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Ruth Brandherm/Thomas Zuleger
Perspektiven für die Mitbestimmung - Positionspapier 1

[Fn 1: Das Papier ist das vorläufige Ergebnis eines Diskussionsprozesses von Gewerkschaftern, Politikern und Wissenschaftlern/innen, die sich mit der Frage der zukünftigen Perspektiven von Mitbestimmung sowie den Handlungs- und Umsetzungsbedingungen auseinandersetzen. Dem Papier liegen außerdem schriftliche Ausführungen einiger Kollegen zum Thema zugrunde (vgl. Burchard Bösche, 24.11.1995: Si cherung der betriebsverfassungsrechtlichen Vertretung von Beschäftigten in Klein- und Mittelbetrieben, S. 1-8; Gerhard Leminsky, 30.11.1995: Vorläufige Überlegungen zu einem Positionspapier der FES/SPD zur Mitbestimmung, S. 1-4; Zweigbüro Düsseldorf der IGM, 30.10.1995: Mitbestimmung ist der erste Schritt zur Selbstbe stimmung, S. 1-14).]

Vorbemerkung

Angesichts eines tiefgreifenden und rasanten Wandels von Wirtschaft und Gesellschaft und weltweiter Umbrüche in den sozialen und ökonomischen Strukturen geraten bestehende Institutionen, Instrumente und Strategien unter erheblichen Veränderungsdruck. Auch die Mitbestimmung ist heute nicht mehr selbstverständlich.

Die Diskussionen zum Standort Deutschland und zu den Perspektiven des Sozialstaates machen deutlich, daß auf der Suche nach zukunftsweisenden Entwicklungsmodellen auch die Mitbestimmung der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen eine wichtige Rolle spielen muß.

Während die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Nachkriegszeit von einer „politischen Kultur der Integration" (Dahrendorf) geprägt war, ist an deren Stelle heute eine „facettenreiche Politik der sozialen Spaltung" (Dubiel/v. Friedeburg, 1995) getreten; der gestiegene Wohlstand der Bevölkerungsmehrheit wird konterkariert durch die Verarmung einer größer werdenden Minderheit. Vertreter einer neoklassischen/neoliberalen Position plädieren für Deregulierung, Privatisierung und den Abbau sozialer Leistungen und Standards, um die zukünftige Wettbewerbsposition zu verbessern.

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Dabei bleibt außer acht, daß die Erfolge unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung entscheidend auf ihrer strikten Sozialbindung und einer sozialpartnerschaftlichen Betriebsverfassung beruhen (Lutz, 1982). Diese waren bisher wesentliche Elemente und Eckpunkte sowohl einer gewerkschaftlichen als auch einer sozialdemokratischen Modernisierungs- und Reformpolitik.

In der politischen Debatte, aber auch im öffentlichen Bewußtsein spielen - so unser Eindruck - Fragen einer demokratischen Reorganisation der Wirtschaft und Gesellschaft durch Mitbestimmung und Beteiligung als zukunftsweisendes Konzept kaum mehr eine Rolle; aktuelle Probleme des deutsch-deutschen Zusammenwachsens und die Bewältigung struktureller Krisen sowie der Druck der Massenarbeitslosigkeit haben alle Kräfte absorbiert.

Sind Beteiligung, Partizipation und Mitbestimmung der Beschäftigten und ihrer gewählten Vertreter/innen in einer Zeit, in der Standortfaktoren und Weltmarktentwicklungen Handlungsspielräume immer stärker einzuengen scheinen und - den Anzeichen nach zu urteilen - eine grundlegende Neubestimmung des Faktors Arbeit erfolgt, nicht hoffnungslos altmodische Konzepte, die kaum geeignet sind. Problemlösungskapazität aufzuzeigen und Modernisierungsimpulse zu geben? Ist nicht die Mitbestimmung eher ein Relikt der Industriegesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, die beim Übergang zur globalen Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts ausgedient hat und ihrer bisherigen Bedeutung beraubt wird?

Wir wollen einer sehr negativen Argumentation nicht folgen, sondern sehen unter gegenwärtigen Bedingungen sowohl Anknüpfungspunkte an bewährte Politiken und Konzepte als auch neue und aussichtsreiche Ansatzpunkte für die Weiterentwicklung demokratischer Strukturen in der Wirtschaft und für die Mitbestimmung, wenn wir von den derzeitigen Realitäten ausgehen. Selbst auf der Unternehmerseite erlebt die Diskussion um Beteiligung, die Entwicklung von Unternehmenskulturen eine gewisse Renaissance.

Dies ist der Ausgangspunkt für die weiteren Ausführungen. Ziel ist es, die bisherigen Diskussionen so zusammenzufassen, daß die aus unserer Sicht bedeutsamen Herausforderungen und Handlungsmöglichkeiten erkennbar werden.

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Veränderungen im Wirtschafts- und Beschäftigungssystem - Erosion der Mitbestimmungsbasis und -voraussetzungen?

Das bis in die achtziger Jahre dominierende wirtschaftspolitische Modell war gekennzeichnet durch eine antizyklische Nachfragesteuerung, den Ausbau sozialer Sicherungssysteme, einen starken öffentlichen Sektor und durch ein Modell gewachsener industrieller Beziehungen, in dem Gewerkschaften und Betriebsräte eine wichtige Rolle spielten. Kennzeichen und Besonderheit dieses Modells bestanden darin, daß „volkswirtschaftliche Steuerung und soziale Integration der Gesellschaft im Rahmen einer einheitlichen Politik verfolgt werden konnten" (Dubiel/v. Friedeburg, 1995).

Die Bedingungen für politisches Handeln haben sich u.a. durch die Globalisierung der Wirtschaft, die mit einem weltweiten Trend zur Deregulierung einhergeht, einschneidend gewandelt. Diese Entwicklungen beeinflussen die Möglichkeiten und das Verständnis von politischem Handeln insgesamt und die Möglichkeiten, als Interessenvertretung der Beschäftigten Einfluß auf Betriebs- und Unternehmensentscheidungen zu nehmen.

Geht man von dem Mitbestimmungsbegriff aus, den Gerhard Leminsky in einem Forschungsprojekt der Hans-Böckler-Stiftung formuliert hat, dann muß Mitbestimmung „... gerade in einer Zeit von Umbrüchen und strukturellen Wandlungen als Ausprägung eines Rechts auf Arbeit gesehen werden, das eine Einflußnahme der Arbeitenden auf die Bedingungen zum Gegenstand hat, die ihre Arbeit betreffen und ihre Existenz berühren." (Leminsky, Sept. 1995, S. 7).

