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Wolfgang Streeck
Industrielle Beziehungen in einer internationalisierten Wirtschaft


Die Frage nach den Auswirkungen der Internationalisierung der Wirtschaft auf die Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern berührt nicht nur eine kaum überschaubare Vielfalt von Einzelthemen, sondern ist auch eminent politischer Art: Bei ihr geht es um Zukunft kaum weniger als um Gegenwart, und um praktische Möglichkeiten ebenso wie um beobachtbare Tatsachen - deren Deutung deshalb nur allzu leicht unter das Diktat des jeweils für wünschbar Gehaltenen gerät. Davon, wie die Frage beantwortet wird, hängen faktische Realisierungschancen und normative Legitimität von fundamentalen Interessen und Verteilungsansprüchen ab. Im übrigen betrifft sie nicht nur die Rolle der Gewerkschaften, sondern gleichermaßen und zusammen mit ihr den zukünftigen Status der bestimmenden politischen Organisationsform des 20. Jahrhunderts, des Nationalstaats, in den alle bestehenden Systeme industrieller Beziehungen fest eingebettet sind.

Was die gewerkschaftlich-sozialdemokratische oder im weitesten Sinne „linke" Diskussion der Konsequenzen der Internationalisierung angeht, so findet diese vor allem vor dem Hintergrund einer radikalen Herausforderung durch ein neu erstarktes marktwirtschaftliches Lager in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik statt, das die „Globalisierung" der Wirtschaft als dramatischen Einschnitt darstellt und als einzig mögliche Reaktion eine ebenso dramatische Befreiung des Marktes und der „Marktkräfte" von politischer und institutioneller Regulierung proklamiert, verlangt und in Angriff nimmt. Nun sind liberale Forderungen nach Wiedereinsetzung des Marktes alles andere als neu - was bei vielen den Verdacht fördert, daß wirtschaftliche Internationalisierung nur als neue Rechtfertigung für die Verfolgung alter Interessen vorgeschoben werde bzw. die Tatsache als solche entweder übertrieben oder gar gänzlich erfunden sei. Ebensowenig neu ist auch die Behauptung, daß freie Märkte nicht nur die effizientesten, sondern zugleich und eo ipso auch die sozial gerechtesten Allokationsmechanismen seien, weshalb Deregulierung allen nutze, ein-

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schließlich denjenigen, die durch Regulierung geschützt werden sollten. Neu ist jedoch, daß das liberale Lager heute zunehmend die von ihm schon immer unterstellte, technische und normative Ineffizienz regulativer Eingriffe in den Markt auf ihren nationalen Charakter zurückführt: Politische Interventionen in den Markt müssen angeblich zu suboptimaler Faktorallokation (Wachstumsverluste und Rückgang der internationalen Wettbewerbsfähigkeit von Firmen, die auf dem nationalen Territorium produzieren) sowie zu sozialer Ungerechtigkeit (hohe Dauerarbeitslosigkeit mit wachsender Ungleichheit zwischen Arbeitslosen und „Arbeitsplatzbesitzern") führen, weil sie in ihrer Reichweite national begrenzt seien, während die von ihnen adressierten Wirtschaftssubjekte zunehmend international agierten und sich deshalb nationalstaatlicher Regulierung notfalls zum Schaden der jeweiligen nationalen Volkswirtschaft entziehen könnten.

Soweit ich sehen kann, gibt es auf die neoliberale Sicht der faktischen und praktischen Konsequenzen wirtschaftlicher Internationalisierung grundsätzlich zwei sozialdemokratisch-gewerkschaftliche Antworten, eine pessimistische und eine optimistische, von denen sich jede auf sie bestätigende Sachverhalte und Beispiele stützen kann. [Fn1: Eine dritte, vor allem in einigen Traditionszirkeln des ehemaligen „linken Flügels" verbreitete Reaktion besteht darin, die neuen Verhältnisse zur demagogisch-ideologischen Mystifikation „der Henkels und Lambsdorffs" zu erklären und ihnen damit ihre Realität abzusprechen. Gefördert wird diese Mißdeutung durch die Art, in der die Genannten „die Globalisierung" als eine Art von diktatfähiger Überperson darstellen, der es darum geht, tagespolitische Kleinprojekte wie die Kürzung der Lohnfortzahlung auf 80% durchzudrücken. Freilich kann dies linke Tendenzen zur Rea litätsverleugnung, die im übrigen interessante Berührungspunkte mit der sozialdemokratischen „Weiter so"-Modernisierungsposition aufweisen, lediglich erklären, keinesfalls aber entschuldigen.]
Die pessimistische Variante, deren Problem unter anderem darin liegt, daß sie programmatisch und strategisch unergiebig ist, stellt ebenso wie der Neoliberalismus ein wachsendes Mißverhältnis zwischen der tendenziell globalen Ausdehnung der Märkte und der nach wie vor nationalen Gebundenheit politischer Institutionen fest. Was der Neoliberalismus jedoch als Therapie fordert, konstatiert sie als Tatsache: nämlich daß die kapitalistische Ökonomie auf dem Weg sei, sich der ohnehin nur partiellen sozialen und politischen Kontrolle, wie sie mindestens für ein paar Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg bestanden hatte, zu entziehen, und zwar anscheinend irreversibel.

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Die Folge sei eine zunehmende „Vermarktung", „Kommodifizierung", „Ökonomisierung" usw. von Lebenssphären, die bislang vom Diktat der Marktkräfte mindestens teilweise ausgenommen waren. Dies wiederum führe dazu, daß soziale Standards („soziale Bürgerrechte"), die bisher Ansprüche breiter Massen auf Lebensverhältnisse oberhalb dessen gesichert haben, was „der Markt" ihnen zuteilen würde, unter dem Druck zunehmenden wirtschaftlichen Wettbewerbs ebenso zusammenbrechen müßten wie die Institutionen und Organisationen - insbesondere Tarifverhandlungen und Gewerkschaften -, die derartige Standards bisher gegen den Markt durchgesetzt haben. Letztendliche Konsequenz der von der Internationalisierung der Wirtschaft bewirkten Wiederingangsetzung der von Polanyi so genannten „Satansmühle des Marktes" ist damit, was mit dem Schlagwort des „social dumping" bezeichnet wird: die kompetitive Deregulierung nationaler politisch-ökonomischer Regime mit der Folge eines allgemeinen Verlusts an sozialer Sicherheit, eines für eine wachsende Zahl von Menschen sinkenden Lebensstandards, eines Zerfall der sozialen Kohäsion, zunehmender Ungleichheit usw.

Die optimistische sozialdemokratische Antwort auf die Herausforderung der Internationalisierung - die, soweit ich sehe, zunehmend die Mehrheitsposition darstellt - sucht dagegen Anschluß an das, was gelegentlich als „liberaler" oder „OECD-Konsens" bezeichnet wird: die weithin geteilte Überzeugung, daß die Internationalisierung der Produkt- und Faktormärkte nicht nur unaufhaltsam, sondern auch zum Nutzen aller und deshalb aktiv zu fördern sei. „Protektionismus" wird als unrealistisch, unklug und unethisch zugleich zurückgewiesen (er sei nicht möglich; selbst wenn er möglich wäre, würde er mehr schaden als nützen; selbst wenn er uns nützte, würde er Schwächeren schaden). [Fn 2: Auch diejenigen, die als Folge von Internationalisierung „social dumping" erwarten, haben in der Regel keine protektionistische Alternative zum Freihandel. Daß etwas ohne Alternative, aber dennoch womöglich verhängnisvoll sein kann, ist freilich eine Prämisse, die auch dann kaum politisch programmfähig ist, wenn sie faktisch zutrifft. Die Kunst der politischen Programmatik besteht nicht zuletzt darin, sich und andere davon zu überzeugen, daß das, was man nicht ändern kann, auch wünschenswert ist.]
Zweifeln an der Sozialverträglichkeit von Freihandel wird durch Verweis auf die Zwischenkriegszeit begegnet, in der wirtschaftlicher Nationalismus zur Weltwirtschaftskrise und letztlich zum Zweiten Weltkrieg gerührt habe, bzw.

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auf den Umstand, daß sie von populistisch-nationalistischen Bewegungen wie denen Le Pens oder Buchanans geteilt werden. Auf diese Weise kann die demokratisch-internationalistische Tradition der Sozialdemokratie deren Anschlußfähigkeit an den wirtschaftlichen Liberalismus sichern helfen [Fn 3: Zwischenkriegszeit und Faschismus spielen im Weltbild der Pessimisten ebenfalls eine wichtige Rolle. Für sie erklärt sich das Zerbrechen der liberalen Demokratie und der internationalen Stabilität in den dreißiger Jahren weitgehend dadurch, daß die damaligen Nationalstaaten in einer bereits weitgehend internationalisierten Wirt schaft auf sich gestellt den Forderungen ihrer Bürger nach Sicherung sozialer Mindeststandards nicht genügen konnten und deshalb radikalen demagogischen Bewegungen in die Hände fielen, die nationalistische, international aggressive Scheinlösungen anboten.]

Worin sich die „sozial-liberale" Position von der neoliberalen unterscheidet und was ihren besonderen Charakter ausmacht, ist ihre ganz andersartige Einschätzung der Rolle nationaler Politik. Im Mittelpunkt des sozialdemokratischen Globalisierungsoptimismus steht die Vermutung, daß nationale wirtschaftspolitische Interventionen in einer internationalisierten Ökonomie die Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Volkswirtschaft erhöhen können, und zwar sowohl vermittels infrastrukturbildender Industriepolitik als auch durch eine den sozialen Ausgleich sichernde Sozialpolitik („sozialer Friede als Produktionsfaktor"). Kompetitive Deregulierung wird durch Verweis auf eine postulierte wirtschaftliche Überlegenheit von nationalen Systemen für unwahrscheinlich erklärt, die den auf ihrem Territorium produzierenden Unternehmen eine leistungsfähige Infrastruktur und zufriedene und deshalb kooperationsbereite Arbeitskräfte zur Verfügung stellen. Beides erfordere politische Interventionen, von Forschungs- und Technologie- über Bildungs-, Arbeitsmarkt- und soziale Sicherungspolitik bis hin zur Gewährleistung effektiver Partizipationsmöglichkeiten am Arbeitsplatz. Statt „social dumping" und ein Thatcheristisches Disengagement der Politik von der Ökonomie zu erzwingen, prämiierten die neuen Wettbewerbsbedingungen eine „modernisierende" Wirtschafts- und Sozialpolitik, wie sie am ehesten von - selbstverständlich undogmatischen - Sozialdemokraten betrieben werden könne. Gleichermaßen verlangten die neuen Wettbewerbsbedingungen Systeme industrieller Beziehungen, in denen starke Gewerkschaften und Betriebsräte

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für einen wirksamen und für die Arbeitnehmer als fair akzeptablen Interessenausgleich sorgen.

