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TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 97 ]


Klaus Werner
Wie können Stadtviertel als sozialräumliche Gebiete entwickelt werden? - das Beispiel Frankreich


Die Vielfalt der Erfahrungen und der von Bürgerinitiativen beeinflußten Experimente in Deutschland verlangen von uns Bescheidenheit und Zurückhaltung. Welche relevanten Beispiele könnten aus Frankreich vorgelegt werden, wo doch die zentralstaatliche Kultur lange Zeit mit Vorsicht und auch mit Mißtrauen auf Gebietsentwicklungsinitiativen reagiert hatte?

Die Ressourcenaktivierung für städtische Gebietsentwicklung auf ökonomischer, sozialer und Wohnebene setzt eine gute Steuerung der politischen, „antizipativen" und technischen Instrumente durch die öffentliche Hand voraus. In Deutschland und Frankreich sind die Problemstellungen, Analysen und Ansatzpunkte darüber oft vergleichbar. Die Bodenfrage stellt dabei oft ein zentrales Problem dar.

Mein Beitrag bezieht sich nicht auf diese technischen Elemente der Gebietsentwicklungspolitik, sondern stellt die Rolle der Akteure in den Vordergrund.

Es gibt heute also zahlreiche Beispiele aufbauender und bürgereinbeziehender Gebietsentwicklungsprojekte. Aber es handelt sich in der Regel nicht um integrierte Entwicklungsprojekte, sondern um Pläne, deren Schwerpunkt entweder städtebaulich, wirtschaftlich, kulturell oder sozial ist. Ist dies auf einen Initiativenrückstand oder auf die komplexe städtische Situation zurückzuführen? Die Unzulänglichkeit der interkommunalen Zusammenarbeit kann als Teilerklärung unzulänglicher Ressourcenaktivierung dienen.

Beispiele breiterer gebietsbezogener Bottom-up-lnitiativen sind dagegen vor allem auf ländlicher Ebene und im regionalen Planungsbereich zu suchen. Vor allem in Mittelfrankreich, in der Bretagne, in Südwestfrankreich sind sehr interessante Ergebnisse erzielt worden. Es handelt sich oft um Initiativen, die von europäischen Programmen unterstützt werden. Diese haben dazu beigetragen, neue Ansätze für eine aufbauende, bürgereinbeziehende Gebietsentwicklungspolitik

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zu erstellen. Diese Ansätze sind heute Bestandteile öffentlicher Empfehlungen für die bürgerbezogene Planungsmethode.

Die künftigen Stadt- und Landverträge (contrats d'agglomeration, contrats de pays), die für den Zeitraum 2000-2006 abgeschlossen werden, haben diese Methodenansätze übernommen. Es handelt sich um Verträge, die Staat, Regionen und Gebiete vertraglich zusammenbringen. Erfahrungsgrundlagen aus der französischen und europäischen LEADER-Bewegung [Fn.1: LEADER-Bewegung: vom europäischen Initiativprogramm LEADER (Beziehungen zwischen Aktionen der ländlichen Entwicklung) der GD V in den 5b-Zielzonen auf der Basis lokaler Aktionsgruppen in die Wege geleitet und in einem europäischen Netzwerk zusammengefaßt.], aus der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit des INTERREG-Programms [Fn.2: INTERREG: ein europäisches Initiativprogramm der GD XVI über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit.] und aus der sozialen Stadtentwicklungsplanung haben deren Methodeninhalt bereichert. Die zukünftigen Verträge sind Kernstücke des jetzt zur Debatte kommenden Gesetzes für nachhaltige Entwicklung und Raumordnung.

Es geht darum, zu einer demokratischen Planungs- und Entwicklungstechnik zu gelangen. Wir stehen in Frankreich am Anfang dieser Bewegung. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß es noch kaum gesamtplanerische Beispiele gibt. Dagegen gibt es zahlreiche demokratische Pläne mit interessanten Teilansätzen. Die Absicherung demokratischer Planansätze ist noch nicht erreicht worden, muß es aber werden. Dies müßte zu einer nachhaltigen kulturellen Umstellung der Planungs- und Aktionspartner führen. Aber man weiß auch, daß die Gewohnheiten immer wieder im Galopp zurückkommen.

