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[Seite der Druckausgabe: 7]

Bernhard Santel: Die Lebenslage junger Migranten: Zur Problematik der „Dritten Generation"

1. Einleitung: Auch in der Dritten Generation noch Ausländer?

Der Begriff der „Ausländer der dritten Generation" ist entlarvend. Er illustriert anschaulich die Irrationalität und Engstirnigkeit der deutschen Ausländerpolitik und ihres Verständnisses von Staatsangehörigkeit. Selbst die Kinder der Kinder der italienischen, spanischen und türkischen Einwanderer der fünfziger bis siebziger Jahre sind rechtlich nicht zu Deutschen geworden, sondern bleiben Ausländer. Dies bedeutet keineswegs, daß sie nicht in die hiesige Gesellschaft integriert sind. Insgesamt betrachtet kann die vorschulische, schulische und berufliche Integration der Einwandererkinder in Anbetracht ihrer schlechten Startbedingungen als durchaus erfolgreich bezeichnet werden. [Fn. 1: Die Daten zu den folgenden Ausführungen basieren größtenteils auf einer Untersuchung im Auftrag des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (Dietrich Thränhardt, Renate Dieregsweiler, Bernhard Santel, Martin Funke: Ausländerinnen und Ausländer in Nordrhein-Westfalen. Die Lebenslage der Menschen aus den ehemaligen Anwerbeländern und die Handlungsmög lichkeiten der Politik, Landessozialbericht Bd. 6, Düsseldorf, Dezember 1994). Soweit nicht ausdrücklich anders erwähnt beziehen sich die Daten auf die fünf Hauptanwerbenationalitäten, Türken, Ex-Jugoslawen, Italiener, Griechen und Spanier. Ein Großteil der Daten bezieht sich auf Nordrhein-Westfalen, ist aber in der Regel für die gesamte Bundesrepublik repräsentativ.] Selbst dieser Personenkreis bleibt jedoch in seiner überwiegenden Mehrheit von der Wahrnehmung der vollen staatsbürgerlichen Rechte, inklusive des Wahlrechts, ausgeschlossen.

Es ist hier nicht der Platz, die rechtlichen und sozialen Unterschiede zwischen jungen Aussiedlern und jungen Ausländern zu diskutieren. Gestattet sei aber, darauf hinzuweisen, welche Absurdität darin liegt, daß ein hier geborener Jugendlicher mit türkischen Vorfahren, der in Deutschland die Schule besucht, fließend deutsch spricht und - eventuell mit der Ausnah-

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me weniger Urlaubswochen im Jahr - Deutschland nie verlassen hat, als Ausländer gilt, während ein gleichaltriger Jugendlicher, der in Rußland aufgewachsen, zur Schule gegangen und Rußland nie verlassen hat aufgrund seiner Abstammung wenige Tage nach seiner Einreise bereits deutscher Staatsbürger ist [ Fn. 2: Vgl. zur Lebenslage von Aussiedlern in Deutschland: Heinelt, Hubert/Lohmann, Anne: Immigranten im Wohlfahrtsstaat am Beispiel der Rechtspositionen und Lebensverhältnisse von Aussiedlern, Opladen 1992. Daß Aussiedler keineswegs als 'Migrationsgewinner' bezeichnet werden können, zeigt der Beitrag von: Hülskemper, Monika: Integrationschancen von Aussiedlern. Eine Einschätzung ihrer sozialen Situation in der Bundesrepublik, in: Informationsdienst zur Ausländerarbeit, 1994, Nr. 3/4, S. 48-53.]

Die deutsche Gesellschaft tut sich generell schwer, die Tatsache der Einwanderung von Millionen von Vertriebenen, 'Gastarbeitern' und ihren Familienangehörigen, Flüchtlingen und Asylbewerbern auch sprachlich zu verarbeiten. Bis heute hat sich die politische Elite nicht dazu durchringen können, Deutschland offiziell als 'Einwanderungsland' zu bezeichnen [Fn.3: Vgl. Bade, Klaus J.: Ausländer - Aussiedler - Asyl. Eine Bestandsaufnahme, München 1994; Meier-Braun, Karl-Heinz: 'Gastarbeiter' oder Einwanderer? Anmerkungen zur Ausländerpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1980.] Wie grotesk diese Weigerung ist, macht ein Vergleich der demographischen Bedeutung von Einwanderung in Deutschland und den Vereinigten Staaten, dem klassischen Einwanderungsland, deutlich. Während Einwanderung in die USA nur knapp ein Drittel des jährlichen Bevölkerungsanstiegs ausmacht, geht in Deutschland - die Zahl der jährlichen Sterbefälle übersteigt die der jährlichen Geburten deutlich - der gesamte Bevölkerungsanstieg auf das Konto der Einwanderung. [Fn. 4: Vgl. Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1994, Wiesbaden 1994.] Ohne Einwanderung würde die Bundesrepublik folglich einen deutlichen Bevölkerungsrückgang zu verzeichnen haben, während die amerikanische Bevölkerung auch ohne Einwanderung - zumindest kurzfristig - weiter anwachsen würde. [Fn. 5: Fix, Michael/Passel, Jeffrey S.: Immigration and Immigrants. Setting the Record Straight, Washington D.C. 1994, S. 6.]