Ausgehend von einem solchen Verständnis von Mitbestimmung stellt sich die Frage, welchen Veränderungen „Arbeit und Existenz" gegenwärtig unterworfen sind?

Der Wandel ist u.a. durch folgende Entwicklungen geprägt:

  • Ein langfristiger sektoraler Strukturwandel, der mit einer Anteilsverschiebung der Sektoren Landwirtschaft, Industrie und des Dienstleistungsbereiches einhergeht. Ursächlich dafür ist vor allem das Zusammenspiel von Produktivitätsanstieg und Sättigungstendenzen (Zinn, 1993, S. 28). Die Daten und Befunde zeigen, daß der tertiäre Sektor ökonomisch und beschäftigungspolitisch an Bedeutung gewinnt.

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  • Neben den quantitativen Verschiebungen zwischen den Wirtschaftssektoren sind qualitative Veränderungen innerhalb der Sektoren zu verzeichnen. In Bereichen des industriellen Sektors, aber auch in einigen Bereichen des Dienstleistungssektors zeichnet sich eine Dezentralisierung der Produktion, aber gleichzeitig eine immer stärkere Machtkonzentration in den Konzernzentralen ab. Auslagerungen, neue Selbständige und Telearbeit sind einige für die Mitbestimmungsdiskussion wichtige Trends.

  • Der weltweite Kosten-, Qualitäts- und Innovationswettbewerb in den Industrieunternehmen wird mit veränderten betrieblichen Organisationsprinzipien verknüpft. Schumann u.a. (1994) kennzeichnen sie folgendermaßen:
    • ökonomisch als Prinzip der Durchsetzung verschärfter Kostenkalküle,
    • technisch als Prinzip (gemäßigt) fortschreitender Automatisierung und informations- sowie kommunikationstechnischer Integration,
    • organisatorisch als Prinzip integrierter und flexibler Wertschöpfungs- und Arbeitsprozesse (Baethge, 1995, S. 38).

  • Die rasche und massive Verbreitung moderner Informations- und Kommunikationstechnologien, ihre Integration und Vernetzung verändert nicht nur die Arbeit in Produktion und Verwaltung tiefgreifend und führt zur Reduzierung von Routinetätigkeiten, zu Veränderungen der Qualifikationsanforderungen und zu neuen Optionen beim Zuschnitt und der Organisation von Arbeitsabläufen, sondern durch die informationstechnische Vernetzung eröffnen sich für die Unternehmen neue Möglichkeiten der Ver- oder Auslagerung ganzer Arbeits- und Funktionsbereiche z.B. in rechtlich selbständige Profitcenter.

  • Die gesellschaftliche Organisation der Arbeit ist durch eine verschärfte Segmentation der Arbeitsmärkte und durch die Ausgrenzung wachsender Gruppen der Bevölkerung gekennzeichnet; wir erleben gegenwärtig zudem einen Wandel des Arbeitsmarktes und der Arbeitsverhältnisse, in dem das traditionelle Normalarbeitsverhältnis erodiert; die Zahl der ArbeitnehmerInnen in unbefristeten Dauerarbeitsverhältnissen sinkt und befristete, sozial nicht abgesicherte Beschäftigungsformen nehmen zu.

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    So sind beispielsweise allein im Einzelhandel seit 1992 über 100.000 Vollzeitjobs verlorengegangen (HB, 21.12.1995, S. 3).

  • Die langanhaltende Massenarbeitslosigkeit führt zu einer erheblichen Belastung der sozialen Sicherungssysteme, sozialen Ausgrenzungsprozessen und Armut und als Folge davon sogar zu einer schleichenden Mentalitätsveränderung und Gewöhnung an soziale Probleme und Ungerechtigkeit.

Es sind jedoch nicht allein makro-ökonomische Prozesse, die die Rahmenbedingungen für betriebliches und politisches Handeln verändern, sondern auch in sich widersprüchliche und in den Konturen noch nicht eindeutig zu bestimmende soziale Trends und Entwicklungen, die einen grundlegenden Wandel der Ausgangsbedingungen für Mitbestimmung und Partizipation erkennen lassen. Nachdem in den siebziger und achtziger Jahren von einigen Apologeten das Ende der Arbeitsgesellschaft proklamiert wurde und es schien, als hätte sich die relativ enge Bindung der Sozialstruktur an die Entwicklung von Erwerbsarbeit und Beschäftigungsstruktur gelockert, wird heute erneut auf das Verhältnis von Arbeits- und Sozialstruktur für die Analyse von Veränderungsprozessen hingewiesen:

  • In einer solchen Sichtweise geraten die Bildungsexpansion, Migrationsbewegungen, demographische Entwicklung, das veränderte Erwerbsverhalten von Frauen, veränderte Ansprüche an Arbeits- und Berufstätigkeit, Veränderungen im Konsum- und Freizeitverhalten u.a. ins Blickfeld.

  • Unter dem Stichwort „Individualisierung" werden Phänomene der Vereinzelung und der Entsolidarisierung, aber auch der Entstehung gänzlich neuartiger Autonomiespielräume und Vergemeinschaftungsformen zusammengefaßt. „Chancen, Gefahren, Unsicherheiten der Biographie, die früher im Familienverbund, in der dörflichen Gemeinschaft, im Rückgriff auf ständische Regeln oder soziale Klassen definiert waren, müssen nun von den einzelnen selbst wahrgenommen, interpretiert, entschieden und bearbeitet werden." (Beck/Beck-Gernsheim, 1994, S. 15). Facetten dieser Entwicklung sind u.a.:
    1. „ Erosion und abnehmende Bindungswirkung traditioneller Sozialzusammenhänge (z.B. Klasse, Schicht, Milieu, Konfession);

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    2. Lösung von Lebenslauf und Lebensstil aus überkommenen Standards (Rollen, geschlechtsspezifische Festlegungen, Weltanschauung);
    3. Pluralisierung von Lebensformen, Moral- und Sinnsystemen." (Höhn, 1995, S. 5)

    Die aufgezeigten Entwicklungen, Auflösungstendenzen und Differenzierungen machen auch vor gewachsenen betrieblichen Strukturen und ehemals bewährten Strategien nicht halt und fordern auf zur Reflexion über angemessene Formen der Repräsentation, Einbeziehung und Mitwirkung der Beschäftigten, über das, was der einzelne und kleine Gruppen selber regeln und beeinflussen können, aber auch über das, was nur über Verträge und Gesetze, was nur durch kollektive oder repräsentative Plattformen zu gestalten ist.

