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TEILDOKUMENT:
Perspektiven für die Mitbestimmung - Positionspapier [Seite der Druckausg.: 11 ]
[Fn 1: Das Papier ist das vorläufige Ergebnis eines Diskussionsprozesses von Gewerkschaftern, Politikern und Wissenschaftlern/innen, die sich mit der Frage der zukünftigen Perspektiven von Mitbestimmung sowie den Handlungs- und Umsetzungsbedingungen auseinandersetzen. Dem Papier liegen außerdem schriftliche Ausführungen einiger Kollegen zum Thema zugrunde (vgl. Burchard Bösche, 24.11.1995: Si cherung der betriebsverfassungsrechtlichen Vertretung von Beschäftigten in Klein- und Mittelbetrieben, S. 1-8; Gerhard Leminsky, 30.11.1995: Vorläufige Überlegungen zu einem Positionspapier der FES/SPD zur Mitbestimmung, S. 1-4; Zweigbüro Düsseldorf der IGM, 30.10.1995: Mitbestimmung ist der erste Schritt zur Selbstbe stimmung, S. 1-14).]
Vorbemerkung
Angesichts eines tiefgreifenden und rasanten Wandels von Wirtschaft und Gesellschaft und weltweiter Umbrüche in den sozialen und ökonomischen Strukturen geraten bestehende Institutionen, Instrumente und Strategien unter erheblichen Veränderungsdruck. Auch die Mitbestimmung ist heute nicht mehr selbstverständlich. Die Diskussionen zum Standort Deutschland und zu den Perspektiven des Sozialstaates machen deutlich, daß auf der Suche nach zukunftsweisenden Entwicklungsmodellen auch die Mitbestimmung der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen eine wichtige Rolle spielen muß. Während die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Nachkriegszeit von einer politischen Kultur der Integration" (Dahrendorf) geprägt war, ist an deren Stelle heute eine facettenreiche Politik der sozialen Spaltung" (Dubiel/v. Friedeburg, 1995) getreten; der gestiegene Wohlstand der Bevölkerungsmehrheit wird konterkariert durch die Verarmung einer größer werdenden Minderheit. Vertreter einer neoklassischen/neoliberalen Position plädieren für Deregulierung, Privatisierung und den Abbau sozialer Leistungen und Standards, um die zukünftige Wettbewerbsposition zu verbessern. [Seite der Druckausg.: 12 ] Dabei bleibt außer acht, daß die Erfolge unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung entscheidend auf ihrer strikten Sozialbindung und einer sozialpartnerschaftlichen Betriebsverfassung beruhen (Lutz, 1982). Diese waren bisher wesentliche Elemente und Eckpunkte sowohl einer gewerkschaftlichen als auch einer sozialdemokratischen Modernisierungs- und Reformpolitik. In der politischen Debatte, aber auch im öffentlichen Bewußtsein spielen - so unser Eindruck - Fragen einer demokratischen Reorganisation der Wirtschaft und Gesellschaft durch Mitbestimmung und Beteiligung als zukunftsweisendes Konzept kaum mehr eine Rolle; aktuelle Probleme des deutsch-deutschen Zusammenwachsens und die Bewältigung struktureller Krisen sowie der Druck der Massenarbeitslosigkeit haben alle Kräfte absorbiert. Sind Beteiligung, Partizipation und Mitbestimmung der Beschäftigten und ihrer gewählten Vertreter/innen in einer Zeit, in der Standortfaktoren und Weltmarktentwicklungen Handlungsspielräume immer stärker einzuengen scheinen und - den Anzeichen nach zu urteilen - eine grundlegende Neubestimmung des Faktors Arbeit erfolgt, nicht hoffnungslos altmodische Konzepte, die kaum geeignet sind. Problemlösungskapazität aufzuzeigen und Modernisierungsimpulse zu geben? Ist nicht die Mitbestimmung eher ein Relikt der Industriegesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, die beim Übergang zur globalen Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts ausgedient hat und ihrer bisherigen Bedeutung beraubt wird? Wir wollen einer sehr negativen Argumentation nicht folgen, sondern sehen unter gegenwärtigen Bedingungen sowohl Anknüpfungspunkte an bewährte Politiken und Konzepte als auch neue und aussichtsreiche Ansatzpunkte für die Weiterentwicklung demokratischer Strukturen in der Wirtschaft und für die Mitbestimmung, wenn wir von den derzeitigen Realitäten ausgehen. Selbst auf der Unternehmerseite erlebt die Diskussion um Beteiligung, die Entwicklung von Unternehmenskulturen eine gewisse Renaissance. Dies ist der Ausgangspunkt für die weiteren Ausführungen. Ziel ist es, die bisherigen Diskussionen so zusammenzufassen, daß die aus unserer Sicht bedeutsamen Herausforderungen und Handlungsmöglichkeiten erkennbar werden. [Seite der Druckausg.: 13 ]
Veränderungen im Wirtschafts- und Beschäftigungssystem - Erosion der Mitbestimmungsbasis und -voraussetzungen?