Allerdings gilt die Erwartung, daß internationaler Wettbewerb die Rolle nationaler Politik, einschließlich nationaler Sozialpolitik, eher stärkt als beeinträchtigt, anscheinend nicht unter allen Umständen. Auf der einen Seite geht der sozialdemokratische Modernisierungsoptimismus davon aus, daß eine soziale Gestaltung der Arbeits- und Lebensbedingungen durch nationalstaatliche Politik der Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft zuträglich und deshalb nicht nur weiterhin politisch möglich, sondern sogar wirtschaftlich „nötig" sei. Andererseits und zugleich jedoch wird darauf insistiert, daß in der internationalisierten Wirtschaft nicht Nationalstaaten, sondern allein Unternehmen konkurrierten. Charakteristisch offen bleibt dabei, ob dies als Zustandsbeschreibung oder als Zielvorstellung gemeint sein soll. Dies ist deshalb alles andere als bedeutungslos, weil sowohl die Neoliberalen als auch die „social dumping"-Pessimisten unterstellen, daß eine Trennung von wirtschaftlichem und „System-Wettbewerb" wegen der gestiegenen internationalen Mobilität der Produktionsfaktoren unmöglich geworden sei - wobei die ersteren in diesem behaupteten Sachverhalt das wichtigste Vehikel der von ihnen herbeigewünschten Deregulierung sehen, während derselbe Sachverhalt für die letzteren eine unvermeidliche Folge jenes Zurückbleibens der sozialen Institutionen hinter der Expansion des Marktes darstellt, auf das die von ihnen befürchtete allgemeine Senkung der sozialen Standards letztlich zurückgeht.

Der Mechanismus, der im Weltbild der sozialdemokratischen „Modernisierer" zwischenstaatlichen Systemwettbewerb - und mit ihm die Unterminierung nationaler Politikfähigkeit - verhindert bzw. verhindern soll, ist internationale Kooperation. Auch hier sind die Unterschiede zu den beiden anderen Positionen auffallend. Diejenigen, die als Folge wirtschaftlicher Internationalisierung einen Abbau des Sozialstaats erwarten, trauen der Kooperation zwischen nach wie vor souveränen Einzelstaaten nicht zu, einen institutionellen Systemwettbewerb und ein „race to the bottom" auszuschließen; in ihrer Analyse der internationalen Politik betonen sie deshalb das Ausbleiben supranationaler Integration und die damit verewigte Fragmentierung politischer Souveränität gegenüber einer zunehmend integrierten Ökonomie. Die Neoliberalen teilen diese Einschätzung im Prinzip, begrüßen den in ihr unterstellten Zusammenhang jedoch, weil

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supranationale Integration für sie auf die Restauration eines staatlichen regulativen Monopols hinausliefe, das (erneut) zu Marktverzerrungen führen müßte. Supranationale Staatenbildung wird von ihnen deshalb im Namen eines „gesunden" Wettbewerbs nationaler Institutionen und Politiken im internationalen Markt, und hilfsweise im Namen der Verteidigung kultureller Vielfalt, nationaler Traditionen und politischer Demokratie sowie dem von Dezentralisierung, „Subsidiarität", Entbürokratisierung usw. abgelehnt. Als überlegene Alternative werden Kooperation und Koordination zwischen unabhängigen Nationalstaaten vorgesehen, insbesondere dann, wenn deren mögliche Resultate institutionell auf eine gemeinsam betriebene weitere Öffnung internationaler Märkte festgelegt werden können.

Bezeichnend für die Position der sozialdemokratischen „Modernisierer" ist nun, daß sie die Unrealisierbarkeit supranationaler Staatsbildung, nicht zuletzt wegen des liberal-konservativen Widerstands, mehr oder weniger explizit zur Kenntnis nimmt und sich als Konsequenz die liberalen Werte nationaler „Vielfalt" und politischer Dezentralisierung vorsichtshalber ebenso zu eigen macht wie die des Freihandels. Zugleich jedoch verspricht die sozialdemokratische Modernisierungsstrategie sich und anderen den Fortbestand des Interventions- und Wohlfahrtsstaates auf nationaler Ebene, falls dieser aus irgendwelchen Gründen trotz seiner grundsätzlichen ökonomischen Funktionalität doch unter internationalen Deregulierungsdruck geraten sollte, mit Hilfe eben jener Kooperation zwischen souveränen Nationalstaaten zu verteidigen, die die „social dumping"-Pessimisten für prinzipiell ungeeignet halten. Systemwettbewerb zu verhindern, und die die Neoliberalen gar als Vehikel der Markterweiterung und Deregulierung auserkoren haben. Zugespitzt formuliert soll also im neo-sozialdemokratischen Weltbild internationale Kooperation, als Alternative zu Protektionismus, supranationaler Integration und Deregulierung zugleich, den nationalen Interventionsstaat dadurch absichern, daß die beteiligten Staaten einerseits auf „Systemwettbewerb" verzichten, um sich andererseits gegenseitig in die Lage zu versetzen, ihrer jeweiligen heimischen Wirtschaft durch nationale Sozial- und Industriepolitik internationale Wettbewerbsvorteile auf hohem sozialen Niveau zu verschaffen.

Im folgenden werde ich mich weder der „social dumping"-These noch dem sozialdemokratischen Modernisierungsoptimismus, und diesem schon gar nicht, anschließen. Viele der geläufigen Formulierungen des linken Inter-

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nationalisierungspessimismus unterschätzen die „Trägheit" politischer Institutionen und damit die Dauer und Komplexität des zu erwartenden Erosionsprozesses. Sie werden insbesondere der wichtigen Tatsache nicht gerecht, daß dieser in verschiedenen Ländern aufgrund unterschiedlicher institutioneller Bedingungen jeweils anders verlaufen kann und keineswegs notwendig zu internationaler Konvergenz führen muß. Die optimistische sozialdemokratische Perspektive dagegen leidet darunter, daß sie die politische Tragweite der eingetretenen Veränderungen des weltwirtschaftlichen Umfelds nationaler Politik herunterspielt (zum Teil um ihrer Anschlußfähigkeit an den „liberalen Konsens" willen und zum Teil, um sich selbst nicht von der ihr allein möglich erscheinenden Praxis auszuschließen); daß sie die Unentbehrlichkeit einer intakten sozialen Infrastruktur für die Profitabilität eines „shareholder value"-Kapitalismus überschätzt;

daß sie die Möglichkeiten internationaler Kooperation zur Verhinderung eines politischen und sozialen Systemwettbewerbs viel zu hoch veranschlagt, zumal sie zugleich selbst ihre Hoffnung auf eine Politik der Steigerung der nationalen Wettbewerbsfähigkeit setzt; und daß sie allgemein die revolutionären Auswirkungen des längst in Gang befindlichen Systemwettbewerbs auf das in der Nachkriegsphase etablierte Verhältnis von Wirtschaft und Politik fundamental unterschätzt.

Ich beginne mit einigen kurzen, thesenhaften Darlegungen zum Verhältnis von wirtschaftlicher Internationalisierung und nationalen politischen Institutionen. Danach wende ich mich den Auswirkungen von Internationalisierung auf die industriellen Beziehungen zu, und zwar zunächst auf nationaler und anschließend auf supranationaler Ebene.

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Wirtschaftliche Internationalisierung und nationale Politik

Sowohl die auf Deregulierung drängenden Neoliberalen als auch die um die Zukunft des regulierten Kapitalismus fürchtende Linke haben sich mitunter dazu verleiten lassen, die Internationalisierung der Wirtschaft als einen kürzlich eingetretenen radikalen Epochenbruch zu beschreiben. Dies hat verschiedenen „Stimmen der Vernunft", aber auch denen, die darauf bestehen, daß sich in Wahrheit überhaupt nichts geändert hat, eine Diskursnische für Einwände gegen eine von ihnen katastrophentheoretisch zurechtstilisierte sogenannte „Globalisierungsthese" geöffnet.

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(1) So kann in der Tat kein Zweifel bestehen, daß Handel und Finanzen schon im 19. Jahrhundert und in Phasen der Zwischenkriegszeit in hohem Maße internationalisiert waren, und daß die entsprechenden quantitativen Indikatoren heute zumindest auf den ersten Blick nicht dramatisch höher sind als damals.

(2) Ebenso fraglos trifft es zu, daß die Internationalisierung der Wirtschaft sich nicht in erster Linie als Globalisierung, sondern als Regionalisierung innerhalb der drei Weltregionen Amerika, Asien und Westeuropa entwickelt. Dies läßt sich daran ablesen, daß Handel und Auslandsinvestitionen immer noch zum größten Teil zwischen den entwickelten Ländern bzw. innerhalb ihrer drei regionalen Blöcke stattfinden. Für Deutschland bedeutet dies unter anderem, daß die Billiglohnkonkurrenz aus dem früheren Ostblock oder den ostasiatischen Ländern quantitativ (noch) keine große Rolle spielt.

(3) Ferner gilt, daß die Internationalisierung der Wirtschaft, was immer man unter ihr verstehen mag, jedenfalls bis jetzt keineswegs zu einer internationalen Angleichung des Niveaus der Sozialausgaben oder der Struktur der Systeme sozialer Sicherung oder industrieller Beziehungen geführt hat. Es gibt auch kaum Anzeichen, daß dies in nächster Zeit der Fall sein wird.

(4) Unbestreitbar ist auch, daß Erfolge im Welthandel zumindest in der Vergangenheit nicht unbedingt von einem niedrigen Niveau sozialer Sicherung abhingen. Lange Zeit gewährten im Gegenteil die im Weltmarkt erfolgreichsten Länder, sieht man von Japan ab, sehr hohe staatliche Sozialleistungen (Deutschland, Schweden usw.), während notorische Dauerverlierer im internationalen Wettbewerb, wie Großbritannien und vor allem die USA, nur mittlere oder gar sehr niedrige Soziallasten zu tragen hatten.

(5) Gleichfalls empirisch belegbar ist, daß die Arbeitskosten nicht der einzige ausschlaggebende Faktor bei der Standortwahl multinationaler Unternehmen sind. Die jeweilige örtliche Infrastruktur und die durch sie ermöglichten Produktivitätssteigerungen erscheinen ebenso wichtig wie die Notwendigkeit, durch Produktion nah am Absatzmarkt auf wechselnde Kundenwünsche reagieren zu können oder Handelsschranken und Währungsschwankungen zu vermeiden.

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(6) Schließlich läßt sich überzeugend darlegen, daß auch noch so „deregulierte" Märkte Regeln benötigen, um funktionieren zu können. Das hat zur Folge, daß die Befreiung von Märkten aus sie bisher beschränkenden Regeln typischerweise von neuerlicher Regelproduktion begleitet wird, die Liberalisierung der Weltwirtschaft also in bestimmter Hinsicht durchaus mit einem Zuwachs an Regulierungstätigkeit - siehe die World Trade Organization oder die Europäische Union - zusammenfällt.