  • Aus der Forschung zur politischen Kultur läßt sich - nicht nur für die Bundesrepublik Deutschland - der Befund entnehmen, daß zwar im Hinblick auf politische Eliten und Parteien eine „Politikverdrossenheit" besteht, diese sich jedoch nicht generell auf das demokratische politische System und eigene Beteiligungswünsche und -interessen bezieht. Neben frustrierten, „autoritätsgläubigen Zeitgenossen" findet sich auch der Typus eines/r interessierten kritischen Zeitgenossen/össin, die/der zwar immer weniger Vertrauen in und Interesse an traditionellen Vertretungsformen und -strukturen hat, jedoch ansprechbar ist für Mitwirkung und Beteiligung an politischen Entscheidungen und Veränderungsprozessen. Daneben hat Helmut Klages in seinen empirischen Analysen auch einen Mischtyp, den „aktiven Realisten", gefunden, der „ebenso disziplinfähig und einfügungsbereit wie auch zu einem kritischen Engagement fähig ist" (Klages, 1992, S. 46).


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Mitbestimmung vor neuen Herausforderungen

Fragt man, was die Entwicklungen für die Zukunft und die Zukunftsfähigkeit der Mitbestimmung bedeuten, so läßt sich dies überspitzt als Paradoxie beschreiben: Einerseits gefährden diese Entwicklungen die traditionellen Handlungsmuster der Belegschaftsvertretungen und Bedingungen für die Einflußnahme, andererseits gibt es Hinweise auf wachsenden Mitwirkungs- und Konsensbedarf vor dem Hintergrund des massiven Einsatzes

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der Informations- und Kommunikationstechniken (I&K Techniken), neuer Organisationskonzepte und „neuer" Ansprüche und Interessenlagen der Beschäftigten z.B. in Folge eines allgemein gestiegenen Bildungsniveaus.

In der Bundesrepublik Deutschland haben gesetzliche Regelungen als Grundlage und Ausgangspunkt der Mitbestimmung einen hohen Stellenwert. Die daraus resultierende „demokratische Infrastruktur" (Leminsky) ist ein wesentliches Element der Kooperation und Konfliktregelung in Betrieben, Unternehmen und Behörden. Sie wird im internationalen Vergleich als Standortvorteil gewertet.

Ob diese Strukturen zukünftig ausreichen, das heißt dem Regelungsgegenstand und dem Regelungsbedarf noch angemessen sind oder modifiziert werden müssen und um welche Elemente sie gegebenenfalls zu ergänzen wären, sind zentrale Fragen, denen sich eine Diskussion um die Perspektiven der Mitbestimmung zu stellen hat.

Es mehren sich Anzeichen dafür, daß das bisherige System industrieller Beziehungen durch die beschriebenen Entwicklungen und Tendenzen einer schleichenden Aushöhlung zum Opfer fällt und es zu einem Bedeutungsverlust der traditionellen Institutionen und Politikformen der Interessenvertretung kommt:

  • Während in Großbetrieben und in Unternehmen mit einem hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad eine auf wechselseitige Akzeptanz der Rechte und Pflichten aufbauende Mitbestimmungstradition und Mitbestimmungskultur existiert, muß - vor allem bei Klein- und Mittelbetrieben - eher von „mitwirkungsarmen" bzw. „mitwirkungsfreien" Betrieben ausgegangen werden. Diese Problematik verschärft sich erheblich durch den Trend zu kleinbetrieblichen Strukturen selbst innerhalb von Konzernen und Großunternehmen. Somit ist bzw. bleibt eine der wesentlichen Herausforderungen für die Mitbestimmungspolitik, die Interessenvertretung von Beschäftigten in Klein- und Mittelbetrieben zu stärken. Ein Indiz für Handlungsbedarf auf diesem Feld liefert auch der Anteil der Betriebe, in denen überhaupt eine betriebliche Interessenvertretung existiert. Dieser liegt - Schätzungen zufolge - lediglich bei etwa 50%.

    Nach Auffassung von Burchard Bösche greifen in Wirtschaftszweigen und Branchen, in denen klein- und mittelgroße Betriebe dominieren, die

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    gegenwärtigen gesetzlichen Regelungen nicht oder unzureichend und werden den spezifischen Anforderungen einer wirkungsvollen Interessenvertretung in diesem Bereich nicht bzw. nicht ausreichend gerecht. Entsprechend vertritt er die Auffassung, daß eine Politik der Sicherung und Erweiterung der Mitbestimmung sich zunächst der Aufgabe stellen muß, in allen Betrieben die Einrichtung einer gesetzlichen Interessenvertretung sicherzustellen. Denn Mitbestimmung soll nicht nur die Beteiligung in neuen Produktions- und Leistungsstrukturen voranbringen, sie muß gleicherweise die elementaren Grundrechte der Arbeitenden dort im Blick haben, wo eine Artikulation und Vertretung von solchen Grundinteressen derzeit nicht möglich ist.

    Wie in solchen Einheiten Interessenvertretungsstrukturen aufgebaut werden können, gewinnt zukünftig einen noch größeren Stellenwert.

  • Die informationstechnisch gestützte Neustrukturierung von Unternehmen und Unternehmensverbünden und die Verlagerung von Unternehmensteilen kann dazu führen, daß Entscheidungen von der betrieblichen Interessenvertretung vor Ort nicht bzw. kaum noch zu beeinflussen sind, da alle unternehmerischen Entscheidungen von der Zentrale oder einem Kernunternehmen getroffen werden. Auswuchs einer solchen Entwicklung kann u.a. sein, daß Arbeitnehmer/innen am selben Standort aus verschiedenen Unternehmen mit unterschiedlichen und möglicherweise wechselnden tariflichen Ansprüchen und betriebsverfassungsrechtlichen Vertretungsstrukturen ausgestattet sind.

  • Immer größere Bevölkerungsgruppen gelangen nicht oder nicht mehr in das Beschäftigungssystem; sie verfügen über keinerlei Durchsetzungspotential, um auf eine Veränderung ihrer Situation einzuwirken. Wenn es in Zukunft nicht gelingt, z.B. durch eine Realisierung des „Bündnisses für Arbeit" sie in den Arbeitsmarkt zu integrieren, wird nicht nur die Verhandlungsmacht der noch Beschäftigten und ihrer Vertretungen geschwächt und bedroht, sondern drohen auch ein Kollaps der sozialen Sicherungssysteme und desaströse Folgen für die ganze Gesellschaft.

  • War vor noch nicht allzu langer Zeit das Kapital, verkörpert durch die Unternehmer, die Schaltstelle und Zentrale der ökonomischen Macht, so scheinen heute oftmals die Finanzmärkte und die Verflechtungen mit reinen Kapitalanlagegesellschaften mit ihren intransparenten Mechanismen und ihrer Zielsetzungen der kurzfristigen Gewinnmaximie-

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    rung wirtschaftliche Sachzwänge und Notwendigkeiten zu erzeugen, dem die Unternehmen entsprechen müssen, um im härter werdenden weltweiten Wettbewerb zu überleben. Wechselkursschwankungen können zudem Wirtschaftsstandorte in kürzester Zeit in Frage stellen.