Das bis in die achtziger Jahre dominierende wirtschaftspolitische Modell war gekennzeichnet durch eine antizyklische Nachfragesteuerung, den Ausbau sozialer Sicherungssysteme, einen starken öffentlichen Sektor und durch ein Modell gewachsener industrieller Beziehungen, in dem Gewerkschaften und Betriebsräte eine wichtige Rolle spielten. Kennzeichen und Besonderheit dieses Modells bestanden darin, daß volkswirtschaftliche Steuerung und soziale Integration der Gesellschaft im Rahmen einer einheitlichen Politik verfolgt werden konnten" (Dubiel/v. Friedeburg, 1995). Die Bedingungen für politisches Handeln haben sich u.a. durch die Globalisierung der Wirtschaft, die mit einem weltweiten Trend zur Deregulierung einhergeht, einschneidend gewandelt. Diese Entwicklungen beeinflussen die Möglichkeiten und das Verständnis von politischem Handeln insgesamt und die Möglichkeiten, als Interessenvertretung der Beschäftigten Einfluß auf Betriebs- und Unternehmensentscheidungen zu nehmen. Geht man von dem Mitbestimmungsbegriff aus, den Gerhard Leminsky in einem Forschungsprojekt der Hans-Böckler-Stiftung formuliert hat, dann muß Mitbestimmung ... gerade in einer Zeit von Umbrüchen und strukturellen Wandlungen als Ausprägung eines Rechts auf Arbeit gesehen werden, das eine Einflußnahme der Arbeitenden auf die Bedingungen zum Gegenstand hat, die ihre Arbeit betreffen und ihre Existenz berühren." (Leminsky, Sept. 1995, S. 7). Ausgehend von einem solchen Verständnis von Mitbestimmung stellt sich die Frage, welchen Veränderungen Arbeit und Existenz" gegenwärtig unterworfen sind? Der Wandel ist u.a. durch folgende Entwicklungen geprägt:
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So sind beispielsweise allein im Einzelhandel seit 1992 über 100.000 Vollzeitjobs verlorengegangen (HB, 21.12.1995, S. 3). Es sind jedoch nicht allein makro-ökonomische Prozesse, die die Rahmenbedingungen für betriebliches und politisches Handeln verändern, sondern auch in sich widersprüchliche und in den Konturen noch nicht eindeutig zu bestimmende soziale Trends und Entwicklungen, die einen grundlegenden Wandel der Ausgangsbedingungen für Mitbestimmung und Partizipation erkennen lassen. Nachdem in den siebziger und achtziger Jahren von einigen Apologeten das Ende der Arbeitsgesellschaft proklamiert wurde und es schien, als hätte sich die relativ enge Bindung der Sozialstruktur an die Entwicklung von Erwerbsarbeit und Beschäftigungsstruktur gelockert, wird heute erneut auf das Verhältnis von Arbeits- und Sozialstruktur für die Analyse von Veränderungsprozessen hingewiesen:
Mitbestimmung vor neuen Herausforderungen Fragt man, was die Entwicklungen für die Zukunft und die Zukunftsfähigkeit der Mitbestimmung bedeuten, so läßt sich dies überspitzt als Paradoxie beschreiben: Einerseits gefährden diese Entwicklungen die traditionellen Handlungsmuster der Belegschaftsvertretungen und Bedingungen für die Einflußnahme, andererseits gibt es Hinweise auf wachsenden Mitwirkungs- und Konsensbedarf vor dem Hintergrund des massiven Einsatzes [Seite der Druckausg.: 17 ] der Informations- und Kommunikationstechniken (I&K Techniken), neuer Organisationskonzepte und neuer" Ansprüche und Interessenlagen der Beschäftigten z.B. in Folge eines allgemein gestiegenen Bildungsniveaus. In der Bundesrepublik Deutschland haben gesetzliche Regelungen als Grundlage und Ausgangspunkt der Mitbestimmung einen hohen Stellenwert. Die daraus resultierende demokratische Infrastruktur" (Leminsky) ist ein wesentliches Element der Kooperation und Konfliktregelung in Betrieben, Unternehmen und Behörden. Sie wird im internationalen