Aus alledem zu schließen, daß im Grunde alles beim Alten geblieben sei, wäre jedoch ein Fehler. Die wirtschaftliche und soziale Handlungsfähigkeit nationaler Politik und die Funktionsweise nationaler industrieller Beziehungen hängen von den Machtverhältnissen zwischen den sozialen Gruppen sowie davon ab, inwieweit diese bei der Verfolgung ihrer Interessen auf staatliche Regulierungsleistungen sozialer, technologischer oder anderer Art angewiesen sind. Beides muß sich ändern, wenn die grenzüberschreitende Mobilität der als Partikularinteressen agierenden Produktionsfaktoren asymmetrisch zunimmt, in dem Maße, wie die Möglichkeiten des Kapitals wachsen, aus nationalen Zusammenhängen bei Nichtgefallen auszutreten, schwinden die Möglichkeiten der Organisationen der weniger mobilen Arbeit, ebenso wie die Möglichkeiten von auf nationaler Basis konstituierten korporatistischen und staatlichen Institutionen, dem Kapital Bedingungen für die Kooperation der Gesellschaft mit seinen Gewinninteressen aufzuerlegen. Damit verändern sich die politischen „terms of trade" innerhalb jedes der beteiligten nationalen Systeme, und zwar auch dann, wenn im Ergebnis keinerlei Kapitalmigration ins Ausland stattfindet; letzteres läge dann daran, daß Arbeitnehmerorganisationen und Regierungen die veränderten Machtverhältnisse, die in dem säkularen Anstieg der Kapitalrenditen und dem Zurückbleiben der Reallöhne hinter diesen ihren zahlenmäßigen Ausdruck finden, realistisch anerkannt und auf sie mit vorbeugenden Konzessionen reagiert hätten.

Daß die potentielle internationale Mobilität des Kapitals in den letzten zwei Jahrzehnten erheblich gestiegen ist, hat strukturelle ebenso wie institutionelle Gründe. Bei diesen handelt es sich sowohl um eine Beschleunigung und Kumulation seit langem wirksamer gradueller Entwicklungen als auch um politische Ereignisse oder technologische Durchbrüche, die den ihnen vorausgegangenen graduellen Wandel ratifiziert und beschleunigt haben. Wichtiger noch als der, ebenfalls dramatisch gewachsene,

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Wettbewerb auf den zunehmend internationalisierten Gütermärkten erscheint dabei die Internationalisierung des Kapitalmarkts, der arbeitsteiligen Produktionssysteme und der Unternehmen, die unter anderem durch technologischen Wandel, vor allem die Digitalisierung der Produktions- und Informationssysteme, ermöglicht und erzwungen wurde. Dabei haben vor allem die Fortschritte in der Logistik und Kommunikationstechnik eine bis vor kurzem undenkbare internationale Ausbreitung und Koordination von Investitionen, Produktionsstätten und Aufträgen möglich gemacht, deren offenkundige wirtschaftliche Vorteile die Nationalstaaten gezwungen haben, ihre Grenzen mehr als je zuvor für Kapital-, Auftrags- und Handelsströme zu öffnen.

Daß sie dabei eine Wahl hatten, kann schon deshalb bezweifelt werden, weil spätestens mit der Auflösung des internationalen Wirtschaftsregimes von Bretton Woods die Möglichkeit der Nachkriegsperiode verschwunden war, Wirtschaftspolitik in einer internationalisierten Wirtschaft als nationale Politik zu betreiben. Im Mittelpunkt der von Bretton Woods konzipierten weltwirtschaftlichen Ordnung hatte eine Organisation des internationalen Währungs- und Finanzwesens gestanden, die den beteiligten Nationalstaaten unter der hegemonialen Führung der USA ein hohes Maß an gegenseitig gestützter Handlungsfähigkeit bei der Steuerung ihrer Wirtschaft verschafft hatte. Dabei kam den Nationalstaaten die Aufgabe zu, jeweils nach innen die Bedingungen für die Einhaltung dessen zu sichern, was später summarisch als Nachkriegskompromiß zwischen Kapital und Arbeit bezeichnet wurde. Hauptgegenstand dieses Sozialvertrags war eine politische Vollbeschäftigungsgarantie. Das den Nationalstaaten zu deren Einlösung verfügbare Instrumentarium bestand vor allem in einer antizyklischen Keynesianischen Wirtschaftspolitik nach innen, die nach außen in ein kooperatives Freihandels- und Währungsregime eingebettet war, das von den USA als der stärksten politischen und wirtschaftlichen Macht garantiert wurde (ein System, das John Ruggie treffend als „embedded liberalism" bezeichnet hat).

Das Nachkriegssystem international koordinierter nationaler Vollbeschäftigungspolitiken war darauf abgestellt, den Nationalstaaten um ihrer internen sozialen Kohäsion und politischen Stabilität willen zu ermöglichen, ein Mindestniveau an sozialer Gleichheit und materieller Versorgung - in anderen Worten, an sozialen Bürgerrechten - aus dem natio-

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nalen und internationalen wirtschaftlichen Wettbewerb herauszunehmen. Auf diese Weise wurden Marktwirtschaft, Freihandel, Demokratie und Sozialstaatlichkeit erstmals miteinander vereinbar, und (sozialdemokratische Politik war in der Lage, den Wählern in den Gesellschaften des Westens jenen Schutz vor den Wirrnissen des Weltmarktes zu sichern, den ihnen die Extremisten der Zwischenkriegsjahre demagogisch versprochen hatten und den die Liberalen heute erneut für unnötig oder zu kostspielig erklären.

Mit dem Zerfall der Institutionen von Bretton Woods ist jedoch die wohlwollende internationale Umgebung untergegangen, die nationale Keynesianische Politik benötigt, um mehr Nutzen als Schaden zu stiften. Heute ist vieles von dem, was innerhalb der Grenzen eines Landes geschieht, unmittelbar abhängig von Ereignissen, die außerhalb des Landes stattfinden und mit innenpolitischen Mitteln nicht zu steuern sind. An die Stelle der im Nachkriegssystem gewährleisteten internationalen Absicherung nationaler Vollbeschäftigungs- und Sozialpolitik tritt damit ein vorher nie erreichtes Maß an ungeregelter internationaler Interdependenz, die nationale Institutionen und Politiken in noch vor wenigen Jahren unvorstellbarer Weise dem internationalen Wettbewerb aussetzt.

Die Obsoleszenz der nach dem Krieg im Zuge der innen- und außenpolitischen Domestizierung des Nationalstaats zeitweise wiederhergestellten nationalen Grenzen und die erhöhte wirtschaftliche, technologische und institutionelle Mobilität des Kapitals sind nicht mehr rückgängig zu machen. Verhältnisse, die bis vor kurzem noch als mehr oder weniger statisch und gegeben behandelt werden konnten, sind damit dynamisch und kontingent geworden. Nicht nur die Nachfrage, sondern auch das Angebot kann heute aus einem nationalen Kontext in einen anderen abwandern. Der Nationalstaat und die von ihm als Wählerschaft vertretenen Arbeitnehmer können auf „ihr" Kapital - auf Investitionen, Fertigungsstätten und Produktionsaufträge - weniger zählen als je zuvor; sie müssen sich vielmehr aktiv um diese bemühen. Einige der Folgen für die nationale Politik sind schon heute weithin sichtbar; insgesamt laufen sie auf eine Entwicklung hinaus, die sich plakativ als Transformation des Sozialstaats der Nachkriegszeit in einen Wettbewerbsstaat beschreiben läßt:

(1) Mit wachsender Mobilität des Kapitals geht die Fähigkeit nationaler Politik verloren. Unternehmen und Anlegern soziale Verpflichtungen

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aufzuerlegen, die diese von sich aus nicht eingegangen wären. An ihre Stelle treten Anreize, etwa zum Aufbau oder zur Weiterführung von Produktionsstätten, die geeignet sein müssen, kooperatives Verhalten aus Selbstinteresse zu motivieren. Damit verschiebt sich der Schwerpunkt staatlicher Politik von der Ausübung hoheitlicher Gewalt im Namen eines demokratischen Volkswillens zur dienstleistungsartigen Schaffung von günstigen Bedingungen für unternehmerisches Handeln, die für die Unternehmen attraktiver sein müssen als das, was ihnen in anderen Staaten geboten wird.

(2) Als Resultat des zwischenstaatlichen Wettbewerbs um die Gunst international mobiler Anleger nimmt die Besteuerbarkeit des Kapitals ab. Sichtbarer Ausdruck hiervon sind die in allen westlichen Ländern zu beobachtenden Bestrebungen, durch Steuer- und Beitragsreformen die Unternehmen und Arbeitgeber „finanziell zu entlasten". Die Folge ist, daß öffentliche Ausgaben für Infrastruktur und soziale Sicherung zunehmend allein von den Konsumenten und Arbeitnehmern finanziert werden müssen, während das immer vagabundierfähigere Kapital von Solidaritätspflichten noch mehr als in der Vergangenheit freigestellt wird.

(3) Sozialpolitik muß sich zunehmend durch ihren Beitrag zur nationalen Wettbewerbsfähigkeit rechtfertigen. Insoweit als eins ihrer Ziele darin besteht, den Unterschied zwischen Gewinnern und Verlierern im Markt zu verringern, muß sie zeigen können, daß dies die Produktivität der nationalen Wirtschaft erhöht oder doch nicht beeinträchtigt. Die Fortführung des Sozialstaats bzw. seine nur graduelle Zurückschneidung lassen sich darüber hinaus mit Hinweis auf andernfalls zu erwartende soziale Konflikte verteidigen, die der nationalen Wettbewerbsfähigkeit ebenfalls abträglich wären. Die bei Konflikten absehbaren Produktions- und Produktivitätsverluste müssen allerdings größer sein als die von Kürzungen zu erwartenden Kostenentlastungen. Hinzu kommt, daß bei wachsender Konfliktintensität die Kosten eines Überwechselns in einen anderen nationalen Kontext für die Unternehmen zunehmend akzeptabel werden.

(4) Auch der Staat selber - seine Effizienz und Effektivität - wird zum Wettbewerbsfaktor. Staaten, die in eine internationale Marktwirtschaft eingebettet sind, stehen unter dem Druck, „schlank" zu werden - unter anderem, um die Besteuerung des auf ihrem Boden produzierenden Kapitals zurücknehmen zu können. Eine wichtige Konsequenz ist, daß der Staats-

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apparat immer weniger als Ort sozial regulierter, gegen den Markt abgeschotteter und damit sicherer Beschäftigung zur Verfügung steht. Dies gilt insbesondere für diejenigen seiner Teile, die im Zuge der vom Wettbewerb erzwungenen Rationalisierung des Staates in den privaten Sektor entlassen werden; danach stehen sie als Instrumente einer verdeckten Sozialpolitik nicht mehr zur Verfügung. Damit wachsen die Lasten, die von der eigentlichen Sozialpolitik getragen werden müssen, und zwar zu einem Zeitpunkt, zu dem die für diese mobilisierbaren Ressourcen zurückgehen.