Unter solchen veränderten Rahmenbedingungen mitzubestimmen und gestaltend Einfluß zu nehmen, setzt voraus, daß man Abläufe und Wirkungen einschätzen und beurteilen kann, daß man in den Entscheidungsprozeß einbezogen ist und über entsprechende Informationsgrundlagen verfügt. Auch von einigen Vertretern des Managements wird inzwischen zugestanden, daß es zunehmend schwieriger wird, unter solch komplexen und fragilen Bedingungen allein von der Spitze her Entscheidungen zu treffen und geeignete Produktions-, Organisations- und Absatzstrategien zu entwickeln. Ehemalige Vorreiter neuer Management- und Unternehmenskonzepte geben heute zu, daß viele der Projekte und Maßnahmen - nicht zuletzt an den Führungskräften selbst - gescheitert sind.

Bricht damit quasi aufgrund einer immanenten Logik ein Zeitalter der Mitgestaltung und Mitbestimmung an oder ist damit eine Vision skizziert, nach der der traditionelle Arbeitnehmertypus zukünftig (zumindest in einigen Wirtschaftszweigen und Branchen) von einem neuen, von allen kollektiven Regelungen „befreiten" Selbständigen abgelöst wird? Entwicklungen in diese Richtung sind in einigen Dienstleistungsbereichen und z.B. im Transportwesen bereits erkennbar. Solche Tendenzen stellen die Wirksamkeit der bisherigen institutionalisierten Vertretungsformen für diese Bereiche generell in Frage.

Trotz der „neuen Mitarbeiterorientierung" gibt es keinen Automatismus in Richtung auf eine umfassende Dezentralisierung von Verantwortlichkeiten und Kompetenzen. Die Breitenwirkung solcher Ansätze ist ebenfalls bisher sehr begrenzt. Obwohl von fortschrittlichen Managern und Beratern der Stellenwert der Mitarbeiter/innen für die Innovation und die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft in einem Atemzug genannt wird, gibt es nur wenige Unternehmen, die in der betrieblichen Praxis auf die Fähigkeit ihrer Mitarbeiter/innen zur Mitentscheidung und Mitverantwortung setzen bzw. wenn, dann überwiegend im Sinne einer auf kurzfristige Kostensenkungen bzw. Produktivitätsverbesserungen angelegten Managementstrategie, obwohl es ungewöhnlich erfolgreiche Beispiele beteiligungsorientierter Unternehmen gibt.

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Gleichwohl liegt hier ein entscheidender Anknüpfungspunkt für eine zukunftsorientierte Mitbestimmungspolitik, die auch dem Wandel auf der „Angebotsseite", der auf Veränderungen der Sozialstruktur und einer Pluralisierung von Orientierungen und Wertvorstellungen basiert, stärker Rechnung tragen könnte: dem gestiegenen Qualifikationsniveau der Beschäftigten, höherer schulischer und beruflicher Bildung, Ansprüchen an eine interessante und abwechslungsreiche Arbeit sowie das gestiegene Selbstbewußtsein bei der Artikulation von Interessen und die oben beschriebenen Individualisierungstendenzen (Baethge, 1995). Zukünftig besteht eine wichtige Aufgabe darin, Aktivitäten und Aktionsformen zu entwickeln, die die Attraktivität und das Image der Interessenvertretung für die Beschäftigten erhöhen - indem die Sachzusammenhänge zwischen wirtschaftlicher Entwicklung, sozialen Bedürfnissen und persönlicher Motivation deutlich gemacht werden.

Da von zunehmenden Differenzierungen in den Lebenslagen und Dispositionen der Arbeitnehmer/innen auszugehen ist, muß eine zukunftsorientierte Mitbestimmungspolitik darauf abzielen, neben den unterschiedlichen wirtschaftlichen Strukturen den jeweiligen sozialen Lagen und spezifischen Milieus stärker Rechnung zu tragen. Dieses Ziel kann nur erreicht werden, wenn ein Bestand an einheitlichen bzw. verallgemeinerbaren Interessen im Rahmen solcher Pluralisierungstendenzen so formuliert werden kann, daß er genügend integrative Kraft für solidarische Ansätze zu entwickeln vermag.

Bei den Betriebsräten gibt es Anzeichen dafür, daß der sich abzeichnende Generationenwechsel möglicherweise diesen Wandel nachvollzieht und hier ein verändertes Aufgabenverständnis, veränderte Vertretungsstile und neue inhaltliche Akzentsetzungen befördert.

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Mitbestimmung als Innovations- und Modernisierungsresource?

Neue Organisations- und Personaleinsatzkonzepte, die in den neunziger Jahren offenbar Hochkonjunktur haben, betonen die strategische Bedeutung der Beschäftigten, ihres Know-hows, ihres Engagements und ihrer Motivation für Innovationen und den wirtschaftlichen Erfolg. Im Rahmen

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von Gruppenarbeit, Projektmanagement in Teams, abgeflachten Hierarchiestufen und der Dezentralisierung von Zuständigkeiten und Verantwortung ist ein „moderner" MitarbeiterInnentyp gefragt, der den veränderten Anforderungen entspricht.

Der auf dem Mannheimer Parteitag der SPD im November 1995 beschlossene Antrag zur „Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Finanzpolitik. Arbeitsplätze für Deutschland" spricht u.a. diese Modernisierungsperspektive an und verknüpft sie mit Forderungen zu Partizipation und Mitbestimmung.

„Wenn die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei der Modernisierung der Wirtschaft ihr ganzes Können und Wissen einbringen sollen, dann müssen in den Betrieben verkrustete Hierarchien überwunden und neue motivierende Organisationsformen geschaffen werden. Durch Beteiligung der Mitarbeiter an den Entscheidungen und am Eigentum ihrer Betriebe wird ein zusätzlicher Motivationsschub erreicht. Dazu gehört ein verbessertes Betriebsverfassungsgesetz, das um die Belange des betrieblichen Umweltschutzes ergänzt wird, ebenso wie die Ausweitung paritätischer Mitbestimmung."

Notwendig wäre es, diese Überlegungen zu konkretisieren und weiterzuentwickeln und in ein wirtschafts- und sozialpolitisches Modernisierungskonzept zu integrieren. Ein solches Modernisierungskonzept hätte zu berücksichtigen, daß extrem unterschiedliche und uneinheitliche Entwicklungstrends in verschiedenen Wirtschaftszweigen nicht nur entlang der Kategorien Zukunftsbranchen - Branchen im Strukturwandel - altindustrielle Branchen verlaufen, sondern auch im Sinne von „Modernisierungsgewinnern" und „Modernisierungsverlierern" (Kern/Schumann, 1984) innerhalb von Betrieben.