Vergleich als Standortvorteil gewertet. Ob diese Strukturen zukünftig ausreichen, das heißt dem Regelungsgegenstand und dem Regelungsbedarf noch angemessen sind oder modifiziert werden müssen und um welche Elemente sie gegebenenfalls zu ergänzen wären, sind zentrale Fragen, denen sich eine Diskussion um die Perspektiven der Mitbestimmung zu stellen hat. Es mehren sich Anzeichen dafür, daß das bisherige System industrieller Beziehungen durch die beschriebenen Entwicklungen und Tendenzen einer schleichenden Aushöhlung zum Opfer fällt und es zu einem Bedeutungsverlust der traditionellen Institutionen und Politikformen der Interessenvertretung kommt:
Unter solchen veränderten Rahmenbedingungen mitzubestimmen und gestaltend Einfluß zu nehmen, setzt voraus, daß man Abläufe und Wirkungen einschätzen und beurteilen kann, daß man in den Entscheidungsprozeß einbezogen ist und über entsprechende Informationsgrundlagen verfügt. Auch von einigen Vertretern des Managements wird inzwischen zugestanden, daß es zunehmend schwieriger wird, unter solch komplexen und fragilen Bedingungen allein von der Spitze her Entscheidungen zu treffen und geeignete Produktions-, Organisations- und Absatzstrategien zu entwickeln. Ehemalige Vorreiter neuer Management- und Unternehmenskonzepte geben heute zu, daß viele der Projekte und Maßnahmen - nicht zuletzt an den Führungskräften selbst - gescheitert sind. Bricht damit quasi aufgrund einer immanenten Logik ein Zeitalter der Mitgestaltung und Mitbestimmung an oder ist damit eine Vision skizziert, nach der der traditionelle Arbeitnehmertypus zukünftig (zumindest in einigen Wirtschaftszweigen und Branchen) von einem neuen, von allen kollektiven Regelungen befreiten" Selbständigen abgelöst wird? Entwicklungen in diese Richtung sind in einigen Dienstleistungsbereichen und z.B. im Transportwesen bereits erkennbar. Solche Tendenzen stellen die Wirksamkeit der bisherigen institutionalisierten Vertretungsformen für diese Bereiche generell in Frage. Trotz der neuen Mitarbeiterorientierung" gibt es keinen Automatismus in Richtung auf eine umfassende Dezentralisierung von Verantwortlichkeiten und Kompetenzen. Die Breitenwirkung solcher Ansätze ist ebenfalls bisher sehr begrenzt. Obwohl von fortschrittlichen Managern und Beratern der Stellenwert der Mitarbeiter/innen für die Innovation und die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft in einem Atemzug genannt wird, gibt es nur wenige Unternehmen, die in der betrieblichen Praxis auf die Fähigkeit ihrer Mitarbeiter/innen zur Mitentscheidung und Mitverantwortung setzen bzw. wenn, dann überwiegend im Sinne einer auf kurzfristige Kostensenkungen bzw. Produktivitätsverbesserungen angelegten Managementstrategie, obwohl es ungewöhnlich erfolgreiche Beispiele beteiligungsorientierter Unternehmen gibt. [Seite der Druckausg.: 20 ] Gleichwohl liegt hier ein entscheidender Anknüpfungspunkt für eine zukunftsorientierte Mitbestimmungspolitik, die auch dem Wandel auf der Angebotsseite", der auf Veränderungen der Sozialstruktur und einer Pluralisierung von Orientierungen und Wertvorstellungen basiert, stärker Rechnung tragen könnte: dem gestiegenen Qualifikationsniveau der Beschäftigten, höherer schulischer und beruflicher Bildung, Ansprüchen an eine interessante und abwechslungsreiche Arbeit sowie das gestiegene Selbstbewußtsein bei der Artikulation von Interessen und die oben beschriebenen Individualisierungstendenzen (Baethge, 1995). Zukünftig besteht eine wichtige Aufgabe darin, Aktivitäten und Aktionsformen zu entwickeln, die die Attraktivität und das Image der Interessenvertretung