(5) Derselbe Effekt geht von dem Umstand aus, daß der internationale Wettbewerbsdruck auf staatliche Politik die Nationalstaaten dazu zwingt, Haushaltsdefizite zu verringern, Schulden abzubauen und der Inflationsbekämpfung größere Bedeutung zuzumessen als dem Abbau von Arbeitslosigkeit. Die im Vertrag von Maastricht niedergelegten Kriterien zur Beteiligung an der Europäischen Währungsunion ratifizieren diese Entwicklung; es ist deshalb kein Zufall, daß der Vertrag es den Staaten nicht verbietet, ihre Austeritätsziele auf Kosten des Beschäftigungsniveaus anzustreben. Regierungen von Nationalstaaten, deren Volkswirtschaften in einen internationalen Kapitalmarkt integriert sind, haben grundsätzlich zwei constituencies, ihre Wählerschaft und die „Märkte". Letztere stimmen täglich und öffentlichkeitswirksam darüber ab, ob die Wirtschafts- und Finanzpolitik eines Landes „Vertrauen" verdient. Negativ beantwortet wird diese Frage immer dann, wenn auch nur der Verdacht aufkommen kann, daß eine Regierung bereit sein könnte, zugunsten von Zielen wie Vollbeschäftigung oder sozialer Gerechtigkeit den öffentlichen Haushalt auszuweiten oder Geldwertverluste in Kauf zu nehmen. Insoweit als die von den internationalen Kapitalmärkten diktierte Politik des „sound money" Beschäftigung kostet, nehmen auch hier die Belastungen der nationalen Systeme sozialer Sicherung zum selben Zeitpunkt und aus denselben Gründen zu, wie die für sie verfügbaren Mittel schwinden.

(6) Wichtigstes Mittel der Staaten im Wettbewerb um Kapital ist der Aufbau einer produktivitätssteigernden Infrastruktur. Dies gilt vor allem für Länder, deren Regierungen ein hohes und ausgeglichenes Niveau von Löhnen und Einkommen anstreben und auf eine sozial- und umweltverträgliche Regulierung der auf ihrem Boden stattfindenden Wirtschaftstätigkeit nicht verzichten wollen. Soweit derartige politische Ziele auf Investoren abschreckend wirken, müssen sie durch eine die Stückko-

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sten senkende und dadurch Investitionen anziehende nationale Infrastruktur ausgeglichen werden. Bei deren Entwicklung haben die Nationalstaaten einen beträchtlichen politischen Gestaltungsspielraum, der denn auch zutreffend als Argument gegen pauschale Behauptungen ins Feld geführt wird, ökonomische Internationalisierung bedeute das Ende nationalstaatlicher Politik. Zu beachten ist jedoch mindestens, daß international mobile Investoren ihren Beitrag zu Aufbau und Unterhaltung der von ihnen genutzten Infrastruktur verringern können, indem sie ein Land gegen das andere ausspielen. Als Folge müssen nicht nur die Kosten der sozialen Sicherung, sondern auch die der nationalen Infrastrukturpolitik zunehmend von den weniger mobilen Arbeitnehmern getragen werden, die stärker als die Investoren daran interessiert sein müssen, daß Investitionen in ihrem Land und nicht in einem anderen stattfinden. Angesichts des allgemeinen Drucks auf die öffentlichen Finanzen führt dies dazu, daß Produktivitätsförderung und soziale Sicherung zunehmend um dieselben Ressourcen konkurrieren müssen, was den Spielraum der staatlichen Sozialpolitik weiter einengt.

(7) Internationale Kooperation zwischen Wettbewerbsstaaten dient in erster Linie dem gleichzeitigen und gegenseitigen Abbau von nationalen Marktgrenzen, die die Aufnahme eines Landes in die neuen, Prosperität ermöglichenden internationalen Marktzusammenhänge und Produktionssysteme behindern könnten. Kooperation über „negative Integration" hinaus ist jedoch unwahrscheinlich. Insbesondere jede Art von „positiver Integration", die potentielle Wettbewerbsvorteile bestimmter Länder neutralisieren und dadurch potentielle Wettbewerbsvorteile anderer Länder zu tatsächlichen machen würde, wird solange in ihrem Umfang begrenzt bleiben, wie ein Aufgehen der Nationalstaaten in einem supranationalen Staat von diesen selber verhindert werden kann. Damit wird nationale Politik in eine neuartige Form von Mehrebenenpolitik eingebunden, bei der die supranationale Ebene im wesentlichen Märkte einrichtet, an die sich staatliche Politik auf nationaler Ebene kompetitiv anzupassen hat.

(8) Aus der Perspektive von Nationalstaaten, die in ein internationales System marktöffnender Mehrebenenpolitik eingebunden sind, ist die Liberalisierung ihrer Volkswirtschaften die naheliegendste Antwort auf wirtschaftliche Internationalisierung. Politisch entlastet Liberalisierung den Nationalstaat von Aufgaben - vor allem der politischen Garantie von Voll-

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beschäftigung -, die er nach dem Zerfall der ihn unterstützenden internationalen Ordnung der Nachkriegszeit schon seit langem nicht mehr wahrzunehmen vermag. Soweit international konzertierte Liberalisierung als Strategie zur Sicherung oder Wiederherstellung der nationalen Wettbewerbsfähigkeit dargestellt werden kann, kann sie sogar die von der Internationalisierung der Wirtschaft beschädigte Legitimität des Nationalstaats erneuern helfen. Mittlerweile haben denn auch die Regierungen aller westlichen Demokratien gelernt, ihre eigene tendenzielle Abdankung zugunsten des Marktes als die einzig noch erfolgversprechende Wirtschaftspolitik „im nationalen Interesse" darzustellen - siehe die bevorstehende gemeinsame Abtretung der Geldpolitik an eine dem Zugriff der demokratisch gewählten Regierungen entzogene, allein der „Geldwertstabilität" und den internationalen Finanzmärkten verpflichtete Europäische Zentralbank. Der Verlust an staatlichen Handlungsmöglichkeiten, der mit Marktöffnung und Privatisierung einhergeht, ist dabei um so leichter zu verschmerzen, je mehr diese ohnehin nur noch auf dem Papier gestanden haben und je weniger ihre Verteidigung noch als Voraussetzung sozialer Stabilität erscheint. Insgesamt muß die höchste Priorität der Wirtschafts- und Sozialpolitik nationaler Wettbewerbsstaaten unter den Bedingungen marktöffnender Mehrebenenpolitik darin bestehen, die jeweilige nationale „Volkswirtschaft" für den internationalen Wettbewerb um Märkte, Aufträge, Investitionen und allgemein das Vertrauen der „Marktkräfte" „fit zu machen", wobei grundsätzlich alle Politiken und institutionellen Strukturen daraufhin überprüft werden können, ob sie zu diesem Ziel das ihre beitragen.

Die Tendenz zur Transformation des Sozialstaats in einen Wettbewerbsstaat ist nicht deshalb weniger real, weil sie sich schrittweise verwirklicht. Auch Argumente wie die, daß ohne Internationalisierung der Beschäftigungsstand der meisten entwickelten Länder eher noch niedriger wäre, daß ausländische Direktinvestitionen häufig der Markterschließung dienen und nicht der Kostensenkung und daß verschiedene Gesellschaften, etwa Großbritannien und Schweden, unterschiedliche Transformationspfade wählen können und wählen, ändern nichts daran, daß die Internationalisierung der früheren „Volkswirtschaften" des entwickelten Kapitalismus die Handlungskapazitäten der Nationalstaaten so fundamental verändert hat, daß man von einem Gestaltwandel nationaler Politik sprechen kann. Dessen Ursache liegt letztlich in einer veränderten Mikropolitik nationaler Institutionen in internationalen Märkten, die geprägt ist von asymmetrisch

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verteilten Austrittsmöglichkeiten der Haupt-Produktionsfaktoren. Diese bestimmen zunehmend, welche Anpassungsleistungen die nationale und internationale Politik zu erbringen haben und welche Ziele im Rahmen des Möglichen verfolgbar und nicht verfolgbar sind.

„Social dumping" ist ein unglücklicher Begriff, weil er vor allem auf kurzfristige Veränderungen im Investitionsverhalten von Unternehmen zielt. Viel wichtiger für die Zukunft des Sozialstaats sind aber die zu deren Vermeidung hingenommenen langfristigen Veränderungen der Politik. Der Dauerdruck steigender Kapitalmobilität und hoher Arbeitslosigkeit verändert die Qualität politischer Kompromisse und Entscheidungen gerade dadurch auf das nachhaltigste, daß er schrittweise und langfristig wirkt. Daß von heute auf morgen 80% der deutschen Investitionen nach Portugal oder Tschechien abwandern, ist für den Abbau des Sozialstaats der Nachkriegszeit bzw. seinen Umbau in einen Wettbewerbsstaat vollkommen unnötig; es reicht, wenn die laufende Politik mit dem Umstand konfrontiert ist, daß die Auslandsinvestitionen schneller wachsen als die inländischen, während die ausländischen Investitionen im Inland zurückgehen oder stagnieren. Soziale Systeme ändern sich von den Rändern her.

Sozialdemokratische Hoffnungen, den internationalen Kapitalismus des ausgehenden 20. Jahrhunderts durch internationale Kooperation ebenso gut sozial kontrollieren zu können, wie dies teil- und zeitweise mit dem nationalen Nachkriegskapitalismus gelungen ist, sind aller Ehren wert. Aber die Schwierigkeiten werden bei weitem unterschätzt - vielleicht, weil den Sozialdemokraten weder die nationale Basis sozialer Solidarität noch deren notwendige Einbettung in ein internationales hegemoniales Regime besonders bewußt und sympathisch waren. „Real existierende" internationale Kooperation läuft heute vor allem auf Liberalisierungsbündnisse von der Art des Binnenmarktes und der Währungsunion hinaus. Und der Marktwert des von Sozialdemokraten beschaffbaren sozialen Friedens ist deutlich gesunken. Das heißt nicht, daß die Unternehmen es nicht immer noch grundsätzlich vorzögen, die von ihnen benötigten Konzessionen konfliktlos und als Ergebnis freiwilliger Einsicht in das Unabänderliche zu erhalten. Aber der noch akzeptable Abschlag von der Kapitalrendite zur Finanzierung von sozialem Ausgleich ist deutlich niedriger geworden. Wie Olaf Henkel nicht müde wird zu betonen, wird heute auch in England und Amerika nicht mehr gestreikt, ohne Mitbestimmung und (fast) ohne Sozial-

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Staat. Auch die Unternehmen gewöhnen sich nur langsam an die neuen Verhältnisse, zumal die Restbestände des alten Systems, dessen Kosten schon so gut wie abgeschrieben sind, immer noch Gewinn abwerfen. Eine Erneuerung dieses Systems aber müßte gegen den Trend erfolgen, und die Mittel, mit denen das geschehen könnte, sind noch nicht zu erkennen.