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Die vorgelegte Fragestellung

Ich möchte jetzt auf die mir vorgelegten Fragestellungen eingehen und sie nach meinem Begriffsverständnis formulieren.

Vier Fragen sind gestellt worden:

  1. Wie können bei einer gebietsbezogenen Stadtentwicklungs- bzw. Stadterneuerungspolitik die Wohn-, Beschäftigungs- und ökonomischen Aspekte

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    integriert werden und die Ressourcen eines sozialräumlich brachliegenden Stadtteils freigesetzt und aufgewertet werden?

  2. Wie können jenseits der bestehenden demokratischen Bürgerbeteiligung in der Stadtplanung ganze Gebiete sozial und wirtschaftlich aktiviert werden?

  3. Was ist gebietsbezogene Stadtpolitik in sozialräumlich benachteiligten Stadtquartieren?

  4. Gibt es dafür konkrete und erfolgversprechende Beispiele in Frankreich?

Die erste Frage stellt die Rolle der Akteure in den Vordergrund.

Sagen wir es gleich: Die zentralen Anknüpfungspunkte eines Gebietes sind nicht die Daten, sondern die „Akteure". Wer sind sie? Aus welchen Erfahrungs- und Tätigkeitsbereichen kommen sie? Sollte man sich auf öffentliche und private Projekt- und Ideenträger beschränken oder sollte man nicht auch einfachen Bürgern und Bewohnern das Wort geben? Sollten Zielvorstellungen und Pläne für die Bewohner und Benutzer erarbeitet werden oder sollten sie nicht eher mit ihnen durchgeführt werden? Mit ihnen planen heißt aber, von ihren Ideen und Projekten auszugehen, um zu gemeinsam erarbeiteten Zielvorstellungen zu gelangen.

Wenn man sich trotz bestehender Interessenunterschiede mit öffentlichen, privaten, wirtschaftlichen, staatlichen, lokalen Partnern zusammensetzt, muß man sich bewußt sein, daß ökonomische, politische und öffentliche Positionen in Frage gestellt werden.

Diese Eingangsbetrachtungen zeigen Grundzüge der in Frankreich entstehenden demokratischen Gebietsentwicklungspolitik, die ressourcenaktivierende Wohn-, Beschäftigungs- und Wirtschaftsaspekte als Rahmenbedingungen zum Bottom-up-Ansatz hat.

Das aus der grenzübergreifenden Zusammenarbeit stammende Beispiel des Europäischen Entwicklungspoles Longwy (F) - Arlon (B) - Esch s./Alzette

(Lux) kann hier zur Illustrierung dienen:

In diesem von 200.000 Menschen bevölkerten Industriegebiet hatte die Schließung der Hüttenindustrie vor etwas mehr als zehn Jahren zur Entlassung von mehr als 8.000 Arbeitskräften geführt und erforderte also einen kräftigen Eingriff der öffentlichen Hand: Umschulung der Industriebrachen,

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Ansiedlung neuer Großbetriebe, Umbildung der Arbeitskräfte, Entwicklung neuer technologischer, qualitäts- und zukunftsbezogener Wirtschaftseinrichtungen waren und sind einige Zielsetzungen, die von Staat, Europa und den Gebietskörperschaften aufgestellt worden sind.

Die Ziele sind heute formal schon weitgehend erreicht. Die brutale Stillegung der Zechen und der Stahlindustrie zwang zu vorrangigen Aktionen auf der Wirtschaftsebene, um Arbeitsplätze zu sichern oder neue Arbeitsplätze zu gewinnen. Auch die Stadtplanung und Brachenrehabilitierung war vorrangig wirtschaftlich geprägt. In der Krisensituation mußten schnelle und sichere Entscheidungen getroffen werden. Wesentliche Entscheidungsträger waren der Staat und die regionalen Gebietskörperschaften. Die Zivilbevölkerung stand völlig abseits und war in der „Trauerzeit" auch nicht in der Lage, Pläne aufzubauen. Einzelnen aus der Zivilgesellschaft kommenden Standpunkten wurde wenig Gewicht gegeben, denn die Umstände verlangten effiziente Lösungen von der öffentlichen Hand. Die derzeitige Debatte über die inhaltliche Gestaltung des „Point triple", der Zone, wo die drei Ländergrenzen zusammenkommen, zeigt auf, wie sehr die wirtschaftliche Prägnanz der vergangenen Planung neue Horizonte versperrt. Es wird vorgeschlagen, auf dem „Point triple" symbolisch ein zukunftsweisendes Wirtschaftsgebäude zu erstellen. Muß das Symbol wirtschaftlich orientiert sein? Kann es nicht nach Europa weisen, kulturell sein, sich auf die junge Grenzgeneration beziehen?