für die Beschäftigten erhöhen - indem die Sachzusammenhänge zwischen wirtschaftlicher Entwicklung, sozialen Bedürfnissen und persönlicher Motivation deutlich gemacht werden. Da von zunehmenden Differenzierungen in den Lebenslagen und Dispositionen der Arbeitnehmer/innen auszugehen ist, muß eine zukunftsorientierte Mitbestimmungspolitik darauf abzielen, neben den unterschiedlichen wirtschaftlichen Strukturen den jeweiligen sozialen Lagen und spezifischen Milieus stärker Rechnung zu tragen. Dieses Ziel kann nur erreicht werden, wenn ein Bestand an einheitlichen bzw. verallgemeinerbaren Interessen im Rahmen solcher Pluralisierungstendenzen so formuliert werden kann, daß er genügend integrative Kraft für solidarische Ansätze zu entwickeln vermag. Bei den Betriebsräten gibt es Anzeichen dafür, daß der sich abzeichnende Generationenwechsel möglicherweise diesen Wandel nachvollzieht und hier ein verändertes Aufgabenverständnis, veränderte Vertretungsstile und neue inhaltliche Akzentsetzungen befördert.
Mitbestimmung als Innovations- und Modernisierungsresource?
Neue Organisations- und Personaleinsatzkonzepte, die in den neunziger Jahren offenbar Hochkonjunktur haben, betonen die strategische Bedeutung der Beschäftigten, ihres Know-hows, ihres Engagements und ihrer Motivation für Innovationen und den wirtschaftlichen Erfolg. Im Rahmen [Seite der Druckausg.: 21 ] von Gruppenarbeit, Projektmanagement in Teams, abgeflachten Hierarchiestufen und der Dezentralisierung von Zuständigkeiten und Verantwortung ist ein moderner" MitarbeiterInnentyp gefragt, der den veränderten Anforderungen entspricht. Der auf dem Mannheimer Parteitag der SPD im November 1995 beschlossene Antrag zur Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Finanzpolitik. Arbeitsplätze für Deutschland" spricht u.a. diese Modernisierungsperspektive an und verknüpft sie mit Forderungen zu Partizipation und Mitbestimmung. Wenn die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei der Modernisierung der Wirtschaft ihr ganzes Können und Wissen einbringen sollen, dann müssen in den Betrieben verkrustete Hierarchien überwunden und neue motivierende Organisationsformen geschaffen werden. Durch Beteiligung der Mitarbeiter an den Entscheidungen und am Eigentum ihrer Betriebe wird ein zusätzlicher Motivationsschub erreicht. Dazu gehört ein verbessertes Betriebsverfassungsgesetz, das um die Belange des betrieblichen Umweltschutzes ergänzt wird, ebenso wie die Ausweitung paritätischer Mitbestimmung." Notwendig wäre es, diese Überlegungen zu konkretisieren und weiterzuentwickeln und in ein wirtschafts- und sozialpolitisches Modernisierungskonzept zu integrieren. Ein solches Modernisierungskonzept hätte zu berücksichtigen, daß extrem unterschiedliche und uneinheitliche Entwicklungstrends in verschiedenen Wirtschaftszweigen nicht nur entlang der Kategorien Zukunftsbranchen - Branchen im Strukturwandel - altindustrielle Branchen verlaufen, sondern auch im Sinne von Modernisierungsgewinnern" und Modernisierungsverlierern" (Kern/Schumann, 1984) innerhalb von Betrieben. Auch Leminsky geht in seiner Studie auf ökonomische und innovative Elemente der Mitbestimmung ein und sieht das moderne Innovationspotential der Mitbestimmung in der Wechselbeziehung zwischen wirtschaftlicher und sozialer Bedeutung. Mitbestimmung kann nicht nur als Element von gesellschaftlicher Demokratisierung betrachtet werden, sie ist gleicherweise wirtschaftliche Produktivkraft und wichtiges Element zur Sicherung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit. Nur der informierte, qualifizierte, engagierte und [Seite der