Die Probleme der adäquaten Wortwahl setzen sich fort, wenn man nach der korrekten Bezeichnung für die verschiedenen in Deutschland lebenden Migrantengruppen sucht. Selbstverständlich handelt es sich bei der Gene-

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ration der Anwerbeausländer um Einwanderer. In ihrer großen Mehrheit werden sie ihren Lebensabend in Deutschland verbringen [Fn. 6: Vgl. zur Problemlage älterer Migranten: Dietzel-Papakyriakou, Maria: Altern in der Migration. Die Arbeitsmigranten vor dem Dilemma: zurückkehren oder bleiben?, Stuttgart 1993.] Dies gilt insbesondere für Einwanderer aus der Türkei, die aufgrund der dort vergleichsweise schlechteren medizinischen Versorgung und der Tatsache, daß sich ihre Familien zum großen Teil in Deutschland befinden, nicht in ihre Herkunftsländer zurückkehren werden. Es muß allerdings ergänzend bedacht werden, daß nicht nur die deutsche Gesellschaft Probleme mit dem Eingeständnis hat, Einwanderungsland zu sein; auch viele Migranten der Anwerbegeneration verweigern sich dieser Begrifflichkeit. Vielen fällt es schwer, sich einzugestehen, den Lebensmittelpunkt in einem Land zu haben, das ihnen fremd geblieben ist und vielfach ablehnend gegenübersteht.

Selbstverständlich sind auch die Ausländer der „Zweiten Generation" als Einwanderer zu bezeichnen. Sie sind hier geboren oder in jungen Jahren zu ihren Familien in Deutschland nachgezogen. [Fn.7: Vgl. Wilpert, Czarina: Die Zukunft der Zweiten Generation. Erwartungen und Verhaltensmöglichkeiten ausländischer Kinder, Königstein/Ts. 1980.] Da sie entweder in Deutschland ihre gesamte schulische Ausbildung absolviert haben oder nach einigen Jahren Schulbesuch im Herkunftsland in Deutschland fortsetzen konnten (Seiteneinsteiger), ist ihre Sozialisation in wesentlich stärkerem Maße als bei der Anwerbegeneration vom Lebensumfeld dieser Gesellschaft geprägt. Kompliziert wird die Begriffswahl nun im Hinblick auf die „Dritte Generation". Genauso falsch wie es ist, diese Gruppe mit dem formalrechtlich zutreffenden, soziologisch aber irreführenden Begriff 'Ausländer' zu bezeichnen, wäre es, von 'Einwanderern' zu sprechen, da dieser Personenkreis aufgrund seiner Geburt in Deutschland über keinerlei persönliche Wanderungsgeschichte verfügt. Welche Terminologie bietet sich infolgedessen an? Man kann von Einwandererkindern sprechen, von Jugendlichen mit ausländischer Nationalität oder kompliziert von jugendlichen Inländern ohne deutschen Paß. Sämtliche dieser Bezeichnungen sind natürlich unzureichend, da es sich letztlich um Deutsche handelt, ohne daß unsere Gesellschaft die Fähigkeit aufbringt, dieser sozialen Tatsache auch rechtlich zu entsprechen.

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Daß es sich bei der Frage der adäquaten Wortwahl nicht nur um ein randständiges terminologisches Problem handelt, zeigt sich bei der Berechnung der durchschnittlichen Aufenthaltsdauer von Migranten in Deutschland. So gehen Kinder, die in der Bundesrepublik geboren werden, mit ihrem Lebensalter in die Statistiken zur Aufenthaltsdauer ein. Es ist natürlich in hohem Maße verzerrend, wenn so getan wird, als habe ein in Deutschland geborener fünfjähriger Türke eine 5jährige Aufenthaltsdauer. Zur korrekten Berechnung der durchschnittlichen 'Aufenthaltszeit' muß also ein höheres Ausgangsalter zugrunde gelegt werden. Dies ist etwa in der folgenden Statistik der Fall, die die Aufenthaltsdauer für die über 16jährigen Migranten errechnet.

Tabelle 1: Durchschnittliche Aufenthaltsdauer der über 16jährigen Migranten in NRW und im Bundesgebiet (in Jahren)

Nordrhein-
Westfalen

übriges Bundesgebiet

Alle Befragten

16,9

18,1

Spanier

20,1

19,5

Italiener

19,1

19,4

ehem. Jugoslawen

17,5

17,6

Griechen

17,2

18,1

Türken

16,0

17,8

Quelle: Marplan 1993. Eigene Berechnungen

Im Durchschnitt ergibt sich folglich eine 'Aufenthaltszeit' der Migranten in Deutschland von fast 17 Jahren. Die nicht unerheblichen Differenzen zwischen den Nationalitäten hängen zusammen mit Unterschieden in der Altersstruktur.

Für den einwanderungspolitischen Diskurs ist zudem von großer Bedeutung, daß es aufgrund der demographischen Veränderungen der vergangenen Jahre falsch ist, von Einwandererkindern als Minderheit zu sprechen. In großen Städten - die eingewanderte Bevölkerung ist aufgrund der höheren Verfügbarkeit von Arbeitsplätzen städtisch geprägt - sind junge Mi-

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granten in bestimmten Alterskohorten fast schon in der Mehrheit. So leben in Frankfurt - der Stadt mit dem höchsten Migrantenanteil in Deutschland - in der Altersgruppe der 15- bis 20jährigen 13.000 Jugendliche mit ausländischer Nationalität oder 46% der Frankfurter Jugendlichen insgesamt. Bei den 20- bis 25jährigen sind immerhin noch 38% ihrem rechtlichen Status nach Ausländer8 [ Fn.8: Vgl. Kuske-Schmittinger, Bernd: Verbesserte Schulausbildung zeigt nur geringe Auswirkungen auf dem Arbeitsmarkt, in: Informationsdienst zur Ausländerarbeit, 1994, Nr. 3/4, S. 194-206.] In anderen deutschen Ballungsräumen oder in bestimmten Stadtteilen deutscher Großstädte sehen die Zahlenverhältnisse nicht anders aus.