Der grenzüberschreitende Umstellungs- und Entwicklungsplan wurde auf Expertenbasis unter Leitung der lokalen „Mission Interministerielle du Pôle Européen de Développement" erarbeitet. Man hatte kaum bemerkt, daß sich neue Ressourcen in der Zivilgesellschaft entwickelten: Lehrpersonal der Schulen, Jugend- und Kulturclubs, Journalisten, lokale Radiostationen, Gewerkschafter usw. So entstand allmählich eine große Kluft zwischen dem Planungs-Establishment und der Bevölkerung. Die Bürger, die neugeschaffene Arbeitsplätze zweifellos als gute Errungenschaften ansehen und die auch die Grenzvorteile als Konsumenten gut ausnützen, sind so trotzdem der Meinung, der „Pole Européen" sei ein Mißerfolg.

Ein kürzlich von uns mit der Bevölkerung durchgeführtes Seminar über das Thema „Welche Urbanität für unsere grenzüberschreitende Stadt?" hat klar zum Ausdruck gebracht, daß eine gemeinsame Identität geschaffen werden muß aus der kulturellen Herkunft der Bevölkerung, aber nicht aus der Industrievergangenheit

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(„die Hochöfen aus den Köpfen jagen"). Diese Identitätsarbeit muß in bezug auf die italienische Herkunft der Bevölkerung durchgeführt werden. Wir haben gemeinsam entdeckt, daß seit 15 Jahren jährlich in einer nahen Kleinstadt ein Filmfestival des italienischen Neofilms stattfindet. Kein neuer italienischer Produzent kann in Italien durchkommen, wenn er nicht seinen Film in Lothringen vorgestellt hat. Es geht jetzt darum, von dieser Ecke aus die grenzübergreifende Stadtplanung mit der Bevölkerung neu zu überdenken. Müßte der „Point triple" nicht hier anknüpfen?

Diese Fragestellung ist ein zentraler Punkt der neuen Bottom-up-Planmethode, die unterstützt wird vom Regionalpräfekt, der Vorsitzender der „Mission Interministerielle" ist.

Die zweite Frage betrifft die inhaltliche Qualität der Ziel- und Themenstellungen für Stadtplanungen.

Welche Themen, Arbeitsmethoden und Ziele können zu räumlicher Exzellenz und Attraktion führen („excellence territoriale")? Soll man sich dabei auf wirtschaftliche, städtebauliche, kulturelle oder soziale Themenstellungen beschränken? Kann gebietliche Qualität über Querschnittsthemen angestrebt werden?

Die vielfachen Erfahrungen und Experimente in Frankreich bestätigen, daß Gebietsentwicklung demokratisch und bürgereinbeziehend in einem strategischen Spannungsfeld erarbeitet werden muß. Zusammenhängende strategische Ansatzpunkte dafür sind: Wirtschaft [Fn.3: Industrie-, Handel- und Dienstleistungsbetriebe - Industriedistrikte, High-Tech-Funktionen - Nachbarschaftsdienste, Initiativzentren ansiedeln, halten, gründen, den Marktbedingungen anpassen usw.], Raum [Fn.4: Stadtlandschaft, Urbanität entwickeln, schützen, organisieren. Kulturbauten und -viertel auswerten usw.] und Gesellschaft [Fn.5: Schulen und bilden, den sozialen Zusammenhalt fördern, Identität, Solidarität, Zugehörigkeitsgefühl fördern usw.].