Druckausg.: 22 ] motivierte Arbeitnehmer kann mit den modernen Organisationsformen und Techniken so umgehen, daß ihre ökonomischen Möglichkeiten ausgeschöpft werden. Dies bedeutet nicht, daß die Mitbestimmung ihre sozialen und gesellschaftlichen Ursprünge verleugnet, aber sie muß sich ebenso aktiv und konkret mit den wirtschaftlichen Zusammenhängen auseinandersetzen. Sie kann auch aus diesen Zusammenhängen Druck und Kraft entwickeln, was allerdings Einfluß auf Formen und Praxis der Mitbestimmung hat, weil sie sich ausdrücklich auf die Mitgestaltung solcher Fragen einlassen muß." (Leminsky, Sept. 1995, S. 5) Und, was nicht zu vernachlässigen ist: Neben der Mitgestaltung muß auch stets die Schaffung von Grundlagen und Voraussetzungen zur Mitbestimmung in kleinen Betrieben beachtet werden. Es geht somit um die Überprüfung von gesetzlichen Regelungen und um die Möglichkeiten direkter Beteiligung, wobei zumindest in großen und kleinen Unternehmen bzw. Betrieben sehr unterschiedliche Probleme zu beachten sind. Ein Hauptpunkt wird sein, die Vielfalt realer Entwicklungen und Interessen mit einheitlichem Anspruch auf Wahrung von Grundrechten und Entfaltungsmöglichkeiten zu verbinden.
Ansätze zur Entwicklung einer Reformperspektive
Es scheint, als habe der wirtschaftliche und politische Zusammenbruch der Ostblockstaaten nicht nur die geopolitische Lage tiefgreifend verändert, sondern auch die gesellschaftlichen Reformdiskussionen und -projekte jäh zum Stillstand gebracht. Die gewerkschaftlichen Zukunftsdebatten und Modernisierungsansätze wurden in der Folge der Wiedervereinigung und der massiven sozialen und wirtschaftlichen Folgen des Transformationsprozesses überlagert von akuten Fragen zur Bewältigung des Umbruchs. Reformthemen rückten angesichts der Krisenentwicklungen in den Hintergrund und sind nur mühsam wieder in die politische Debatte zu bringen. Von einer offensiv geführten Gestaltungsdebatte ist gegenwärtig kaum etwas zu spüren. Obwohl man den Eindruck gewinnen kann, daß die damaligen Ansätze und Forderungen auch heute noch in hohem Maße bedeutsam sind, läßt sich der Faden an der damaligen Stelle nicht einfach wiederaufgreifen. [Seite der Druckausg.: 23 ] Vielmehr muß in einer aktuellen Diskussion um gesellschaftliche Zukunftsprojekte den veränderten und sich permanent ändernden Bedingungen Rechnung getragen werden. Gefordert sind also intelligente Ansätze und Konzepte, die unter erschwerten sozio-ökonomischen Bedingungen umsetzbar sind. Sie müssen die Vielfalt und Pluralisierung der tatsächlichen Entwicklungen zum Ausgang nehmen, obwohl doch die bisherigen Gestaltungsvorstellungen weitgehend von einheitlichen Regeln geprägt waren. Sie müssen in einer Zeit der Massenarbeitslosigkeit für Arbeit und Beschäftigung Perspektiven eröffnen, die eine menschenwürdige materielle Existenz, Entfaltung und Engagement in einer beruflichen Tätigkeit zulassen. Sie müssen dabei den geringen öffentlichen Spielraum mit weitgehend leeren öffentlichen Kassen, den einzelbetrieblichen Rationalisierungsdruck und die zunehmende Globalisierung der Wirtschaft in Betracht ziehen. Die vorliegenden Theorieansätze und Politikmuster sind nur begrenzt hilfreich für die Lösung dieser Probleme. Für die notwendige Entwicklung eines Leitbildes der Mitbestimmung sollten deshalb zunächst Eckpunkte, Elemente und Grundlagen für eine Reform- und Modernisierungsperspektive zusammengetragen werden. Am Anfang einer solchen Leitbilddiskussion steht dann die normative Forderung nach einem Grundrecht auf Mitbestimmung. Diese läßt sich aus dem Demokratieprinzip ableiten, wonach nicht nur der