Ich möchte nun die aus meiner Sicht wichtigsten Entwicklungstendenzen umreißen, denen die nationalen Systeme der industriellen Beziehungen innerhalb der sich formierenden nationalen Wettbewerbsstaaten und in ihrem neuen internationalen Kontext ausgesetzt sind. Dabei gehe ich davon aus, daß die überall gleichermaßen wirksamen neuen politischen und wirtschaftlichen Bedingungen die national eingebetteten kollektiven Arbeitsbeziehungen von Land zu Land unterschiedlich berühren. Aus offensichtlichen Gründen beziehen sich meine Ausführungen vor allem auf reiche Länder wie Deutschland, in denen es darum geht, hohe soziale Standards, ein relativ ausgeglichenes Lohn- und Einkommensniveau, einen ausgebauten Sozialstaat, starke Gewerkschaften und eine Tradition staatlicher Garantien für „korporatistische" Selbstregulierung unter veränderten Bedingungen zu verteidigen.

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Industrielle Beziehungen im nationalen Wettbewerbsstaat

Der verschärfte Wettbewerb in nahezu allen Märkten und die zunehmenden Austrittsmöglichkeiten des Kapitals aus anspruchsvollen nationalen Regelsystemen sind die wichtigsten Faktoren, die heute die industriellen Beziehungen auf nationaler Ebene bestimmen. Das Ergebnis ist nicht notwendig eine Entgewerkschaftung und Individualisierung der Arbeitsbeziehungen, wie sie Margret Thatcher in Großbritannien als Ziel vorgeschwebt hat; hierzu ist es ja auch dort (noch) nicht gekommen. Vielfältige Entwicklungen und Reaktionen sind denkbar; alle aber stehen unter dem Diktat eines wachsenden Wettbewerbs zwischen national verfaßten Gesellschaften um Investitionskapital und Arbeitsplätze.

(1) Grundsätzlich gilt, daß die gestiegene Austrittsfähigkeit der Unternehmen aus nationalen Regulierungszusammenhängen die Verpflichtungsfähigkeit der letzteren beeinträchtigt. In dem Maße, wie Unternehmen aus Regimen auswandern können, die sie mit unakzeptablen Verpflichtun-

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gen zu belasten drohen - wobei Auswanderung im weitesten Sinne auch kurzfristige Produktionsverlagerungen einschließt -, werden Staaten und Gewerkschaften dazu tendieren, sich anstelle der Auferlegung und Durchsetzung bindender Regeln mit freiwilligen Vereinbarungen zu begnügen. Diese können auch darin bestehen, daß noch vorhandene obligatorische Regeln informell modifiziert werden bzw. nicht mehr auf ihre Einhaltung bestanden wird.

Als Folge verändern sich ursprünglich obligatorische Regelsysteme, zum Teil unter der Hand, in voluntaristische. Da voluntaristische Systeme industrieller Beziehungen die in ihnen zustandekommenden Regeln nicht auf alle im Markt beteiligten Unternehmen gleichermaßen ausdehnen können - wodurch die betreffenden Regeln aus dem Wettbewerb herausgenommen würden -, liegt es in ihrem Wesen, daß sie stärker auf kompetitive Interessen und Bedürfnisse der einzelnen Unternehmen Rücksicht nehmen müssen. Dies kann als Fortschritt in Richtung auf größere „Flexibilität" und „Wettbewerbsfähigkeit" sowie als Beitrag zu „Entstaatlichung" und „Entbürokratisierung" dargestellt werden; ursächlich ist jedoch der Umstand, daß mobiler gewordene Unternehmen sich zunehmend Regeln entziehen können, die ihnen nicht „passen".

(2) Voluntaristische Systeme industrieller Beziehungen führen zu uneinheitlicheren Resultaten als obligatorische, da sie der „freien Entscheidung" der Beteiligten mehr Raum lassen und eine stärkere Abstimmung von Regelungen auf die besonderen Bedingungen des Einzelfalls zulassen. Das Ergebnis ist, daß in ihnen die relative Situation der Beteiligten weniger institutionell als durch den Markt bestimmt wird. In dem Maße, wie die Verpflichtungs- und Vereinheitlichungsfähigkeit industrieller Regelsysteme zurückgeht, nimmt damit auch ihre Fähigkeit zur Umverteilung ab. Dies muß zu einer erhöhten Polarisierung der Arbeitsbedingungen nach Branchen, Unternehmen, Arbeits- und Produktmärkten sowie Managementstrategien und damit zu erhöhter Ungleichheit zwischen den Beschäftigten führen; die besten Beispiele sind Großbritannien nach Abschaffung des Flächentarifs sowie die Vereinigten Staaten nach dem Ende des „pattern bargaining."

Das obligatorische deutsche Mitbestimmungssystem hat wenigstens versucht, Mitbestimmung als industrielles Bürgerrecht allen Arbeitnehmern gleichermaßen zu garantieren. Freiwillige und unternehmensspezifische Be-

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teiligungskonzepte dagegen, wie sie in den angelsächsischen Ländern überwiegen und auch in Deutschland populärer werden, gehen davon aus, daß sich die Beteiligungsformen und -chancen der Arbeitnehmer je nach Arbeitsplatz weit unterscheiden und im übrigen pro-kompetitiv gestaltet seien, d.h. sich durch einen positiven Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens rechtfertigen können und müssen.

(3) Der Wettbewerbsdruck auf den Produktmärkten führt dazu, daß Unternehmen zunehmend vor allem solche Regelsysteme unakzeptabel finden, die verhindern, daß die Ausgestaltung des Beschäftigungsverhältnisses zum Gegenstand der Unternehmensstrategie wird. Der durch die Internationalisierung weit über den Geltungsbereich nationaler Regelsysteme hinaus ausgeweitete Markt bewirkt, daß die Art und Weise der Nutzung der menschlichen Arbeitskraft mehr als je zuvor im Nachkriegskapitalismus (wieder) zur Quelle von Wettbewerbsvor- bzw. -nachteilen werden kann. In allen entwickelten Industriegesellschaften sind deshalb im letzten Jahrzehnt die Unternehmen bestrebt gewesen, die Personalpolitik im weitesten Sinne, einschließlich der Personalkosten, als Parameter der strategischen Unternehmenspolitik zurückzugewinnen. Als Folge insbesondere des „Japan-Schocks" geht es dabei vor allem um Wege, den Personaleinsatz „lean", d.h. intensiver und ökonomischer, zu gestalten. Dies geschieht innerhalb der Unternehmen typischerweise dadurch, daß Entscheidungen über den Einsatz der Arbeitskraft soweit wie möglich in dezentrale Zusammenhänge delegiert werden, die für ihr Ergebnis verantwortlich sind und für die deshalb ein Anreiz besteht, situationsspezifische, auf ihre besonderen Bedingungen scharf zugeschnittene personalpolitische Strategien zu entwickeln.

Obligatorische gesellschaftliche Regelwerke, die auf die speziellen Verwertungsbedingungen in den einzelnen „Profitzentren" der „flexibel" reorganisierten Unternehmen und Unternehmensgruppen keine Rücksicht nehmen, stehen dem im Wege und können deshalb zum Anlaß von Flexibilisierungsforderungen werden, denen Staaten und Gewerkschaften sich angesichts der gestiegenen Abwanderungsmöglichkeiten des Kapitals nur schwer verschließen können.

(4) Ein uneinheitliches Bild ergibt sich auch im Vergleich verschiedener nationaler Entwicklungspfade. Die Bandbreite der Reaktionen auf den neuen Ökonomisierungs- und Individualisierungsdruck reicht von Thatche-

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ristischen Versuchen einer Zerschlagung der Gewerkschaften mit dem Ziel einer Restauration des Direktionsrechts bis zur Formierung nationaler und betrieblicher Wettbewerbs- und Modernisierungskoalitionen unter Einschluß der Gewerkschaften. Dabei kommt es vor, daß beide Ansätze in derselben Gesellschaft nebeneinander verfolgt werden, etwa in verschiedenen Branchen oder Unternehmen.

Auch dort jedoch, wo Wandel unter Beteiligung der Gewerkschaften stattfindet, läuft er immer auch auf eine Dezentralisierung der industriellen Beziehungen und ihre „Liberalisierung" im Sinne einer größeren Bedeutung freiwilliger statt obligatorischer Lösungen sowie eines größeren Gestaltungsspielraums für das einzelne Unternehmen hinaus. Damit werden die industriellen Beziehungen weiter entstandardisiert und stärker als in der Vergangenheit von situationsspezifischen Wettbewerbszwängen geprägt, wobei gesellschaftsweite „Sozialverträge" zunehmend von betrieblichen abgelöst und die öffentliche oder quasi-öffentliche Regulierung der Beschäftigungsverhältnisse tendenziell durch eine private ersetzt wird. Prinzip der Institutionenbildung im Bereich der industriellen Beziehungen wird damit immer weniger die gesellschaftsweite Durchsetzung einheitlicher industrieller Bürgerrechte und immer mehr die wettbewerbsfreundliche Minimierung von Transaktionskosten.

(5) In jedem Fall stehen die industriellen Beziehungen im Wettbewerbsstaat im Schatten hoher Arbeitslosigkeit. Der seiner Keynesianischen Einwirkungsmöglichkeiten beraubte Nationalstaat ist nicht mehr in der Lage, gewerkschaftliche Interessenvertretung durch staatliche Vollbeschäftigungspolitik zu unterstützen. Hohe Dauerarbeitslosigkeit bei gleichzeitiger „Flexibilisierung" und „Dezentralisierung" der industriellen Beziehungen kann dazu führen, daß die Gewerkschaften zu Repräsentanten allein der Beschäftigten werden, deren Interessen an Beschäftigungssicherheit mit den Interessen der Arbeitslosen an Zugang zu Beschäftigung nicht immer leicht zu vereinbaren sind. Zugleich geraten die betrieblichen Gewerkschaftsorganisationen in die Gefahr, zu sozialverträglichen Co-Managern des Personalabbaus zu werden. Versuchen, diesen Problemen durch Arbeitsumverteilungspolitik auszuweichen, sind Kostengrenzen gezogen, sowohl bei den Unternehmen als auch bei den Trägereinrichtungen der sozialen Sicherung. Im übrigen stoßen sie auch insofern auf Schwierigkeiten, als mobiler gewordene Unternehmen sich leichter denn je aus

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obligatorischen Regimen verabschieden können, die ihnen unbequeme Solidaritätsverpflichtungen auferlegen und sie etwa dazu zwingen wollen, mit den Schwierigkeiten der Organisation eines ununterbrochenen Produktionsflusses bei sinkender Arbeitszeit des einzelnen fertig zu werden.