Auch Leminsky geht in seiner Studie auf ökonomische und innovative Elemente der Mitbestimmung ein und sieht das moderne Innovationspotential der Mitbestimmung in der Wechselbeziehung zwischen wirtschaftlicher und sozialer Bedeutung.

„Mitbestimmung kann nicht nur als Element von gesellschaftlicher Demokratisierung betrachtet werden, sie ist gleicherweise wirtschaftliche Produktivkraft und wichtiges Element zur Sicherung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit. Nur der informierte, qualifizierte, engagierte und

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motivierte Arbeitnehmer kann mit den modernen Organisationsformen und Techniken so umgehen, daß ihre ökonomischen Möglichkeiten ausgeschöpft werden. Dies bedeutet nicht, daß die Mitbestimmung ihre sozialen und gesellschaftlichen Ursprünge verleugnet, aber sie muß sich ebenso aktiv und konkret mit den wirtschaftlichen Zusammenhängen auseinandersetzen. Sie kann auch aus diesen Zusammenhängen Druck und Kraft entwickeln, was allerdings Einfluß auf Formen und Praxis der Mitbestimmung hat, weil sie sich ausdrücklich auf die Mitgestaltung solcher Fragen einlassen muß." (Leminsky, Sept. 1995, S. 5) Und, was nicht zu vernachlässigen ist: Neben der Mitgestaltung muß auch stets die Schaffung von Grundlagen und Voraussetzungen zur Mitbestimmung in kleinen Betrieben beachtet werden.

Es geht somit um die Überprüfung von gesetzlichen Regelungen und um die Möglichkeiten direkter Beteiligung, wobei zumindest in großen und kleinen Unternehmen bzw. Betrieben sehr unterschiedliche Probleme zu beachten sind. Ein Hauptpunkt wird sein, die Vielfalt realer Entwicklungen und Interessen mit einheitlichem Anspruch auf Wahrung von Grundrechten und Entfaltungsmöglichkeiten zu verbinden.

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Ansätze zur Entwicklung einer Reformperspektive

Es scheint, als habe der wirtschaftliche und politische Zusammenbruch der Ostblockstaaten nicht nur die geopolitische Lage tiefgreifend verändert, sondern auch die gesellschaftlichen Reformdiskussionen und -projekte jäh zum Stillstand gebracht. Die gewerkschaftlichen Zukunftsdebatten und Modernisierungsansätze wurden in der Folge der Wiedervereinigung und der massiven sozialen und wirtschaftlichen Folgen des Transformationsprozesses überlagert von akuten Fragen zur Bewältigung des Umbruchs. Reformthemen rückten angesichts der Krisenentwicklungen in den Hintergrund und sind nur mühsam wieder in die politische Debatte zu bringen. Von einer offensiv geführten Gestaltungsdebatte ist gegenwärtig kaum etwas zu spüren.

Obwohl man den Eindruck gewinnen kann, daß die damaligen Ansätze und Forderungen auch heute noch in hohem Maße bedeutsam sind, läßt sich der Faden an der damaligen Stelle nicht einfach wiederaufgreifen.

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Vielmehr muß in einer aktuellen Diskussion um gesellschaftliche Zukunftsprojekte den veränderten und sich permanent ändernden Bedingungen Rechnung getragen werden.

Gefordert sind also intelligente Ansätze und Konzepte, die unter erschwerten sozio-ökonomischen Bedingungen umsetzbar sind. Sie müssen die Vielfalt und Pluralisierung der tatsächlichen Entwicklungen zum Ausgang nehmen, obwohl doch die bisherigen Gestaltungsvorstellungen weitgehend von einheitlichen Regeln geprägt waren. Sie müssen in einer Zeit der Massenarbeitslosigkeit für Arbeit und Beschäftigung Perspektiven eröffnen, die eine menschenwürdige materielle Existenz, Entfaltung und Engagement in einer beruflichen Tätigkeit zulassen. Sie müssen dabei den geringen öffentlichen Spielraum mit weitgehend leeren öffentlichen Kassen, den einzelbetrieblichen Rationalisierungsdruck und die zunehmende Globalisierung der Wirtschaft in Betracht ziehen. Die vorliegenden Theorieansätze und Politikmuster sind nur begrenzt hilfreich für die Lösung dieser Probleme.

Für die notwendige Entwicklung eines Leitbildes der Mitbestimmung sollten deshalb zunächst Eckpunkte, Elemente und Grundlagen für eine Reform- und Modernisierungsperspektive zusammengetragen werden. Am Anfang einer solchen Leitbilddiskussion steht dann die normative Forderung nach einem Grundrecht auf Mitbestimmung. Diese läßt sich aus dem Demokratieprinzip ableiten, wonach nicht nur der Betrieb kein demokratiefreier Raum sein darf, sondern auch die Frage rechtfertigt, wie die Industriegesellschaft zukünftig auf das Globalisierungsargument reagieren wird (Herrschaft des Marktes oder Rückkehr der Politik). Schließlich ist die Arbeitswelt für den Großteil der Menschen in einem Industriestaat prägend. Der Interessengegensatz zwischen Arbeit und Kapital soll dabei keineswegs aufgelöst werden.

Dieses Leitbild braucht ein einheitliches Grundverständnis, das mit Differenzierung, Vielfalt und Komplexität vereinbar sein muß. Es braucht weiterhin eine tatsächliche Verankerung in Betrieben, Unternehmen und Verwaltungen, die an den Problemen, aber auch an den Potentialen der arbeitenden Menschen ansetzt und ihnen Ausdruck verleiht. Mitbestimmung schließt damit unmittelbare Beteiligung ein, braucht aber auch institutionelle Regelungen für die Abstimmung und Durchsetzung solcher Interessen sowie ihre Verknüpfung mit betrieblichen Abläufen und ökonomischen Rahmenbedingungen.

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  1. Danach wird ein Bedarf an rechtspolitischen Klärungen sichtbar, der sich aus den Veränderungen der beschriebenen Auflösungserscheinungen in Unternehmen und Betrieben ergibt und sich am Arbeitnehmer-, am Betriebs- wie am Unternehmensbegriff zeigen läßt:

    Was den Arbeitnehmerbegriff, das Arbeitsverhältnis und das Arbeitsrecht angeht, so wird dieser Arbeitnehmerbegriff durch neue Formen von Heimarbeit, Telearbeit, Scheinselbständigkeit, Leiharbeit und verschiedene Formen befristeter Arbeitsverhältnisse tiefgreifend berührt und verändert. Es ist zu klären, wie die Wahrnehmung und Vertretung dieser Beschäftigtengruppen zu klären ist.