Mit Bezug auf die Staatsangehörigkeitsdebatte kann festgestellt werden, daß in Frankfurt - der Stadt mit dem höchsten Migrantenanteil in Deutschland - nahezu die Hälfte aller Jugendlichen im Alter von 18, 19 und 20 Jahren vom Wahlrecht, dem Fundament jeder freiheitlich-demokratischen Gesellschaft, ausgeschlossen sind. Auch die größten Kritiker einer liberaleren Einbürgerungspraxis müßten angesichts dieser Zahlenverhältnisse zu dem Ergebnis kommen, daß es dringend geboten ist, die Richtlinien zum Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft den veränderten demographischen Realitäten anzupassen [Fn.9: Einen ausgezeichneten Überblick über die Unterschiede hinsichtlich des Erwerbs der Staatsbürgerschaft in den westlichen Industriestaaten liefert der 1995er SOPEMI-Bericht der OECD: Trends in International Migration. Annual Report 1994, Paris.]

Die quantitative Bedeutung jugendlicher Migranten, die allerdings im Vergleich der Nationalitäten sehr unterschiedlich ist, zeigt sich, wenn man einen Blick auf die Alterspyramide wirft.

Innerhalb der türkischen Bevölkerung in Deutschland ist mittlerweile sogar die Gruppe der Kinder bis sechs Jahre zur stärksten Alterskohorte geworden. Ein anderes Bild ergibt sich etwa bei den spanischen Einwanderern. Hier überwiegt der Jahrgang der Anwerbeausländer, gefolgt von der zweiten Generation und einem sehr kleinen Prozentanteil junger Migranten.

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Altersstruktur der eingewanderten Bevölkerung

Vergleich Männer und Frauen in NRW


Wie sehr die Auffassung, daß Ausländer immer Ausländer bleiben und auch ihre Kinder niemals zu Deutschen werden, die Diskussion bestimmt, zeigte sich im vergangenen Jahr bei der Vorlage eines Forschungsberichts zur Bevölkerungsstatistik durch das Bundesfamilienministerium. Der Bericht kommt zu dem Ergebnis, daß sich die demographischen Folgen des Geburtenrückgangs in der Bundesrepublik durch eine gezielte Einwanderung von jährlich 500.000 Personen ausgleichen ließen. Dies sei jedoch unannehmbar, da dadurch der Ausländeranteil von jetzt acht auf 46,2% im Jahr 2030 ansteigen würde. [Fn.10: Vgl. Süddeutsche Zeitung, 26.8.1994. ] Die simple Tatsache, daß der Ausländeranteil wesentlich geringer ausfiele, wenn die Einbürgerungsbestimmungen erleichtert und zumindest den Kindern der Einwanderer unbürokratisch die deutsche Staatsangehörigkeit angeboten würde, ist hier ganz offenkundig nicht bedacht worden.

Daß in den westeuropäischen Ländern immer wieder die hohe und weiter wachsende Zahl der Ausländer beklagt wird, ist letztlich auf eigenes

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ministratives Versagen zurückzuführen. Die Regierungen haben es selbst in der Hand, durch erleichterte Einbürgerungsbestimmungen den Ausländeranteil ihrer Bevölkerungen zu reduzieren. Nach Ansicht der Ausländerbeauftragten der Bundesregierung ist das deutsche Ausländerrecht daher „bei weitem nicht so realitätsbezogen, wie es angesichts der vierzigjährigen Immigrationsgeschichte unseres Landes sein könnte und müßte." [ Fn.11: Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der Ausländer: Ausländerinnen und Ausländer in europäischen Staaten, Bonn 1994, S. 5.] Zwar hat es in den vergangenen Jahren beachtenswerte Erleichterungen für jugendliche Ausländer gegeben, die zwischen 16 und 23 Jahren alt sind, einen achtjährigen Mindestaufenthalt sowie sechsjährigen Schulbesuch in Deutschland aufweisen können. Nichtsdestotrotz ist die Einbürgerungsrate in Deutschland weiterhin ausgesprochen gering. So wurden 1992 nur 179.904 Personen eingebürgert, die Mehrzahl davon waren deutschstämmige Aussiedler. Insgesamt ergibt sich für Deutschland (inkl. Aussiedler) eine Einbürgerungsquote von 3.1%, gegenüber 8.5% in Schweden und 5.7% in den Niederlanden. [Fn. 12: Daten entnommen aus: OECD. SOPEMI Trends in International Migration. Annual Report 1994, Paris 1995, S. 158. Vgl. zu den sehr unterschiedlichen Einbürgerungspolitiken in Europa: Brubaker, Rogers (Hrsg.) 1989: Immigration and the Politics of Citizenship in Europe and North-America, Lanham/New York/London.]

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2. Das Interesse der eingewanderten Bevölkerung am Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft

Es liegen nur wenige empirische Untersuchungen über die Einstellungen der eingewanderten Bevölkerung zum Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft vor. Die Untersuchung im Auftrag des nordrhein-westfälischen Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS) hat in diesem Zusammenhang aufschlußreiche Resultate erbracht, die belegen, daß eine deutliche Mehrheit der eingewanderten Bevölkerung Interesse am Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit hat. Wie nicht anders zu erwarten, sind insbesondere jugendliche Migranten in hohem Maße daran interessiert, Deutsche zu werden.