Betrieb kein demokratiefreier Raum sein darf, sondern auch die Frage rechtfertigt, wie die Industriegesellschaft zukünftig auf das Globalisierungsargument reagieren wird (Herrschaft des Marktes oder Rückkehr der Politik). Schließlich ist die Arbeitswelt für den Großteil der Menschen in einem Industriestaat prägend. Der Interessengegensatz zwischen Arbeit und Kapital soll dabei keineswegs aufgelöst werden. Dieses Leitbild braucht ein einheitliches Grundverständnis, das mit Differenzierung, Vielfalt und Komplexität vereinbar sein muß. Es braucht weiterhin eine tatsächliche Verankerung in Betrieben, Unternehmen und Verwaltungen, die an den Problemen, aber auch an den Potentialen der arbeitenden Menschen ansetzt und ihnen Ausdruck verleiht. Mitbestimmung schließt damit unmittelbare Beteiligung ein, braucht aber auch institutionelle Regelungen für die Abstimmung und Durchsetzung solcher Interessen sowie ihre Verknüpfung mit betrieblichen Abläufen und ökonomischen Rahmenbedingungen. [Seite der Druckausg.: 24 ]
Mit diesen vier Teilaspekten zu den Zukunftsperspektiven der Mitbestimmung sind jedoch noch nicht alle Fragen erfaßt. Als Stichworte sollen an dieser Stelle folgende Sachverhalte genannt werden:
Umsetzung und weitere Arbeitsschritte Neben Fragen der inhaltlichen Ausrichtung eines solchen Reformansatzes müssen pragmatisch-strategische Fragen der Umsetzung gleichrangig diskutiert werden. Eine zukunftsorientierte Modernisierungs- und Reformperspektive kann nur dann Zustimmung und Unterstützung erhalten und wirksam werden, wenn praktikable Politikansätze und Strategien aufgezeigt werden können. Dies bedeutet, daß Mitbestimmung als Verfahrensregelung für die Beteiligung und Mitgestaltung durch die Arbeitnehmer und ihre Interessenvertretungen auf den verschiedenen Ebenen insbesondere von Betrieb und Unternehmen nur dann mobilisierende Kraft entfalten kann, wenn sie mit Inhalten verbunden wird, die die Menschen wirklich bewegen. Dies ist zur Zeit ohne Zweifel die Frage von Arbeit und Beschäftigung. Welchen konkreten Stellenwert Mitbestimmung dabei haben kann, sollte vor allem an praktischen Beispielen diskutiert werden. Exemplarisch können dafür auf der Mikroebene des Unternehmens die VW-Lösung zur Sicherung von Arbeitsplätzen und, bezogen auf die Makroebene der Volkswirtschaft und der Branche, das Bündnis für Arbeit" der IG Metall ausgewählt werden. An beiden Fällen kann man wie in einem Brennglas das Zusammenwirken [Seite der Druckausg.: 30 ] von Staat, Tarifpolitik und Mitbestimmung aufzeigen und innerhalb der Mitbestimmung wiederum das Ineinandergreifen von Mitbestimmung im Aufsichtsrat, Aufgaben des arbeitsdirektorialen Bereiches sowie den Aktivitäten der Betriebsräte in Rückkoppelung mit den Gewerkschaften und der Tarifpolitik darstellen, um Rückhalt und Akzeptanz für neue Vorschläge zu gewinnen. Bündnis für Arbeit, Branchendialoge und grundlegende Betriebsvereinbarungen sind Ausdruck einer Mitbestimmung in moderner Form, die gestaltendes Element einer sozialen Demokratie sein will. Diese prozeßhafte Verknüpfung von Inhalten und Verfahrensregeln an praktischen Fällen ist politisch und praktisch überzeugender als ein bloß theoretischer Diskurs" über diese Fragen (selbst wenn eine stärkere Auseinandersetzung der Wissenschaft mit diesen Problemen wünschenswert wäre). Konkrete Beispiele können Veränderungen auslösen, und ohne solche Bewegungen sind keine neuen politischen Rahmenbedingungen durchsetzbar. In einer solchen Entwicklung zeigt sich, wie sich ein neues Leitbild der Mitbestimmung konkretisiert: nicht durch flächendeckende Ablösung von