Die nordfranzösische Stadt Roubaix, die noch vor 50 Jahren ein blühendes Zentrum der Textilindustrie war, ist durch Textilkrise, Betriebsstillegungen und -verlagerungen nach Asien zu einem der größten städtischen Notstandsgebiete geworden. In manchen Vierteln besteht die Bevölkerung bis zu 60% aus Gastarbeiterfamilien. Die Arbeitslosenrate ist auf 40% gestiegen. Die

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Stadt vermittelte bis zum Anfang der neunziger Jahre den Eindruck einer Nachkriegslandschaft. Private, städtische und staatliche Initiativen haben aber in einer vergleichsweise relativ kurzen Zeitspanne zu Entwicklungen auf wirtschaftlicher, städtebaulicher und gesellschaftlicher Ebene geführt und viele einzelne öffentliche und unternehmerische Ressourcen aktiviert:

  • kulturelle und architektonische Umgestaltung der Fabrikgebäude („châteaux de l'industrie")

  • Schaffung von Industriedistrikten (z.B. Cité de l'lnitiative)

  • Erneuerung und Verbesserung der öffentlichen Verkehrsverbindungen mit Lille, Tourcoing und den nahen belgischen Städten

  • Entwicklung zahlreicher Bürgerinitiativen in den benachteiligten Vierteln

  • Entwicklung rentabler Betriebe der „solidarischen" Wirtschaft durch junge sozial orientierte Unternehmer (die der Arbeitsplatzschaffung für langfristig Arbeitslose Vorrang geben) usw.

Roubaix ist heute ein dynamisches Zentrum der Stadtregion Lille. Die Stadt kann jetzt die Zukunft mit Vertrauen angehen. Das Zusammenspiel vieler lokaler, privater und öffentlicher Initiativen im Rahmen der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und städtebaulichen Zielsetzungen macht die Stadt attraktiv. High-Tech-Betriebe siedeln sich an und die Universität Lille lagert Institute nach Roubaix aus.

Cite de l'Initiative [Fn.6: Cité de l'lnitiative, 1 rue des Ecoles, F-59100 Roubaix, Tel.: +33.20.69.92.70.]

  • Ein freistehendes Gebäude im Stadtzentrum (die ehemalige Textilingenieur-Vorschule)

  • Eine Gruppe von 30 jungen Textilunternehmern, die das hundertjährige technische und industrielle Wissen der Arbeiterschaft nicht verlieren möchte

  • Eine Expertin, die Lücken des Just-in-time-Systems des Textil- und Bekleidungsgewerbes analysiert, um rentable Ansatzpunkte für eine lokale Industrie zu identifizieren

  • Versandhäuser, die wegen Betriebsverlagerung nach Asien nur noch teilweise die Produktionskette beherrschen und nicht mehr die Gesamtnachfrage zufriedenstellen können


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Ergebnisse:

  • Schaffung eines Industriedistrikts im ehemaligen Schulgebäude (Kleinbetriebe auf den festgestellten Just-in-time-Lücken)

  • Gemeinsame Aufstellung einer Charta der solidarischen Wirtschaft (Unterstützung durch die Caisse des Depots): vorrangige Einstellung langjähriger Arbeitsloser, gemeinschaftliche Dienste (Marketing, Information, technische und wirtschaftliche Weiterbildung, Consulting, Methodenerarbeitung, Innovation, Sekretariat, Personalaustausch ...)

  • Rahmenabkommen mit den Großversandhäusern (Redoute, 3 Suisses...)

  • Neu- und Umbildung der Arbeitskräfte auf neue Technologien und Verhandlungspraktiken

  • Industriedistrikt-Consulting und Gutachterfunktion für die Europäische Kommission (Methodenaufbau und -übertrag in Ziel-1-Zonen, nach Osteuropa, Südamerika, Asien)

  • 300 neugeschaffene Arbeitsplätze


Die dritte Frage betrifft die Entwicklungsmöglichkeiten benachteiligter Gebiete.

Welche sozialen, wirtschaftlichen und stadträumlichen Argumente sind für die vorrangige Intervention in benachteiligten Gebieten anzuführen? Sollte diese Problemstellung nicht besser auf gesamtstädtischer Ebene angegangen werden?