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Tabelle 2: Interesse an der deutschen Staatsangehörigkeit nach Alter

Sehr oder etwas interessiert am Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft


Prozent
1993

Veränderung
zu 1992

16 bis 18 Jahre

64,0

-6,1

19 bis 25 Jahre

61,5

+12,6

26 bis 34 Jahre

54,3

+7,9

35 bis 44 Jahre

51,2

+5,8

45 bis 54 Jahre

38,9

+1,2

55 bis 64 Jahre

34,2

+5,0

65 Jahre und älter

/

/

Gesamt (alle Befragten)

51,7

+6,7

Quelle: Marplan 1993. Eigene Berechnungen. Raumbezug: Bundesgebiet (West).

Über 60% der jugendlichen Migranten in Deutschland haben Interesse am Erwerb der Staatsbürgerschaft. Mit zunehmendem Alter nimmt das Interesse stark ab. Bemerkenswert ist, daß das Interesse an der Staatsbürgerschaft bei Türken und Ex-Jugoslawen am höchsten und bei den Einwanderern aus der Europäischen Union am geringsten ausgeprägt ist.

Selbstverständlich löst der erleichterte Erwerb der Staatsbürgerschaft nicht die Probleme offener oder verdeckter gesellschaftlicher Diskriminierung am Arbeitsplatz, bei der Berufswahl, beim Eintritt in eine Diskothek oder anderen Alltagskonflikten. Es darf jedoch nicht der Fehler gemacht werden, die handfesten integrativen Fortschritte gerade für jugendliche Migranten geringzuschätzen, die mit dem Erwerb der Staatsbürgerschaft verbunden sind. Um ein einfaches Beispiel zu nennen: In den zurückliegenden Jahren ist es wiederholt zur Diskriminierung ausländischer Schüler bei Klassenfahrten ins europäische Ausland gekommen, denen aufgrund des fehlenden Visums die Einreise verwehrt wurde. Schulklassen wurden durch diese Reiseregelungen in zwei Gruppen geteilt: Während deutsche, spanische oder italienische Kinder problemlos nach Frankreich oder Dä-

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nemark reisen konnten, mußten sich ihre türkischen oder marokkanischen Mitschüler vorher bei den Konsulaten ihrer Herkunftsländer ein Visum ausstellen lassen. Die für die Ausländerpolitik in Europa so charakteristische rechtliche Ungleichbehandlung von privilegierten EU-Bürgern auf der einen und Migranten aus Ländern außerhalb der Union auf der anderen Seite setzte sich auf diese Weise bis in die Schulen fort. [Fn.13: Das Schengener Übereinkommen stellt nun allerdings sicher, daß sich auch Drittausländer, die Inhaber eines gültigen Aufenthaltstitels sind (Einwanderer), für die Dauer von bis zu drei Monaten frei zwischen den Unterzeichnerstaaten bewegen können. Damit fällt für sie das bürokratische Hemmnis der Beantragung eines Sichtvermerks weg. Vgl. Santel, Bernhard 1995: Migration in und nach Europa. Er fahrungen. Strukturen. Politik, Opladen 1995, S. 208f.]

Der erleichterte Erwerb der Staatsbürgerschaft spätestens für die dritte Generation ist zudem von nicht zu unterschätzender Bedeutung für ihre beruflichen Perspektiven. Eine hohe Anzahl qualifizierter Berufe mit sicherem Einkommen im Staatsdienst setzt das Vorhandensein der deutschen Staatsbürgerschaft voraus. Ohne Staatsangehörigkeit bestehen nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten, Zugang zum Beamtenstatus, einer vom Risiko der Arbeitslosigkeit weitgehend freien Beschäftigung, zu erhalten. Die im Berufsbildungsbericht 1994 des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft veröffentlichten Daten zeigen, daß auch in den zurückliegenden Jahren nur ein Bruchteil der jugendlichen Migranten eine Ausbildung im Öffentlichen Dienst absolvieren konnte. So standen 1994 53.662 ausländischen Auszubildenden in Industrie und Handel sowie 52.210 im Handwerk nur 1.827 ausländische Auszubildende im Öffentlichen Dienst gegenüber. Von den 53.678 türkischen Auszubildenden im Jahr 1992 waren nur 687 oder 1.3% im Öffentlichen Dienst beschäftigt. Während Industrie, Handel und Handwerk insgesamt einen bedeutenden Beitrag zur Ausbildung und Qualifizierung jugendlicher Migranten leisten, verweigert sich der Öffentliche Dienst bis heute dieser gesellschaftlichen Aufgabenstellung. [Fn.14: Zahlen entnommen aus: Der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft (Hrsg.): Berufsbildungsbericht 1994, Bad Honnef 1994.]

Es ist nicht mehr hinzunehmen, daß bei einer insgesamt weiter wachsenden Zahl von in Deutschland lebenden Einwanderern und einer quantitativ sehr bedeutenden zweiten und dritten Generation sowie aufgrund der Tat-

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sache, daß der Anteil von jungen Einwanderern mit abgeschlossener Hochschulreife und Studienabschluß in den vergangenen Jahren deutlich angestiegen ist, auch die nächste Generation von Beamten, Lehrern, Polizisten oder Fachkräften in den Ausländerbehörden sich vollständig aus einem Personenkreis rekrutiert, der über keinerlei oder nur erlernte Migrationskenntnisse verfügt. Sinnvoll und notwendig wäre es indessen, das Potential zu nutzen, welches unsere Gesellschaft durch die Tatsache der Einwanderung erhalten hat.