Systemvorstellungen, sondern durch eine neue Praxis, die konflikthaft wie kooperativ alte Denkweisen und Praktiken nach und nach verdrängt. Gerade weil sich wirtschaftliche und soziale Veränderungen gegenwärtig so schnell vollziehen, ist es Aufgabe der Gesetzgebung, einerseits Stabilität im Sinne von Lernprozessen, von Offenheit und von Vielfalt zuzulassen, andererseits aber im Rahmen dieser Stabilität bewußten Raum für flexible Ausgestaltungen an Tarif- und Betriebsparteien zu geben. Ein Teil der rechtspolitischen Begleitung erfolgt dabei über Novellierungen der Betriebsverfassung bzw. der Personalvertretungsgesetze, über Veränderungen im Arbeits- und Wirtschaftsrecht sowie über eine Einflußnahme auf die Unternehmensmitbestimmung im Zusammenhang mit der kleinen Aktienrechtsreform, letztlich auch über die Rechtsprechung, die mehr denn je auf die Rückkoppelung zu den realen Entwicklungen angewiesen ist, wenn sie nicht zu wirklichkeitsfremden Schlußfolgerungen kommen soll. Was bei der Umsetzung und Konkretisierung der Mitbestimmung not tut, sind somit integrierte Politikansätze, die gleicherweise eine neue Praxis der Mitbestimmung begünstigen und damit auch das Leitbild einer moder- [Seite der Druckausg.: 31 ] nen Mitbestimmung wirklichkeitsnah ausgestalten. Dies ist nicht nur eine Herausforderung für die Gewerkschaften und die Arbeitgeber- und Unternehmerverbände selbst, für das Management und die Unternehmensleitungen in großen und kleinen Unternehmen, sondern gleicherweise auch für die Sozialdemokratische Partei, wo die Mitbestimmung immer noch als ein Problem von Spezialisten für Spezialisten behandelt wird.
Literatur
Baethge, M.: Neue Organisationskonzepte und die aktuelle Krise des dualen Systems, in: Müntefering, F. (Hrsg.): Jugend Beruf Zukunft: Modernisierung der Wirtschaft - Modernisierung der beruflichen Bildung, Marburg 1995 Beck, U., E. Beck-Gernsheim (Hrsg.): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1994 Bösche, B.: Sicherung der betriebsverfassungsrechtlichen Vertretung von Beschäftigten in Klein- und Mittelbetrieben, Manuskript vom 24.11.1995, S. 1-8 Champy, J.: Reengineering im Management - Die Radikalkur für die Unternehmensführung, Frankfurt a.M. 1995 Dubiel, H., L. v. Friedeburg: Gemeinsam tun, was alle echten Forscher immer getan haben, Memorandum, Frankfurt a.M. 1995 Höhn, H.-J.: Die Moderne, der Markt und die Moral, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 51/95,15. Dezember 1995 Kern, H., M. Schumann: Das Ende der Arbeitsteilung? Rationalisierung der industriellen Produktion, München 1984 Klages, H.: Wertewandel in Deutschland, in: Die politische Meinung, 37. Jg., Heft 267, 2/1992, S. 41-49 Leminsky, G.: Projekt Perspektiven für die Mitbestimmung". Interne Zwischenberichte 1-4, Düsseldorf, Februar 1994, Juli 1994, März 1995, September 1995 Leminsky, G.: Vorläufige Überlegungen zu einem Positionspapier der FES/SPD zur Mitbestimmung, Papier vom 30.11.1995, S. 1 - 4 Lutz, B.: Kapitalismus ohne Reservearmee?, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 4/1982, S. 342ff. Riester, W.: Scheinselbständigkeit als Gipfel der Souveränität, in: Frankfurter Rundschau vom 20.12.1995 Schumann, M., V. Baethge-Kinsky, M. Kuhlmann, C. Kurz, U. Neumann: Trendreport Rationalisierung, Automobilindustrie, Werkzeugmaschinenbau, Chemische Industrie, Berlin 1994 Zinn, K.G.: Der Weg in die Krise des tertiären Sektors, in: Widerspruch, Heft 25,1993 Zweigbüro Düsseldorf der IGM: Mitbestimmung ist der erste Schritt zur Selbstbestimmung, Entwurf vom 30.10.1995, S. 1-14 © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 2000 |