(6) Manche der neuen Unternehmensstrategien sind in dem Sinne humankapitalorientiert, als ihre Verfolgung ein hohes Qualifikations-, Motivations- und Integrationsniveau der Arbeitskräfte erfordert. Dies hat traditionell „kooperativen" Gewerkschaften wie den deutschen, zunehmend aber auch traditionell „konfliktorischen" wie den italienischen einerseits und den anglo-amerikanischen andererseits, Hoffnungen auf eine erfolgreiche Verteidigung oder gar erstmalige Durchsetzung eines Sozialmodells gemacht, das hohe Löhne, relativ geringe soziale Ungleichheit, soziale Sicherheit für alle und wirksame kollektive Beteiligungsmöglichkeiten miteinander verbindet. Ähnlichkeiten mit den Hoffnungen der sozialdemokratischen Modernisierungsoptimisten sind nicht zufällig. Unterstellt wird,

  1. daß arbeits- und produktpolitische Marktstrategien, die den Unternehmen eine aufwendige Pflege ihres Humankapitals abverlangen, unter heutigen technologischen und ökonomischen Bedingungen langfristig profitabler sind als Strategien, die mit einer Senkung sozialer Standards verbunden wären, und zwar nicht nur wegen der hohen konfliktbedingten Übergangskosten;
  2. daß eine humankapitalorientierte Wirtschaftsweise ein Maß an Konsens und innerer Beteiligung auf Seiten der Arbeitskräfte erfordert, das ohne gewerkschaftliche Interessenvertretung und institutionalisierte soziale Sicherung nicht zu haben ist, und daß sie darüber hinaus auf eine öffentliche soziale Infrastruktur angewiesen ist, die ein einzelnes Unternehmen für sich nicht herstellen kann;
  3. daß Unternehmen, die das für sie beste aus den neuen Wirtschaftsbedingungen machen wollen, ein langfristiges Interesse an einer stabilen sozialen Ordnung haben müssen, in der unabhängigen Gewerkschaften eine unentbehrliche „modernisierende" Rolle zukommt;
  4. daß die Ausfüllung einer solchen Rolle es den Gewerkschaften ermöglichen werde, allgemeine soziale Interessen durchzusetzen, vor allem an sozialem Ausgleich, die über das hinausgehen, was der Markt von sich aus erfordern oder bewirken würde.

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Ob sich derartige Hoffnungen erfüllen werden, muß die Zukunft zeigen. Tatsache ist, daß es zu den verschiedenen in Umlauf befindlichen Varianten eines humankapitalorientierten gewerkschaftlichen Produktivismus als strategische Antwort auf die Internationalisierung der Wirtschaft kaum ausformulierte Alternativen gibt. Dennoch sind auf Erfahrung gegründete Zweifel möglich, ob hier nicht zuviel erwartet wird. Im folgenden will ich diese Zweifel kurz darstellen.

(7) Auch dort, wo Gewerkschaften an betrieblichen und gesellschaftlichen Wettbewerbs- und Modernisierungskoalitionen beteiligt sind, fehlt ihnen weitgehend die Möglichkeit, humankapitalorientierte Varianten der Anpassung an den Weltmarkt gesellschaftsweit obligatorisch zu machen und sie damit über einzelne Betriebe oder Branchen hinaus zu verallgemeinern. Wie die Nationalstaaten selber müssen national agierende Gewerkschaften sich in einer internationalisierten Ökonomie zur Durchsetzung ihrer Ziele zunehmend auf Anreize stützen und können immer weniger auf soziale Verpflichtungen zurückgreifen. Insbesondere müssen Gewerkschaften, um Unternehmen dazu zu bewegen, sozialverträgliche und - möglicherweise - gewerkschaftlicher Kooperation bedürftige Anpassungsstrategien zu verfolgen, Vorleistungen im Bereich der institutionellen und personellen Infrastruktur erbringen, die den von ihnen gewünschten sozialen Ausgleich akzeptabel machen sollen. Dies steht hinter den mittlerweile stereotypen gewerkschaftlichen Beteuerungen in allen westlichen Ländern, daß die jeweiligen einheimischen Arbeitskräfte besonders gut ausgebildet, „flexibel" und kooperationsbereit seien.

Eine derartige soziale Infrastrukturpolitik muß unterschieden werden von einer sozialen Kohäsionspolitik, wie sie die deutschen und schwedischen Gewerkschaften in der Vergangenheit betrieben haben und bei der es um qualifizierte Arbeit für alle in einer Gesellschaft ging, die den Unterschied zwischen Gewinnern und Verlierern am Markt mit politischen Mitteln zu begrenzen beschlossen hatte. Diese Politik bediente sich auch der Möglichkeit, Niedriglohnbeschäftigung oder Beschäftigung in schlechten Arbeitsbedingungen ohne kollektive Mitspracherechte durch allgemein verbindliche anspruchsvolle Regelungen des Beschäftigungsverhältnisses auszuschließen. Zugleich wurde Unternehmen, die sich zu einer Wirtschaftsweise bereit fanden, die mit einem sozial regulierten Kapitalismus vereinbar war, nachhaltige gewerkschaftliche und betriebsrätliche Unter-

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stützung gewährt, einschließlich der Sicherung des sozialen Friedens „vor Ort".

Heute, angesichts hoher Dauerarbeitslosigkeit und mobiler gewordener Unternehmen, sind regulierende Eingriffe auf nationaler Ebene, die in der Vergangenheit sozial unakzeptable Unternehmensstrategien - wie etwa die Herstellung von Profitabilität durch „downsizing" oder die Aufspreizung des Lohnfächers zwischen den Qualifikationsgruppen - ausgeschlossen haben, immer weniger durchsetzbar. An die Stelle der für den Sozialkapitalismus der Nachkriegsjahre charakteristischen kooperativen Disziplinierung des Kapitals tritt damit zunehmend eine Politik wirtschaftlicher Anreize, von denen nur gehofft werden kann, daß sie im erwünschten Sinne genutzt werden.

(8) Humankapitalorientierte Produktionsweisen, die den Unternehmen nicht durch obligatorische Regeln auferlegt oder als einzige Möglichkeit offengelassen werden, kommen nur dann zustande, wenn sie von den Unternehmensleitungen als die profitabelste Alternative freiwillig gewählt werden. Ihr insofern voluntaristischer Charakter hat zur Folge, daß sie in der Regel gleichzeitig mit und neben alternativen Unternehmenskonzepten auftreten, in denen dem Humankapital eine geringere Rolle zukommt. Wo institutionelle Möglichkeiten zur Verallgemeinerung sozial erwünschter Produktionskonzepte fehlen, besteht deshalb die Gefahr, daß diese auf Inseln beschränkt bleiben („islands of excellence"); damit tragen sie mindestens ebenso zur gesellschaftlichen Polarisierung bei wie zur gesellschaftlichen Integration.

Hinzu kommt, daß die Fortführung einer humankapitalorientierten Produktionsweise, die nicht institutionell gestützt ist, immer unter der Bedingung steht, daß sie dem Arbeitgeber weiterhin als Wettbewerbs- und ertragsfähiger erscheint als ihre Alternativen. Damit drohen die soziale Lage der Beschäftigten und die Rolle der Gewerkschaften vom guten Willen bzw. der besseren Einsicht der jeweiligen Unternehmensleitung in ihre eigenen langfristigen Interessen oder die des Unternehmens abzuhängen - oder gar davon, daß die langfristigen Unternehmensinteressen der Unternehmensleitung weiterhin wichtiger erscheinen als die, oder ihre, kurzfristigen Interessen. Daß eine auf Freiwilligkeit beruhende kooperative Unternehmensstrategie jederzeit revidierbar ist, trägt im übrigen nicht dazu

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bei die Verhandlungsmacht von Gewerkschaften und Betriebsräten zu erhöhen.

(9) Darüber hinaus kann keineswegs als gesichert gelten, daß humankapitalorientierte Unternehmensstrategien nur mit Beteiligung und Unterstützung unternehmensunabhängiger Gewerkschaften möglich sind. In allen entwickelten kapitalistischen Gesellschaften gibt es heute das Phänomen des hoch wettbewerbsfähigen und sozial hoch integrierten Unternehmens, typischerweise in „neuen" Branchen wie der Mikroelektronik, das seinen Arbeitskräften erstklassige Bedingungen, einschließlich weitgehender Partizipationsmöglichkeiten am Arbeitsplatz, bietet und es zugleich um seiner „Flexibilität" willen auf das strikteste vermeidet, sich einem Tarifvertrag zu unterwerfen. Zumindest einigen Unternehmen dieser Art scheint es zu gelingen, durch fortgeschrittene Methoden des „human resource management" ihre Stammbelegschaft derart in eine kooperative „Unternehmenskultur" einzubinden, daß sie auf gewerkschaftliche Vermittlung verzichten können und gegen gewerkschaftliche Organisierungsversuche weitgehend immun sind.

Unternehmen müssen heute auch in Ländern wie Deutschland nicht unbedingt befürchten, ohne Gewerkschaft mit betrieblichen Konflikten nicht fertig zu werden oder wegen des Fehlens einer eigenständigen gewerkschaftlichen Vertretung das Vertrauen ihrer Belegschaft zu verlieren. Der Wettbewerbsdruck auf den Weltmärkten und die immer fühlbarere Abhängigkeit der eigenen Beschäftigung vom Unternehmenserfolg scheinen heute häufig zur Folge zu haben, daß der Konsens der Beschäftigten und ihre Bereitschaft, ihre Arbeit nicht nur mechanisch, sondern mit innerer Beteiligung zu verrichten, von vielen Unternehmen sozusagen hausintern hergestellt oder gar zur Beschäftigungsbedingung gemacht werden können; gewerkschaftlicher Zwischenträgerschaft scheint es dabei oft nicht mehr zu bedürfen. Die Vorstellung, daß der gestiegene Konsensbedarf moderner Produktionsweisen Gewerkschaften die Möglichkeit bietet, sich als Gegenleistung für Konsensbeschaffung betriebliche und gesellschaftliche Regulierungs- und Gestaltungsmacht einzuhandeln, muß insofern zweifelhaft erscheinen.

(10) Auch auf das Profitinteresse der Unternehmen ist als Grundlage einer humankapitalorientierten Sozialpartnerschaft nur bedingt Verlaß. Aufgrund der Erfahrungen der letzten Jahrzehnte kann kein Zweifel daran

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bestehen, daß auch anspruchsvolle, „sozialverträgliche" Produktionskonzepte profitabel und Unternehmen, die gewerkschaftliche Regulierung und soziale Sicherung als Rahmenbedingungen ihres Wirtschaften akzeptieren, hoch erfolgreich sein können. Wie der eindrucksvolle Aufschwung zahlreicher amerikanischer und britischer Unternehmen in den letzten Jahren gezeigt hat, bedeutet dies jedoch keineswegs, daß weniger sozialpartnerschaftliche Unternehmensstrategien notwendig unterlegen sein müssen: Die von den führenden anglo-amerikanischen Unternehmen erzielten Kapitalrenditen sind jedenfalls nicht niedriger als die deutschen und schwedischen, und im Durchschnitt sind sie sogar höher.