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3. Unterschiede im Heiratsverhalten der eingewanderten Bevölkerung

In der einwanderungspolitischen Diskussion ist nur relativ selten von einem Zusammenhang die Rede, der für die Eingliederung der Einwanderer von großer Bedeutung ist. Es handelt sich um die Frage, ob Deutsche und Migranten in signifikantem Maße Partnerschaften eingehen oder ob Migranten bei der Familiengründung innerhalb ihrer 'ethnischen Kolonie' verbleiben. Ein hoher Anteil von binationalen Ehen und Partnerschaften wäre nicht nur ein aussagekräftiger Indikator für den gesellschaftlichen Abbau von Barrieren; [Fn.15: Vgl. zur internationalen Situation: Kalmijn, Matthijs: Spouse Selection among the Children of European Immigrants. A Comparison of Marriage Cohorts in the 1960 Census, in: International Migration Review, 1993, Vol. 27, Nr. 1, S. 51-78.] gleichzeitig ist er auch von Bedeutung für die Frage der Staatsangehörigkeit. Während Kinder aus ausländischen Partnerschaften staatsbürgerrechtlich Ausländer bleiben, erwerben Kinder aus Partnerschaften mit einem deutschen Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit. Die nachfolgende Grafik zeigt zum einen die Zahl der lebendgeborenen Kinder in Nordrhein-Westfalen aus Partnerschaften, in denen beide Elternteile die gleiche Nationalität haben und zum zweiten die entsprechende Zahl für Partnerschaften in denen nur ein Elternteil Deutscher ist.

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Lebendgeborene Kinder in NRW

Es stammen aus


Es wird deutlich, daß die Zahl der Kinder aus „inner-ethnischen" Ehen in Nordrhein-Westfalen deutlich höher ist als die Zahl der Kinder aus gemischt-nationalen Partnerschaften. Im Jahr 1991 wurden 26.473 in ausländischen Partnerschaften geboren gegenüber 10.056 Kindern aus Beziehungen in denen ein Elternteil Deutscher war. Diese Verteilungsstruktur kann als durchaus typisch für eine Einwanderungssituation betrachtet werden. Einwanderer zumindest der ersten Generation suchen sich aufgrund vorhandener oder vermuteter sozialer Nähe ihren Lebenspartner überwiegend innerhalb der eigenen Nationalität. Hier sind die Kontakte stärker ausgeprägt und existiert ein hohes Maß an Vertrautheit mit Sprache und Lebenswelt. Aufschlußreich für die eingewanderte Bevölkerung in Deutschland ist, daß es zwischen den einzelnen Nationalitäten signifikante Differenzen hinsichtlich der Häufigkeit und Akzeptanz von „inter-marriages" gibt. Während bestimmte Nationalitäten auch heute noch nahezu ausschließlich „inner-ethnische" Beziehungen eingehen, überwiegen bei anderen inzwischen Partnerschaften mit deutschen Männern oder Frauen.

[Seite der Druckausgabe: 18]

Tabelle 3: Kinder aus deutsch-ausländischen und rein ausländischen Partnerschaften 1980-1991

Geburten aus deutsch-ausländischen Partnerschaften

Geburten aus ausländischen Partnerschaften


1980

1986

1988

1990

1991

1980

1986

1988

1990

1991

Türken

370

578

639

666

819

14311

9857

13245

15076

15399

ehemalige Jugoslawen

563

437

491

558

611

2290

1028

1155

1642

1917

Italiener

1163

1061

1158

1198

1129

2896

1441

1624

1489

1375

Griechen

279

260

314

324

337

1458

779

854

966

1095

Spanier

381

360

407

447

399

738

305

278

184

174

Quelle: MAGS. Zahlenspiegel Ausländische Arbeitnehmer in Nordrhein-Westfalen.
Eigene Berechnungen. Raumbezug: NRW.

Differenziert man die Daten nach Nationalitäten, läßt sich eine Sonderentwicklung bei türkischen Migranten feststellen. So kamen im Jahr 1991 auf 15.399 Geburten aus Partnerschaften mit zwei türkischen Elternteilen nur 819 Geburten aus deutsch-türkischen Beziehungen. Der Anteil deutsch-türkischer Geburten an allen Geburten liegt also nur bei 5%. Von zwanzig geborenen Kindern stammt nur eines aus einer deutsch-türkischen Ehe, neunzehn haben hingegen einen türkischen Vater und eine türkische Mutter. [Fn. 16: Es muß allerdings hinzugefügt werden, daß die Zahl türkisch-deutscher Geburten aufgrund des hohen Bevölkerungsanteils der Türken rein quantitativ die Zahl der Geburten aus deutsch-griechischen, deutsch-italienischen, deutsch-jugoslawischen und deutsch-spanischen Partnerschaften klar übersteigt.]

Die Zahl der Kinder aus türkisch-deutschen Beziehungen hat sich zwar von 1980 bis 1991 mehr als verdoppelt, bleibt aber marginal im Vergleich zur Zahl der Geburten aus türkisch-türkischen Partnerschaften. Zwar kann die Integration türkischer Einwanderer in den deutschen Arbeitsmarkt und das Wohnumfeld als durchaus erfolgreich bezeichnet werden, im Heiratsverhalten bleiben sie jedoch weitgehend in einem „ethnischen

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Ghetto". Das Gegenbeispiel zur türkischen Bevölkerung sind die in Deutschland lebenden Spanier und Spanierinnen. Standen Türken mit nur 5% binationaler Geburten am unteren Ende der Skala, so liegen die Spanier mit einem Prozentsatz von knapp unter 70% klar an der Spitze. Von 1980 bis 1991 erhöhte sich der Prozentsatz der Geburten aus deutsch-spanischen Beziehungen in Nordrhein-Westfalen von 34% auf 69.9%. In dieser Gruppe gibt es mittlerweile mehr deutsch-spanische Kinder (399) als Kinder aus „rein" spanischen Partnerschaften (174).