    Was die Erosion des Betriebsbegriffes angeht, so ist er durch Ausgliederungen und Umgliederungen, Profit Center und Spartenorganisation sowie vergleichbare Differenzierungen gekennzeichnet und lenkt den Blick auf dringenden Regulierungsbedarf. „Eine Novelle des Betriebsverfassungsgesetzes wird die Entwicklungen neuer Unternehmens- und Konzernstrategien aufgreifen müssen. Ihr zugrunde gelegt werden muß eine Neudefinition des Betriebsbegriffs, die die faktischen Abhängigkeiten aufgreift und die Bildung von betriebs- bzw. unternehmensübergreifenden Betriebsräten erleichtert. Die Mitbestimmungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten bei der Einführung neuer Technologien, bei personellen Maßnahmen sowie wirtschaftlichen Belangen sind zu stärken." (Riester, 1995)

    Dies bedeutet, daß im Zusammenhang mit dem Betriebsbegriff gleicherweise der Unternehmensbegriff neu definiert werden muß, denn die Unternehmensmitbestimmung wird gleicherweise durch steigende Verflechtungen zwischen Unternehmen wie auch durch rechtliche Verselbständigungen einzelner Betriebsteile in Konzernen, strategischen Allianzen und neue Formen faktischer und vertraglicher Kooperation ausgehöhlt. Eine Reform der Unternehmensmitbestimmung, die solchen neuen Strukturen, die sich insbesondere in Konzernentwicklungen spiegeln, Rechnung trägt, ist deshalb dringend erforderlich (Riester, 1995). Solche Probleme sind auch im Zusammenhang mit der derzeit diskutierten kleinen Aktienrechtsreform zu behandeln. Aus gewerkschaftlicher Sicht kann dabei auch auf Überlegungen zur Unternehmensverfassung zurückgegriffen werden.

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    Eine zweite rechtspolitische Handlungslinie bezieht sich auf die Ermöglichung von Interessenvertretung und die Wahrnehmung damit verbundener grundlegender Rechte insbesondere in kleinen und mittleren Betrieben, und zwar durch eine Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes wie auch durch Ansätze in der Tarifvertragspolitik (Bösche 1995) sowie durch Verfahrensänderungen zur Durchführung von Betriebsratswahlen, die die Einrichtung einer gewählten Interessenvertretung in kleinen und mittleren Betrieben erleichtern sollen.

  2. In einem Entwurf des Zweigbüros der IG Metall werden Handlungserfordernisse der Mitbestimmung auf verschiedenen Ebenen vor dem Hintergrund der dargestellten Veränderungen und Umbrüche thematisiert. Dabei wird der Handlungsbedarf auf folgenden Ebenen in Stichworten dargestellt: für die Mitbestimmung im Betrieb, im Bereich der Unternehmensmitbestimmung, der überbetrieblichen Mitbestimmung und für die supranationale Mitbestimmung. Die Initiative soll verschiedene Politikfelder integrieren, konkret und erfahrbar für die Beschäftigten sein und über die IGM und die Einzelgewerkschaften im DGB hinaus bündnis- und zustimmungsfähig sein.

    Folgende Handlungserfordernisse werden aufgezeigt:

    • Auf der betrieblichen Ebene u.a. Ausweitung und Präzisierung der Mitbestimmung am Arbeitsplatz z.B. im Bereich der Arbeitsorganisation, des Arbeits- und Gesundheitsschutzes/Umweltschutzes, der Personal- und Qualifikationsentwicklung. Besonderes Augenmerk ist auf die Einbeziehung von Betriebsfremden (Werkvertragsarbeitnehmer, Beschäftigte der Lieferanten) zu richten. Regelungen sollen durch Betriebsvereinbarungen sowie durch Rahmenbeschlüsse in den Aufsichtsräten der Unternehmen initiiert und gesichert werden. Eine solche Politik setzt die Koordinierung durch die institutionellen Mitbestimmungsakteure sowie eine entsprechende Ausrichtung der Betriebsratsarbeit und eine Präzisierung der Aufgaben der Vertrauensleute voraus und erfordert eine entsprechende Informationspolitik und eine zielgerichtete Bildungsarbeit im Betrieb.
    • Auf der Unternehmensebene bleibt die Sicherung und Erweiterung der Mitbestimmung ein zentrales Anliegen. Notwendig werden in Zukunft eine bessere horizontale und vertikale Koordinierung der Mitbestimmungsträger (z.B. der Betriebsräte, Gesamtbetriebsräte,

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      der Konzernbetriebsräte, der Arbeitnehmer/innenvertreter im Aufsichtsrat) in und zwischen Unternehmen und die Entwicklung neuer Kooperationsformen.

    • Die überbetriebliche Mitbestimmung thematisiert regionale und branchenspezifische Entwicklungen und sucht in der Kooperation mit den jeweiligen relevanten Entscheidungsträgern und Akteuren konsensfähige Leitbilder und Konzepte zu entwickeln und umzusetzen.
    • Ansatzpunkte für die supranationale Mitbestimmung sind die Auseinandersetzung um die Zukunft des EGKS-Vertrages und die Ausgestaltung der Rechte der europäischen Betriebsräte (IGM Zweigbüro Düsseldorf, Entwurf 30.10.1995).

  3. Einem Vorschlag von Detlev Küller und Burchard Bösche folgend, sollte der Bandbreite der unterschiedlichen Bedingungen und Anforderungen in den verschiedenen Branchen und Betrieben zukünftig durch eine größere Flexibilität der Mitbestimmung im Hinblick auf ihre konkrete betriebliche Anwendung Rechnung getragen werden. Zu überlegen wäre dabei, welche Mindestbedingungen und Eckpunkte im Rahmen einer solchen Flexibilisierungs- und Deregulierungsstrategie unverzichtbar sind und welche tarifdisponibel bzw. betriebsdisponibel ausgestaltet werden sollen.