Für die anglo-amerikanische Lösung des Profitproblems muß im übrigen in den Augen der Unternehmen sprechen, daß sie weniger „anstrengend" ist. So kann ein Unternehmen mit einer Personalpolitik, die auf eine Unterscheidung zwischen Stamm- und Randbelegschaft verzichtet und allen Beschäftigten vergleichbare Bedingungen bietet, wahrscheinlich auch heute noch gut verdienen. Manches spricht aber dafür, daß es dies auch mit einer dualistischen Personalpolitik könnte, die technisch weniger aufwendig und wirtschaftlich weniger kostspielig wäre. Da die gestiegene Mobilität der Unternehmen ein Überwechseln aus anspruchsvollen in weniger anspruchsvolle Regime begünstigt - entweder durch Verlagerung in ein anderes Land oder durch neuverhandelte „Flexibilisierung" am bisherigen Standort -, ist damit zu rechnen, daß immer mehr Unternehmen in Ländern mit anspruchsvollen Regimen in Zukunft in der Lage sein werden, sich das Leben etwas leichter zu machen.

Daß eine kooperative Unternehmensstrategie möglicherweise eher geeignet ist, die langfristigen Interessen eines Unternehmens zu sichern, während weniger anspruchsvolle Produktionskonzepte „nur" kurzfristige Interessen zu bedienen vermögen, mag zutreffen, hilft aber auch nicht. Die Bereitschaft eines Unternehmens, auf kurzfristige Vorteile zugunsten langfristiger zu verzichten, hat nicht zuletzt mit seiner „Bodenständigkeit" zu tun. Langfristig profitable Anpassung an lokale Regelsysteme, die eine kurzfristig-opportunistische Gewinnmitnahme erschweren, ist nur dann rational, wenn es keine Möglichkeit zum Austritt gibt bzw. die Transaktionskosten wiederholter Ein- und Austritte zu hoch sind. Für Investoren („shareholders") gilt jedenfalls grundsätzlich, daß sehr hohe Erträge aus

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zahlreichen aufeinanderfolgenden kurzfristigen Anlagen besser sind als hohe Erträge aus einer einzigen langfristigen Anlage.

Manches spricht dafür, daß die weitere Entwicklung der Kapitalmärkte und das weitere Sinken der Transaktionskosten zu einer globalen Jagd des Anlagekapitals, oder doch des neuen und freiwerdenden Anlagekapitals, nach hohen kurzfristigen Gewinnen führen werden. Firmen, deren Gewinne zurückgehen, werden dann abgestoßen anstatt umgebaut. Als Folge nähmen der Umschlag von Unternehmen und Beschäftigungsverhältnissen zu und, sehr wahrscheinlich, die soziale Stabilität ab. Letzteres allerdings geschähe immer nur lokal, so daß global operierende Investoren den Kosten durch Standortverlagerung ausweichen könnten. Zweifel an der gesamtwirtschaftlichen Rationalität eines derartigen „hit-and-run"-Kapitalismus sind angebracht; sie können jedoch den einzelnen Anleger nicht daran hindern, seine Erträge, „solange der Vorrat reicht", durch raschen Wechsel seiner Anlagen zu maximieren. Im übrigen fehlt wegen der nationalen Fragmentierung der politischen und öffentlichen Gewalt so gut wie jede Möglichkeit, aus derartigen Zweifeln praktische Konsequenzen zu ziehen.

(11) Insgesamt gilt, daß die Internationalisierung der Märkte es gesellschaftlichen Akteuren auf nationaler Ebene zunehmend unmöglich macht, den Unternehmen als Bedingung für ihre soziale Binnenintegration einen Beitrag zur Integration der Gesellschaft als ganzer abzuverlangen. Betriebliche und gesamtgesellschaftliche Integration fallen damit zunehmend auseinander. Unternehmen können hoffen, Konsens und Kooperation ihrer Belegschaften zu gewinnen, ohne als Gegenleistung zur Verwirklichung einer „guten", das heißt den Ansprüchen der Mehrheit an Gerechtigkeit und gleiche Freiheit genügenden Gesellschaft herangezogen zu werden. Wie die Beispiele der USA und Großbritanniens zeigen, können Unternehmen, auch solche mit anspruchsvollen Produktionskonzepten, auch dann profitabel sein, wenn um sie herum die Gesellschaft sich spaltet, die sozialen Sicherungssysteme austrocknen und die öffentliche Infrastruktur zerfällt. Privater Reichtum erfordert sozialen Ausgleich nicht, noch ist der letztere eine notwendige Nebenfolge des ersteren; wäre dies so, wären die USA der entwickeltste Sozialstaat der Welt.

Die South Side in Chicago hat noch niemanden daran gehindert, sein Geld in den USA zu investieren und dort gut zu verdienen. Auch die Zerschla-

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gung der amerikanischen Gewerkschaften hat die ausländischen Investoren, einschließlich der an die deutsche Sozialpartnerschaft gewöhnten, keineswegs abgeschreckt; eher hat sie sie angelockt. Die großen internationalen Unternehmen verfügen heute anscheinend über genügend Ressourcen, um die für die Anwendung fortgeschrittener Produktionskonzepte erforderlichen internen Bedingungen selbst herzustellen; auf die Hilfe der Politik oder der Gewerkschaften scheinen sie dabei immer weniger angewiesen zu sein. Auch amerikanische Unternehmen können eine Belegschaft mit hohem Qualifikationsniveau aufbauen. Allerdings tun sie dies nur dann, wenn sie sicher sein können, daß die von ihnen vermittelten Qualifikationen nur hausintern verwertbar sind und dadurch die Mobilitätschancen der Beschäftigten auf dem externen Arbeitsmarkt nicht verbessern.

Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß der verstärkte Wettbewerb auf den Weltmärkten die Fähigkeit aller national begrenzten Systeme industrieller Beziehungen beeinträchtigt hat, die Regulierung der Arbeitsverhältnisse in verschiedenen Branchen und Betrieben um der Durchsetzung sozialer Gleichheit und Solidarität willen zu vereinheitlichen. Die neuen Abwanderungsoptionen des Finanz- und Industriekapitals bewirken darüber hinaus eine schleichende Veränderung der Machtverhältnisse am Arbeitsmarkt, die sich in zugunsten der Kapitalseite korrigierten Verteilungsrelationen sowie in abnehmender Durchsetzbarkeit allgemeiner und formeller Regeln äußert. Das Ergebnis ist eine zunehmende „Freiwilligkeit" und wachsende Vielfalt der industriellen Beziehungen, die mehr und mehr von den unmittelbar Beteiligten nach Maßgabe der jeweiligen Unternehmensstrategien „im Schatten des Marktes" ausgehandelt werden.

Damit werden die industriellen Beziehungen der entwickelten kapitalistischen Gesellschaften weniger dereguliert als vielmehr „flexibel" re-reguliert, wobei unternehmensspezifische Erfordernisse hoher Wettbewerbsfähigkeit zum obersten und häufig alleinigen Gesichtspunkt der Regelbildung avancieren. Im Vergleich dazu treten traditionelle Gesichtspunkte der Verteidigung von Rechten, der Demokratisierung der Arbeit und der Verhinderung gesellschaftlicher Spaltung in den Hintergrund. Deren Berücksichtigung in der Strategie der Unternehmen kann immer weniger zur Bedingung gewerkschaftlicher und gesellschaftlicher Kooperation mit den Interessen von Investoren gemacht werden, die zunehmend zwischen na-

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tionalen Gesellschaften wählen können und nicht mehr auf eine bestimmte Gesellschaft angewiesen sind. Dies gilt grundsätzlich auch für hochentwickelte und hochregulierte Systeme industrieller Beziehungen wie das deutsche, in denen eine lange Tradition erfolgreicher sozialpartnerschaftlicher Kooperation dafür sorgt, daß Wandel nur langsam und von den Rändern nach innen stattfindet. Niemand kann ausschließen, daß solche Systeme, insbesondere das deutsche, Wege finden werden, sich auch unter den neuen Bedingungen zu behaupten. Andererseits ist derzeit nicht klar, wie dies genau geschehen könnte.

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Supranationale industrielle Beziehungen

Die Aussichten darauf, daß die Verpflichtungs- und Umverteilungsfähigkeit der dem Druck der erweiterten Märkte ausgesetzten nationalen Systeme industrieller Beziehungen durch kompensierende Institutionenbildung auf supranationaler Ebene wiederhergestellt werden könnte, sind ebenso schlecht wie die Aussichten auf ein Aufgehen der nationalen Systeme in einem einheitlichen, sie „harmonisierenden" supranationalen System. Soweit supranationale industrielle Beziehungen im Entstehen begriffen sind, reflektieren sie die neuen, die nationalen Systeme verändernden Bedingungen weit stärker als die traditionellen Strukturen der nationalen Systeme.

Ebenso wie die supranationalen Institutionen im zwischenstaatlichen Bereich, so sind auch diejenigen im Bereich der Arbeitsbeziehungen überwiegend freiwilliger Natur. Ihr Mangel an autoritativer Verbindlichkeit macht es ihnen weitgehend unmöglich, die an ihnen beteiligten Nationalstaaten davon abzuhalten, miteinander in Regimewettbewerb einzutreten;

insofern gehorchen sie derselben Logik multilateraler Liberalisierung, die auch die staatliche internationale Politik weitgehend bestimmt. Dem entspricht, daß das, was sich in den letzten Jahren an supranationalen Arbeitsbeziehungen herausgebildet hat, in erster Linie unternehmensbezogen organisiert ist und sich vor allem durch seinen Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit des jeweiligen Unternehmens, und jedenfalls nicht als Regulativ des Wettbewerbs, rechtfertigt.

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(1) Auf supranationaler Ebene gibt es keinen Staat, der Aushandlungen zwischen den Sozialparteien über Unternehmensgrenzen hinweg verbindlich verallgemeinern könnte. Nicht zuletzt aus diesem Grund gibt es solche Aushandlungen denn auch so gut wie nicht. Der schwache „Nicht-Staat" der Europäischen Union ist insbesondere nicht in der Lage, die Handlungs- und Organisationsfähigkeit der Sozialparteien auf supranationaler Ebene in annähernd ähnlicher Weise zu fördern, wie dies zum Beispiel der deutsche Gesetzgeber durch das Tarifvertragsgesetz und die Mitbestimmungsgesetze konnte. Inhalt und Geschichte etwa der Direktive über die Euro-Betriebsräte zeigen, daß die Europäische Union im Bereich der industriellen Beziehungen nahezu gänzlich außerstande ist. Regeln zu erlassen, die dem, was multinationale Unternehmen freiwillig auszuhandeln bereit sind, wesentliches hinzufügen würden.