Einer der Hauptgründe für die prozentual geringe Anzahl deutsch-türkischer Geburten dürfte der Tatsache der Religionsverschiedenheit zukommen. Auf beiden Seiten scheint es fest verwurzelte Vorbehalte zu geben, religionsverschiedene Partnerschaften einzugehen. Partnerschaften von Deutschen mit anderen Migranten dürften hingegen mehrheitlich konfessionsidentisch sein und werden folglich als weniger problembehaftet perzipiert. Staatsangehörigkeitsrechtlich sind die Unterschiede im Heiratsverhalten von großer Bedeutung. Während Migranten mit türkischer Nationalität diese an ihre Kinder weitergeben, bringen die anderen Anwerbenationalitäten aufgrund des relativ höheren Anteils binationaler Beziehungen häufiger Kinder zur Welt, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen oder ohne Probleme erwerben können.

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4. Zur vorschulischen Erziehung junger Migranten

Nirgendwo wird die Tatsache, daß Deutschland ein Einwanderungsland ist, deutlicher als im Bereich der vorschulischen und schulischen Erziehung. Nicht nur ausländische Arbeitnehmer und Geschäftsleute sind auf diese Weise zu einem integralen Bestandteil unserer Gesellschaft geworden, auch die Kinder der Migranten sind aus den Kindertageseinrichtungen, Schulen und Universitäten nicht mehr wegzudenken. Die Anforderungen an das Bildungssystem im allgemeinen und die hier tätigen pädagogischen Fachkräfte im besonderen haben sich dadurch deutlich erhöht. Die Qualität ihrer Arbeit entscheidet mit darüber, ob die soziale Integration der eingewanderten Bevölkerung gelingt.

Von allen Stufen des Bildungssystems kommt dem Vorschulbereich eine besondere soziale Vorbereitungsfunktion zu. Hier werden die pädagogi-

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schen Weichenstellungen hinsichtlich der Sprach-, Verstehens- und Problemlösungskompetenz gelegt. Stellt schon für deutsche Kinder der Kindergartenbesuch eine wichtige Entwicklungsphase dar, so potenziert sich dessen Bedeutung für ausländische Kinder, die in der Regel aus einem 'bildungsferneren' Sozialumfeld stammen, noch um ein vielfaches. Durch eine qualifizierte Betreuung in Kindertagesstätten können spätere Schwierigkeiten im Bildungsgang und in der Persönlichkeitsentwicklung vielleicht nicht vermieden aber eventuell doch gering gehalten werden. [Fn.17: Zehnbauer, Anne: Ausländerkinder in Kindergarten und Tagesstätten. Eine Bestandsaufnahme zur institutionellen Betreuung von ausländischen Kindern im Vorschulalter (Materialien des Deutschen Jugendinstituts), 1980, München.]

Zwar hat es in den vergangenen Jahren beachtliche Fortschritte in Richtung einer verbesserten vorschulischen Integration von Migrantenkindern gegeben, insgesamt betrachtet ist die Versorgung mit Plätzen in Kindertageseinrichtungen allerdings nach wie vor unzureichend. Während drei von vier deutschen Kindern im Alter von drei bis unter sechs Jahren in Nordrhein-Westfalen eine entsprechende Einrichtung besuchen, gilt dies nur für knapp die Hälfte aller Migrantenkinder.

Tabelle 4: Deutsche und ausländische Kinder in Tageseinrichtungen für Kinder in Nordrhein-Westfalen. Stand: 31.12.1991

3- bis 6jährige Kinder

Wohnbevölkerung NRW

Kinder in Kindergärten

Versorgungsquote in %

deutsche Kinder

498.144

374.406

75,16

ausländische Kinder

80.420

39.287

48,85

insgesamt

578.564

413.693

71,50

Anteil der ausländischen Kinder in %

13,9

9,5


Die Ursachen der defizitären Versorgungslage bei ausländischen Kindern sind komplex und monokausal nicht zu erklären. Sie sind zum einen darin zu finden, daß Migranten überwiegend in Städten leben, in denen generell ein Defizit an Kindertagesstätten besteht. Entgegen einer auch in der

[Seite der Druckausgabe: 21]

Fachöffentlichkeit verbreiteten Auffassung ergab unsere Untersuchung indes keine Belege für die populäre These, der geringere Versorgungsgrad mit Plätzen in Kindertageseinrichtungen liege auch in Befürchtungen ausländischer Eltern vor einer frühzeitigen kulturellen 'Entwurzelung' ihrer Kinder begründet. Im Gegenteil: Ausländischen Eltern ist ebenso wie deutschen Eltern bewußt, daß dem möglichst frühzeitigen Besuch einer Kindertageseinrichtung eine prägende Funktion bei der Entfaltung der geistigen und sozialen Fähigkeiten zukommt. Bereits bei der Repräsentativuntersuchung 1980 der Friedrich-Ebert-Stiftung gaben 92% aller verheirateten Ausländer mit Kindern unter sechs Jahren an, sie würden den Besuch ihres Kindes im Kindergarten begrüßen. [Fn. 18: Repräsentativuntersuchung '80. Situation der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1981.] Unsere Untersuchung bestätigt dieses Ergebnis voll und ganz. In Gesprächen mit Erzieherinnen kann man zudem feststellen, daß sich ausländische genauso wie deutsche Eltern an Elternabenden beteiligen und reges Interesse an der Gesamtpalette vorschulischer Aktivitäten zeigen. Im Unterschied zur 'kulturalistischen' Begründung kann davon ausgegangen werden, daß die defizitäre Versorgungslage ganz wesentlich auf kommunikative und organisatorische Schwierigkeiten ausländischer Eltern hinsichtlich der Anmeldefristen und -formalitäten zurückzuführen ist. Zudem kommt gerade bei ihnen den Kindergartenbeiträgen eine zusätzlich hemmende Bedeutung zu. Auch wird immer wieder von Widerstand deutscher Eltern gegen einen zu hohen Anteil von Migrantenkindern berichtet. [Fn.19: Vgl. Thränhardt, Dietrich u.a. [Anm. 1] S. 170ff.]