    Bösche schlägt vor, die tarifliche Einrichtung einer „anderen Vertretung" gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG in der Praxis verstärkt zu ermöglichen und zu nutzen (Bösche, 1995, S. 7f). Dabei unterscheidet er zwischen einer ersetzenden und einer stellvertretenden Vertretung, die jeweils mit unterschiedlichen Kompetenzen der Tarifparteien verbunden sind. In der Praxis existieren bereits derartige - allerdings formal nicht genehmigte - Regelungen, die sich bewährt haben und die für die weitere Konkretisierung dieses Vorschlages zu evaluieren wären:

    „Bei der 'ersetzenden' anderen Vertretung handelt es sich um eine Einrichtung, die für die Geltungsdauer des Tarifvertrages an die Stelle des Betriebsrats tritt ... die Regeln über die Wahl sowie die Regeln über die Geschäftsführung dieser Vertretung (können) abweichend vom Betriebsverfassungsgesetz geregelt werden... In den Bestand der

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    Mitbestimmungsrechte dürfte nicht eingegriffen werden, jedoch müßten Regeln zulässig sein, mit denen die Art und das Verfahren der Ausübung der Mitbestimmungsrechte präzisiert werden.

    Bei der 'stellvertretenden' anderen Vertretung handelt es sich um Einrichtungen, die in einem Betrieb nur so lange bestehen, wie die Beschäftigten von ihrem gesetzlichen Recht, einen Betriebsrat zu wählen, keinen Gebrauch machen... Für die 'stellvertretende' Vertretung muß weitestgehende Vertragsfreiheit der Tarifvertragsparteien bestehen, und zwar sowohl hinsichtlich des Wahlverfahrens, der Geschäftsführungsregelungen als auch der materiellen Mitbestimmungsrechte." (Bösche, 1995, S. 7f.)

    Darüber hinaus schlägt Bösche eine Reihe konkreter Verfahrensänderungen zur Durchführung von Betriebsratswahlen vor, die die Einrichtung einer gewählten Interessenvertretung in Klein- und Mittelbetrieben und in Filialbetrieben erleichtern bzw. erst möglich machen.

    Dies sind u.a.:

    • Eine erhebliche Verkürzung des Wahlverfahrens von bisher 10 Wochen auf 4 Wochen und eine Vereinfachung des Verfahrens „ohne Einbußen an demokratischer Substanz" (S. 2) durch eine gesonderte Wahlordnung für Betriebe bis zu 50 Beschäftigten.
    • Vereinfachung des Wahlverfahrens in Betrieben bis zu 20 Beschäftigten.
    • Die Wahl wird als gemeinsame Wahl und als Persönlichkeitswahl durchgeführt. Der Minderheitenschutz entfällt in Betrieben bis zu 50 Beschäftigten.
    • Verbesserte Zugangsrechte für Einladungsberechtigte - insbesondere für außerbetriebliche Gewerkschaftsvertreter - zu Informationszwecken zu Betrieben und Filialen.
    • Erweiterung der Zuständigkeiten des Gesamtbetriebsrats in der Weise, daß dieser berechtigt ist, zu Versammlungen zur Wahl eines Wahlvorstandes einzuladen und den Wahlvorstand zu unterstützen.

  4. Ein weiteres Element der Modernisierungs- und Reformperspektive der Mitbestimmung betrifft das Verhältnis von gesetzlicher oder ver-

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    traglicher Regelung zu Formen direkter Beteiligung. Hier muß über einen Bezugsrahmen diskutiert werden, der ein Mindestmaß an Verbindlichkeit und Sicherheit für diejenigen eröffnet, die im Betrieb ihren Sachverstand, ihre Kreativität und ihre Motivation in offene und neue Entwicklungen betrieblicher Produktionsstrukturen oder neue Formen der Arbeitsorganisation einbringen.

    Die Reichweite und Geschwindigkeit der Veränderungen läßt es sinnvoll erscheinen, Institutionen der Mitbestimmung „offen und transparent nach unten" zu gestalten. „Sie brauchen deshalb unmittelbare, spontane, direkte Formen der Beteiligung ebenso wie kollektiv-repräsentative Formen der Willensbildung. Man muß jedoch die Möglichkeiten direkter Beteiligung ebenso unter langfristigen Perspektiven betrachten, wie sich auch das Potential gesetzlicher Regelungen auch erst längerfristig entfaltet hat. Es wäre leichtfertig, zu glauben, daß ein Mitbestimmungssystem, das über Jahrzehnte ausdrücklich und erfolgreich auf kollektiv-repräsentative gesetzliche Regelungen abgestellt war, im Schnellverfahren um eine lebendige Partizipation ergänzt werden könnte, weil dafür doch erst die mentalen und tatsächlichen Voraussetzungen geschaffen werden müssen." (Leminsky, Sept. 1995, S. 10)

Mit diesen vier Teilaspekten zu den Zukunftsperspektiven der Mitbestimmung sind jedoch noch nicht alle Fragen erfaßt. Als Stichworte sollen an dieser Stelle folgende Sachverhalte genannt werden:

  • Es sollte die Frage behandelt werden, inwieweit Globalisierung, Internationalisierung und Europäische Union nationale Vorgehensweisen in der Mitbestimmung sinnvoll erscheinen lassen, inwieweit man von Anfang an auf grenzüberschreitende Regelungen setzen muß oder inwieweit nationale Lösungen durch Europäische Union bzw. durch internationale Markteinflüsse unterlaufen werden können. Diese Frage muß gewissermaßen vorab behandelt werden, weil davon alle weiteren nationalen Ansätze abhängen. Wir gehen davon aus, daß steigende Internationalisierung und nationale Ansätze sich nicht ausschließen.

  • Des weiteren muß die Diskussion um Unternehmenskultur, Unternehmens- und Wirtschaftsethik sowie die Frage der Unternehmensverfassung angesprochen werden, weil es hier um Probleme geht, die sich teils mit der Mitbestimmung überschneiden, teils ihr zu widersprechen scheinen.

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  • Mit den oben behandelten Fragen ist das Querschnittsproblem verbunden, welche Rolle in Zukunft gesetzliche Grundlagen spielen sollen und welche Probleme durch die Tarifparteien durch kolektivvertragliche Absprache gelöst werden sollen. Insbesondere geht es um die Frage, welche Position die Gewerkschaften in der Mitbestimmung einnehmen können sowie um das sich wandelnde Verhältnis von Flächentarifverträgen und Mitbestimmung.

  • Letztlich ist es von großer praktischer Bedeutung, wie die Akteure der Mitbestimmung in die Lage versetzt werden können, die notwendigen fachlichen Qualifikationen, sozialen Kompetenzen und politischen Orientierungen in Rückkoppelung zu den Belegschaften oder den Gewerkschaften zu entwickeln und zu sichern (Freistellungsregelungen, Schulungsansprüche, Aufbau fachlicher Netzwerke, Stärkung des Informationsaustausches usw.).


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Umsetzung und weitere Arbeitsschritte

Neben Fragen der inhaltlichen Ausrichtung eines solchen Reformansatzes müssen pragmatisch-strategische Fragen der Umsetzung gleichrangig diskutiert werden. Eine zukunftsorientierte Modernisierungs- und Reformperspektive kann nur dann Zustimmung und Unterstützung erhalten und wirksam werden, wenn praktikable Politikansätze und Strategien aufgezeigt werden können.