DieAbwesenheit eines gestaltungsfähigen supranationalen Staates bedeutet, daß die von Gewerkschaften dringend benötigten Organisationshilfen auf supranationaler Ebene ebenso ausbleiben wie wirksamer öffentlicher Druck auf die Arbeitgeber, sich kollektiv entscheidungsfähig zu machen und sich auf überbetriebliche Verhandlungen einzulassen. Daß dies nicht an fehlendem guten Willen der Europäischen Kommission liegt und wahrscheinlich wegen der nationalen Zerklüftung der europäischen Wirtschaftsgesellschaft auch gar nicht anders möglich wäre, ändert an der Tatsache nichts, daß supranationale industrielle Beziehungen in Europa weitgehend staatsfrei, und das heißt vor allem: dezentral organisiert und marktgetrieben, sind. Auch die nach etwa zwanzigjährigen Versuchen vorhandenen Ansätze zu einer „korporatistischen" Regimeform auf europäischer Ebene sind im Vergleich zu dem, was in den nationalen Wohlfahrtsstaaten vorhanden ist oder noch ist, praktisch bedeutungslos, und ihre bisherige Entwicklung gibt keinen Anlaß zu der Vermutung, daß sich dies in absehbarer Zeit ändern könnte.

(2) Dies gilt um so mehr, als die nationalen Systeme, die das supranationale System nicht vor ihrem gegenseitigen Wettbewerb zu schützen vermag, einem ständigen Erosionsdruck ausgesetzt sind, der sie dazu zwingt, sich markt- und wettbewerbskonform umzustrukturieren. Dieser Prozeß, und nicht der seit zwei Jahrzehnten über Ansätze nicht hinauskommende Aufbau eines europäischen Korporatismus, der die nationalen Systeme in sich aufnehmen oder zumindest gegeneinander absichern könnte, ist der in

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Europa heute bestimmende. Manches spricht dafür, daß er schnell genug voranschreiten wird, um eine supranationale Absicherung der nationalen Systeme, lange bevor sie politisch und Institutionen annähernd möglich würde, mangels Masse unnötig zu machen. Insofern ist im Bereich der europäischen industriellen Beziehungen dieselbe Liberalisierungsdynamik am Werk, die auch die zwischenstaatliche Mehrebenenpolitik bestimmt.

Wie wenig das entstehende europäische System industrieller Beziehungen in der Lage ist, den Wettbewerb zwischen den nationalen Systemen einzudämmen, zeigt wiederum das Beispiel der Euro-Betriebsräte. Diese sind nicht mehr als ein internationaler Annex an die jeweiligen nationalen Systeme der Interessenvertretung am Arbeitsplatz; letztere selber bleiben von der Richtlinie formal unberührt. Substantiell bedeutet das, daß nationale Regime mit hohen und obligatorischen Standards der Arbeitnehmerbeteiligung weiterhin unter dem Druck der Möglichkeit operieren müssen, daß Produktionen in Nachbarländer verlagert werden, in denen die Mitbestimmungsrechte der Belegschaften weniger gut ausgebaut sind. Die Folge ist, daß Betriebsräte und Gewerkschaften in „starken" Regimen immer öfter davon absehen müssen, ihre Rechte vollständig in Anspruch zu nehmen, weil sie ansonsten Gefahr laufen, im Wettbewerb um Arbeitsplätze den kürzeren zu ziehen.

Im deutschen Fall kommt hinzu, daß die weitgehend freiwilligen Euro-Betriebsräte lediglich arbeits-, nicht aber unternehmensrechtlich verankert sind. Damit bleibt der deutschen Mitbestimmung auf Unternehmensebene weiterhin, und wohl für immer, ihre Schutz vor Wettbewerb bietende europäische Verallgemeinerung versagt. In der Tat hat die Verabschiedung der Richtlinie über die Euro-Betriebsräte Überlegungen ausgelöst, die alten Projekte der Europäischen Union für ein europäisches Unternehmensrecht neu zu beleben. Diese waren bisher daran gescheitert, daß die in den jeweiligen Entwürfen auf deutsches Drängen hin vorgesehene Arbeitnehmerbeteiligung auf Unternehmensebene für die Arbeitgeberseite und die meisten europäischen Regierungen nicht akzeptabel war. Die neuen Vorschläge laufen nun darauf hinaus, sich in einem künftigen europäischen Gesellschaftsrecht mit einem Verweis auf den Euro-Betriebsrat zu begnügen. Damit könnte auf mittlere Sicht das Überleben der deutschen Unternehmensmitbestimmung von ihrer „Wettbewerbsfähigkeit" in den Augen von Investoren abhängen, für die die möglicherweise langfristig stabilisie-

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renden Wirkungen der Unternehmensmitbestimmung an Wert verlieren könnten. Als Resultat könnte die Unternehmensmitbestimmung deutscher Provenienz durch allmähliche Abwanderung von Unternehmen in eine europäische Unternehmensverfassung ohne oder mit „flexiblerer" Mitbestimmung in ähnlicher Weise zu einem „Restsystem" werden, wie es die Montanmitbestimmung in Deutschland schon ist.

(3) Die sich entwickelnden industriellen Beziehungen auf europäischer Ebene sind Unternehmens- und nicht branchenbezogen; die Euro-Betriebsräte liegen auch insoweit im Trend. Auch innerhalb großer multinationaler Unternehmen wird es in absehbarer Zukunft keine integrierten Lohnverhandlungen geben. Vorstellbar ist aber, daß die Euro-Betriebsräte von den Unternehmen und ihren internationalen Personalabteilungen zum Aufbau lockerer, unternehmensspezifischer Konsultationsgemeinschaften genutzt werden, in denen informelle und auf freiwilliger Basis über das Minimum der Direktive hinausgehende Konsultationsbeziehungen an die Stelle von verbindlichen Verhandlungen treten. Auf mittlere Sicht könnten hieraus Rahmenvereinbarungen entstehen, die die internationale Humankapitalstrategie des jeweiligen Unternehmens nach innen verbindlicher und legitimer machen würden.

Die unvermeidliche Folge hiervon wäre, daß die „alten", nationalen Systeme industrieller Beziehungen in ihren Möglichkeiten weiter geschwächt würden, die auf ihren Territorium operierenden Unternehmen in ein für alle gleich verpflichtendes Regulierungsmuster zu integrieren. Damit müßte die Europäisierung der industriellen Beziehungen die Regulierungs- und Verallgemeinerungsfähigkeit der nationalen Systeme weiter schwächen, indem sie den großen und stilbildenden Unternehmen die Möglichkeit bieten würde, sich durch Europäisierung ihrer Humankapitalpolitik allmählich aus den nationalen Systemen herauszuziehen. Als Folge würden die kollektiven Arbeitsbeziehungen in Europa insofern insgesamt voluntaristischer, als der allmähliche Austritt der führenden Unternehmen aus den nationalen Systemen einem Übergang aus relativ normativen und verpflichtungsfähigen Regimen in ein Regime gleichkäme, das dem einzelnen Unternehmen einen weit größeren Gestaltungsspielraum im Schatten des Wettbewerbs einräumt. Es erscheint realistisch anzunehmen, daß die auf diese Weise auf supranationaler Ebene etablierten Regulierungsmuster auf die dem Wettbewerbsdruck weiterhin ausgesetzte nationale Ebene durch-

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schlagen und dort die ohnehin vorhandenen Trends zu einer Liberalisierung der industriellen Beziehungen verstärken werden.

Angesichts der charakteristischen Schwäche der internationalen Institutionen im Bereich der industriellen Beziehungen muß vor Hoffnungen auf wirksame internationale Kooperation zwischen Gewerkschaften zur Eindämmung von Systemwettbewerb gewarnt werden. Die viel wahrscheinlichere Alternative zu einer Entgewerkschaftung der europäischen Volkswirtschaften, die wiederum auf dem Kontinent zunächst wenig wahrscheinlich erscheint, ist die Aufnahme der Gewerkschaften in nationale Modernisierungskoalitionen, in denen es darum geht, die heimischen Produktionsbedingungen für in- und ausländische Investoren attraktiv zu machen. Internationale Kooperation dient dann in erster Linie dazu, ein Ausspielen nationaler Vorteile im Bereich der Infrastruktur nach außen abzusichern; sie kann deshalb ihrer Natur nach nicht sehr weit gehen.

Entsprechend locker und jeweils national zentriert sind denn auch die internationalen Netzwerke, durch die nahezu alle nationalen Gewerkschaften in der Europäischen Union versuchen, ihre organisatorische Reichweite über die Landesgrenzen hinaus auszudehnen. Die europäischen Dachverbände und supranationalen Institutionen dienen hier vor allem als Infrastrukturen, in denen sich die vorgeschobenen Beobachtungsposten jeweils national organisierter Arbeitnehmerinteressen ineinander schieben. Den Wettbewerb der nationalen Sozialsysteme zu suspendieren vermag die europäische Integration nicht, jedenfalls nicht zur Zeit; statt den wettbewerbsfreundlichen Umbau der nationalen Systeme zu bremsen, scheint sie ihn insgesamt eher zu beschleunigen. National organisierte Gewerkschaften können versuchen, und tun dies zunehmend, sich hierfür als Co-Manager anzubieten; ob und unter welchen Voraussetzungen sie dabei mehr sein können als das fünfte Rad am Wagen, ist eine offene Frage.

Auch wenn sie jedoch unverzichtbar wären, und nicht nur für eine Übergangsphase, besteht immer noch die Gefahr, daß der Beitrag gewerkschaftlicher Interessenvertretung zur Erreichung von gesellschaftlichen Zielen wie der Verhinderung exzessiver Ungleichheit dadurch abnehmen könnte, daß nationale gewerkschaftliche Politik in internationalen Märkten zu sehr unter den Imperativ der Wettbewerbsfähigkeit gerät. Die hier sich ankündigenden praktischen und strategischen Probleme sind möglicher-

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weise nicht unlösbar; sie müssen aber zunächst erkannt und möglichst schonungslos beschrieben werden. Hoffnungen auf eine gesellschaftlich wohlwollende Eigendynamik des Gewinnmotivs - Unternehmen, die ihre Interessen richtig verstehen und auf langfristige Gewinne setzen, müssen deshalb gewerkschaftlichen Einfuß und soziale Sicherung begrüßen - sind dabei sehr wahrscheinlich ebenso verfehlt wie die Erwartung, daß die Erosion der Verpflichtungsfähigkeit nationaler Regime durch die Herausbildung einer dezentralisierten und entbürokratisierten „Bürgergesellschaft" mit den dazugehörigen sozial verantwortlichen „Unternehmenskulturen" sozusagen freiwillig ausgeglichen werden wird; so funktionieren Märkte sicher nicht.


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