Die grundsätzliche Offenheit der Träger, ausländische Kinder aufzunehmen, findet noch immer keine ausreichende Entsprechung in der Bereitschaft, auch ausländische Erzieherinnen und Erzieher einzustellen. Am 31.12.1992 waren in Nordrhein-Westfalen insgesamt 51.112 Kindergärtner und Kindergärtnerinnen beschäftigt. Von diesen waren gerade einmal 832 oder 1.6% ausländischer Herkunft. Die stärkere Öffnung der Elementarpädagogik für ausländische Fachkräfte würde entscheidende Vorteile mit sich bringen. Zum einen könnte dadurch ein neues, bis heute verschlossenes Ausbildungs- und Berufsziel für junge Migranten und Migrantinnen erschlossen werden. Warum etwa sollte heute eine jugendliche Türkin oder Marokkanerin eine Ausbildung zur Erzieherin einschlagen,

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wenn sie weiß, daß sie anschließend deutlich schlechtere Beschäftigungschancen haben wird als ihre deutschen Mitbewerber/innen?

Auch pädagogisch wäre die stärkere Integration von ausländischen Fachkräften oder von Fachkräften mit Migrationshintergrund sinnvoll. Kinder im Vorschulbereich können von den eventuell anderen Erfahrungen der 'ausländischen' Erzieher/innen nur profitieren. [Fn. 20: Diehm, Isabell: Erziehung in der Einwanderungsgesellschaft. Konzeptionelle Überlegungen in einem Frankfurter Projektkindergarten, in: Informationsdienst zur Ausländerarbeit, 1994, Nr. 3/4, S. 91-97.]

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5. Zur schulischen Situation junger Migranten

Die schulische Situation junger Migranten hat sich in den vergangenen Jahren entscheidend verbessert. Immer mehr Jugendliche mit ausländischer Nationalität erwerben weiterführende Schulabschlüsse, immer mehr beenden ihre Ausbildung mit der Hochschulreife. In der Folge dieser Entwicklung hat sich auch die Zahl der ausländischen Studenten in Deutschland erhöht und wurde ein solider Grundstock für die berufliche Aufwärtsmobilität gelegt. Jugendliche Migranten, die sämtliche Stufen des deutschen Bildungssystems von der Einschulung bis zum Ende der Schulpflicht durchlaufen, erreichen heute ebenso häufig den Abschluß wie deutsche Schüler. Innerhalb von 10 Jahren, zwischen den Schuljahren 1983/84 und 1991/92, halbierte sich der Anteil ausländischer Schüler in Nordrhein-Westfalen ohne Hauptschulabschluß von 30.5% auf 15.2%. Mehr als verdoppelt hat sich im gleichen Zeitraum der Prozentanteil von Abiturienten mit ausländischer Nationalität. Er stieg von 1983/84 3.9% auf 9.4% im Schuljahr 1991/92. Gleichwohl bleibt der Abstand zu den deutschen Schülern groß. [Fn.21: Zwar kann die schulische Situation von jugendlichen Migranten in Deutschland und den USA aufgrund der unterschiedlichen Struktur des Ausbildungswesens nur schwer miteinander verglichen werden. Nichtsdestoweniger: die Erfolge der schulischen Integration von Migrantenkindern brauchen den Vergleich nicht zu scheuen. Vgl. zu den USA die aktuelle Veröffentlichung von: Rumbaut, Rubén G./Cornelius, Wayne A.: California's Immigrant Children. Theory, Research, and Implications for Educational Policy, San Diego 1995.] Hier schloß 1991/92 fast ein Drittel (30.2%) ihre schulische Ausbildung mit dem Abitur ab. Zudem zeichnet sich ab, daß

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einige Hauptschulen, insbesondere in Ballungsgebieten, zu 'Ghettoschulen' mit einem überproportional hohen Anteil von Jugendlichen ausländischer Nationalität und einem sich sukzessiv verringernden Anteil deutscher Schüler werden. Unter oftmals schwierigen Bedingungen unterrichten hier Lehrerinnen und Lehrer, die dafür stärker als bisher geschehen die Anerkennung unserer Gesellschaft verdienen.

