu müssen, ist die Desillusionierung der ersten Jahre der zweiten deutschen Einigung ebenso unvermeidlich, wie es die der durch Bismarcks „Revolution von oben" geschaffenen ersten war. Die Fiktion der völkischen Einheit vermag den Auseinandersetzungen um die Integration der neuen Gesellschaft und des neuen Staates keinen Sinn abzugewinnen. Sie erscheinen nur als Defizite gegenüber einer „naturhaft gegebenen Einmütigkeit", die sich von ihnen keine Vorstellung zu machen vermag. Unter diesen Umständen können die Phänomene der Moderne und der Modernisierung keine konstruktive Deutung erhalten. Die Menschen erfahren ihnen gegenüber keine Ermutigung, sondern empfinden sie nur als Vorgänge der Zersetzung und Auflösung, denen sie mit resignativer Gleichgültigkeit den Rücken kehren oder deren Wahrnehmung sie sich durch blinde Wut gegen Schwächere zu entziehen suchen.

So wenig das naturhafte Volk eine brauchbare Folie für eine moderne Gesellschaft abgeben kann, so wenig kann diese doch auf einen Begriff von ihrer Einheit verzichten, der die dafür aufzuwendende Mühsal nicht leugnet, sondern zur Darstellung bringt. Deswegen wird es nicht reichen, den

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naturhaften Volksbegriff der romantischen deutschen Tradition abzulehnen und abzulegen. Es wird vielmehr alles darauf ankommen, ihn in einer nachholenden Aufklärung durch den Volksbegriff der westeuropäischen Staatstradition zu ersetzen. Die 'Selbstbestimmung des Volkes' kann nur dann eine brauchbare Formel der modernen Gesellschaft in Deutschland sein, wenn die Selbstbestimmung der Individuen für sie kein störendes, sondern ein konstitutives Element ist. Die 'Öffnung gegenüber dem Westen' bleibt solange unvollendet, wie sie nicht auch den Volksbegriff in Deutschland erfaßt hat.

Diese Revision des Volksbegriffs in Deutschland ist überfällig, weil nur dann

  • das Volk mit der Moderne versöhnt wird,
  • die Demokratie im kollektiven Selbstverständnis der Deutschen einen unverrückbaren Platz erhält,
  • der Prozeß der gesellschaftlichen und politischen Integration der erweiterten BRD eine konstruktive Deutung erfährt,
  • Zusammengehörigkeit nicht mehr durch Feindbilder und Bedrohungsgefühle von außen geholt werden muß, sondern von innen her aufgebaut wird,
  • die Erinnerung an die Shoah nicht mehr auf traumatische Abwehr stößt, sondern als Besiegelung eines gewandelten Denkens bewußt bleiben kann (vgl. Hoffmann 1995a),
  • die Aufnahme der nichtdeutschen Einwanderer in eine Vorstellung von gesellschaftlicher Zusammengehörigkeit möglich ist (vgl. Hoffmann 1994b).

Diese Argumente weisen zugleich den Weg, wie sich ein Wandel des Volksbewußtseins der Deutschen in die Wege leiten läßt. Wenn man sich diesen Notwendigkeiten stellt und sie auf den empirischen Alltag des gesellschaftlichen und politischen Lebens in Deutschland bezieht, bleibt für die Fiktion eines natürlichen Volkes kein Raum. Denn niemals ergibt „die relative natürliche oder kulturliche Einheitlichkeit der Gebietsbewohner an sich schon die Einheitlichkeit des Staates. Diese ist letztlich immer das Ergebnis bewußter menschlicher Tat, bewußter Einheitsbildung, als Organisation zu begreifen." (Hermann Heller; vgl. auch Hoffmann 1992).

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