Dies bedeutet, daß Mitbestimmung als Verfahrensregelung für die Beteiligung und Mitgestaltung durch die Arbeitnehmer und ihre Interessenvertretungen auf den verschiedenen Ebenen insbesondere von Betrieb und Unternehmen nur dann mobilisierende Kraft entfalten kann, wenn sie mit Inhalten verbunden wird, die die Menschen wirklich bewegen. Dies ist zur Zeit ohne Zweifel die Frage von Arbeit und Beschäftigung. Welchen konkreten Stellenwert Mitbestimmung dabei haben kann, sollte vor allem an praktischen Beispielen diskutiert werden. Exemplarisch können dafür auf der Mikroebene des Unternehmens die VW-Lösung zur Sicherung von Arbeitsplätzen und, bezogen auf die Makroebene der Volkswirtschaft und der Branche, das „Bündnis für Arbeit" der IG Metall ausgewählt werden. An beiden Fällen kann man wie in einem Brennglas das Zusammenwirken

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von Staat, Tarifpolitik und Mitbestimmung aufzeigen und innerhalb der Mitbestimmung wiederum das Ineinandergreifen von Mitbestimmung im Aufsichtsrat, Aufgaben des arbeitsdirektorialen Bereiches sowie den Aktivitäten der Betriebsräte in Rückkoppelung mit den Gewerkschaften und der Tarifpolitik darstellen, um Rückhalt und Akzeptanz für neue Vorschläge zu gewinnen. Bündnis für Arbeit, Branchendialoge und grundlegende Betriebsvereinbarungen sind Ausdruck einer Mitbestimmung in moderner Form, die gestaltendes Element einer sozialen Demokratie sein will.

Diese prozeßhafte Verknüpfung von Inhalten und Verfahrensregeln an praktischen Fällen ist politisch und praktisch überzeugender als ein bloß „theoretischer Diskurs" über diese Fragen (selbst wenn eine stärkere Auseinandersetzung der Wissenschaft mit diesen Problemen wünschenswert wäre). Konkrete Beispiele können Veränderungen auslösen, und ohne solche Bewegungen sind keine neuen politischen Rahmenbedingungen durchsetzbar. In einer solchen Entwicklung zeigt sich, wie sich ein neues Leitbild der Mitbestimmung konkretisiert: nicht durch flächendeckende Ablösung von Systemvorstellungen, sondern durch eine neue Praxis, die konflikthaft wie kooperativ alte Denkweisen und Praktiken nach und nach verdrängt.

Gerade weil sich wirtschaftliche und soziale Veränderungen gegenwärtig so schnell vollziehen, ist es Aufgabe der Gesetzgebung, einerseits Stabilität im Sinne von Lernprozessen, von Offenheit und von Vielfalt zuzulassen, andererseits aber im Rahmen dieser Stabilität bewußten Raum für flexible Ausgestaltungen an Tarif- und Betriebsparteien zu geben. Ein Teil der rechtspolitischen Begleitung erfolgt dabei über Novellierungen der Betriebsverfassung bzw. der Personalvertretungsgesetze, über Veränderungen im Arbeits- und Wirtschaftsrecht sowie über eine Einflußnahme auf die Unternehmensmitbestimmung im Zusammenhang mit der kleinen Aktienrechtsreform, letztlich auch über die Rechtsprechung, die mehr denn je auf die Rückkoppelung zu den realen Entwicklungen angewiesen ist, wenn sie nicht zu wirklichkeitsfremden Schlußfolgerungen kommen soll.

Was bei der Umsetzung und Konkretisierung der Mitbestimmung not tut, sind somit integrierte Politikansätze, die gleicherweise eine neue Praxis der Mitbestimmung begünstigen und damit auch das Leitbild einer moder-

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nen Mitbestimmung wirklichkeitsnah ausgestalten. Dies ist nicht nur eine Herausforderung für die Gewerkschaften und die Arbeitgeber- und Unternehmerverbände selbst, für das Management und die Unternehmensleitungen in großen und kleinen Unternehmen, sondern gleicherweise auch für die Sozialdemokratische Partei, wo die Mitbestimmung immer noch als ein Problem von Spezialisten für Spezialisten behandelt wird.

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Literatur

Baethge, M.: Neue Organisationskonzepte und die aktuelle Krise des dualen Systems, in: Müntefering, F. (Hrsg.): Jugend Beruf Zukunft: Modernisierung der Wirtschaft - Modernisierung der beruflichen Bildung, Marburg 1995

Beck, U., E. Beck-Gernsheim (Hrsg.): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1994

Bösche, B.: Sicherung der betriebsverfassungsrechtlichen Vertretung von Beschäftigten in Klein- und Mittelbetrieben, Manuskript vom 24.11.1995, S. 1-8

Champy, J.: Reengineering im Management - Die Radikalkur für die Unternehmensführung, Frankfurt a.M. 1995

Dubiel, H., L. v. Friedeburg: Gemeinsam tun, was alle echten Forscher immer getan haben, Memorandum, Frankfurt a.M. 1995

Höhn, H.-J.: Die Moderne, der Markt und die Moral, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 51/95,15. Dezember 1995

Kern, H., M. Schumann: Das Ende der Arbeitsteilung? Rationalisierung der industriellen Produktion, München 1984

Klages, H.: Wertewandel in Deutschland, in: Die politische Meinung, 37. Jg., Heft 267, 2/1992, S. 41-49

Leminsky, G.: Projekt „Perspektiven für die Mitbestimmung". Interne Zwischenberichte 1-4, Düsseldorf, Februar 1994, Juli 1994, März 1995, September 1995

Leminsky, G.: Vorläufige Überlegungen zu einem Positionspapier der FES/SPD zur Mitbestimmung, Papier vom 30.11.1995, S. 1 - 4

Lutz, B.: Kapitalismus ohne Reservearmee?, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 4/1982, S. 342ff.

Riester, W.: Scheinselbständigkeit als Gipfel der Souveränität, in: Frankfurter Rundschau vom 20.12.1995

Schumann, M., V. Baethge-Kinsky, M. Kuhlmann, C. Kurz, U. Neumann: Trendreport Rationalisierung, Automobilindustrie, Werkzeugmaschinenbau, Chemische Industrie, Berlin 1994

Zinn, K.G.: Der Weg in die Krise des tertiären Sektors, in: Widerspruch, Heft 25,1993

Zweigbüro Düsseldorf der IGM: Mitbestimmung ist der erste Schritt zur Selbstbestimmung, Entwurf vom 30.10.1995, S. 1-14


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