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6. Die Arbeitsmarktsituation jugendlicher Migranten

Es herrscht weitgehend Einigkeit in der migrationssoziologischen Forschung, daß die gesellschaftliche Integration von Migranten untrennbar mit ihrer Stellung im Arbeitsmarkt verbunden ist. Sichere Arbeitsplätze und ein befriedigendes Einkommen sind die Voraussetzung einer eigenständigen und selbstbewußten Lebensführung. In bezug auf die eingewanderte Bevölkerung ist daher die Frage relevant, ob ihre wirtschaftliche Stellung wie zur Zeit der Anwerbung von der Industriearbeit geprägt ist, oder ob es mit der zunehmenden 'Aufenthaltsdauer' zu einer tendenziellen Angleichung an die Erwerbsstruktur der Deutschen gekommen ist. Und für unseren Zusammenhang besonders wichtig: Können Unterschiede in der Verteilung auf bestimmte Wirtschaftsbereiche und Berufsgruppen zwischen jungen Migranten auf der einen Seite und älteren Migranten auf der anderen Seite festgestellt werden?

Die Unterteilung in Migranten unter 30 Jahre und Migranten über 30 Jahre ist sicherlich zu grob, um präzise Aussagen treffen zu können. Erkennbar ist jedoch nichtsdestoweniger, daß junge Migranten trotz ihrer verbesserten schulischen Ausbildung weiterhin überwiegend in den gleichen Wirtschaftsabteilungen beschäftigt sind, wie ältere Einwanderer. Zwar zeichnet sich eine langsame Zunahme der Beschäftigung im qualifizierten Dienstleistungsbereich ab. Dennoch bleiben auch junge Migranten weitgehend an das produzierende Gewerbe gebunden. Angesichts dieser und auch der Ergebnisse anderer empirischer Untersuchungen, [Fn.22: Vgl. Seifert, Wolfgang: Die Mobilität der Migranten. Die berufliche, ökonomische und soziale Stellung ausländischer Arbeitnehmer in der Bundesrepublik, Berlin 1995; Schultze, Günter: Berufliche Integration türkischer Arbeitnehmer. Vergleich der ersten und zweiten Generation, Bonn 1991.] ist die

[Seite der Druckausgabe: 24]

Tabelle 5: Beschäftigungsfelder von Migranten nach Alter

Ab 30 Jahre

Bis 30 Jahre

Land- und Forstwirtschaft, Fischerei

3.357

1%

1.818

1%

Energiewirtschaft, Wasserversorgung, Bergbau

16.904

5%

6.514

4%

Verarbeitendes Gewerbe

183.718

50%

73.459

48%

Baugewerbe

26.607

7%

9.045

6%

Handel

28.837

8%

16.969

11%

Verkehr, Nachrichtenübermittlung

14.102

4%

6.314

4%

Kreditinstitute und Versicherungsgewerbe

2.052

1%

919

1%

Dienstleistungen, soweit nicht anderweitig genannt

74.472

20%

33.770

22%

Nichterwerbs-Organisationen und priv. Haushalte

5.246

1%

1.748

1%

Gebietskörperschaften, Sozialversicherung

9.753

3%

2.211

1%

Gesamt

365.097

100%

152.822

100%

Quelle: LAA NRW, Inf. zum Arbeitsmarkt 1992. Ergänzungen zu 15/1991. Raumbezug: NRW.

Auffassung der Bundesregierung, die von einem Angleichungsprozeß der Erwerbssituation an deutsche Verhältnisse ausgeht, verfehlt. In einer amtlichen Veröffentlichung heißt es: „Insbesondere die zweite Generation der zumeist hier geborenen Ausländer, die einen maßgeblichen Anteil an dem im letzten Jahrzehnt zu verzeichnenden Zuwachs des ausländischen Erwerbspotentials haben, dürfte sich auch sonst in ihren wirtschaftlichen Lebensgewohnheiten nicht mehr wesentlich von vergleichbaren Deutschen unterscheiden." [Fn.23: Bundesministerium des Innern 1993: Aufzeichnung zur Ausländerpolitik und zum Ausländerrecht in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, S. 8.] Zu diesem Ergebnis kann meines Erachtens nicht kom-

[Seite der Druckausgabe: 25]

men, wer sich gewissenhaft um eine realistische Einschätzung der wirtschaftlichen Situation von hier lebenden Einwanderern und ihren Kindern bemüht.

Es muß allerdings betont werden, daß die Bundesrepublik hinsichtlich der - erschreckend hohen - Quote arbeitsloser junger Migranten international eine bemerkenswerte Sonderstellung einnimmt. Während Deutschland 1993 eine Arbeitslosenquote von 14.1% bei ausländischen Migranten zwischen 15-24 Jahren aufwies, waren die entsprechenden Werte in anderen OECD-Staaten im Durchschnitt fast doppelt so hoch (Frankreich 32.2%, Großbritannien 26.0%, Niederlande 25.4%). [ Fn.24: Vgl. OECD. SOPEMI, 1995, Paris, S. 32f.] Diese Daten geben jedoch keineswegs Anlaß zur Beruhigung; zwischen 1990 (7.5%) und 1993 (14.1%) hat sich die Arbeitslosenquote jugendlicher Migranten in Deutschland fast verdoppelt.

Abschließend sei darauf hingewiesen, daß hier nur wenige Aspekte der Lebenslage junger Migranten beleuchtet werden konnten. Insgesamt betrachtet lassen sich zwar beachtenswerte integrative Fortschritte feststellen; der Abstand zur deutschen Bevölkerung im Bildungs- und Beschäftigungsbereich ist jedoch auch 40 Jahre nach Abschluß des ersten Anwerbeabkommens weiterhin groß. Durch politische Entscheidungen läßt sich wirtschaftliche Aufwärtsmobilität nur schwer herstellen. Gesellschaft und Staat können jedoch dafür sorgen, daß nicht auch noch die Migranten der „Vierten Generation" Ausländer bleiben.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2000

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