In Frankreich hat diese Frage noch keine klare Lösung gefunden. Die staatliche „Délégation interministerielle à la Ville" (DIV) verteidigt den Standpunkt, daß die 400 am stärksten benachteiligten Stadtviertel Frankreichs eine starke Unterstützung benötigen: Es muß zunächst repariert werden. Dies sei eine notwendige Zielsetzung bei der gesamtstädtischen Entwicklungsplanung. Die Europäische Kommission hat bislang dieses Argument akzeptiert und vertritt es im Rahmen der Strukturfondsreform bei den zu definierenden Urbanzonen der Ziel-2-Gebiete.

Auf dieser Basis hat die französische DIV ihre Doktrin zur vorrangigen Behandlung der 400 benachteiligten Stadtviertel erarbeitet. Das hat in den achtziger Jahren zu einer auf die Stadtviertel bezogenen Entwicklungs- und Wirtschaftshilfe geführt, wie z.B. die Einrichtung von Betrieben für Nachbarschaftshilfe („Régie de quartier") und nachbarschaftliche Mikrounternehmen.

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Erst nach Veröffentlichung des Delarue-Berichtes („La relégation") wurde eine offenere Politik angestrebt: die benachteiligten Stadtviertel mit der Stadt verbinden und neue Attraktivitäten schaffen. 1996 wurden 44 besonders schwierige Stadtviertel zu „Freihandelszonen" erklärt („zones franches") und mit besonderen standortlichen Steuervorteilen versehen (steuerliche Vorteile führen zu einer Verkaufspreissenkung um 30%). Eine Vereinigung der Freihandelsstädte ist gebildet worden. Sie hat kürzlich festgestellt, daß in 32 Freihandelszonen mehr als 1.200 Betriebsansiedlungen stattgefunden haben (darunter 45% lokale Standortverlagerungen) mit 5.500 geschaffenen Arbeitsplätzen (darunter 2/3 neue Arbeitsplätze). Das sind etwa 100 neue Arbeitsplätzen pro Freihandelszone. Sind es aber dauerhafte Stellen und Betriebe? Wie verhalten sich dazu die anderen Wirtschaftskräfte in der Stadt? Wird eine nachhaltige Entwicklung eingeleitet?

Die Freihandelszonenerfahrung der „Cité de l'Initiative" in Roubaix ist besonders lehrreich. Die Großversandhäuser, die Partner der „Cité" sind, haben nicht die Steuervorteile der Cité. Deshalb haben sie ihre beherrschende Auftraggeberstellung benutzt, um ihre Preisbedingungen durchzusetzen. Sie haben ihre Ankaufspreise bei der Cité um 30% reduziert, was zwei Folgen hatte, einerseits eine Verbesserung der Markstellung der Großversandhäuser und andererseits die Schwierigkeit der Kleinbetriebe in der „Cité de l'lnitiative", neue Arbeitsplätze zu schaffen. Dieses Beispiel zeigt, daß auf Stadtgebiete bezogene Entwicklungsmaßnahmen zu pervertierten Ergebnissen führen können, weil sie auf ökonomische und geographische Ebenen ausstrahlen, die das benachteiligte Stadtgebiet weit überschreiten.

Verschiedene Erfahrungen zeigen, daß städtische Gesamtstrategien oft zu wesentlicheren Ergebnissen führen als teilgebietsbezogene Projekte. Solche stadtgebietsbezogenen Strategien müssen Bestandteil der Gesamtpläne sein. Damit dieser dialektische Bezug aufrechterhalten wird, haben sich 30 Städte in Frankreich (Nantes, Strasbourg, St. Denis, Poitiers, Lille ...), Spanien (Oviedo, San Sebastian ...) und Italien (Pesaro, Cremone, Bolzano ...) verbunden, um gemeinsam eine räumliche Exzellenz („excellence territoriale") [Fn.7: Ecole d'excellence territoriale (Institut d'études politiques), 63 rue de Varenne, F-75007 Paris, Tel.: +33.1.45.55.03.40- E-Mail: eurexcter@sciences-po.fr] anzustreben. Damit aber Exzellenz nicht zur Ausgrenzung führt, haben sie gemeinsame Leitbilder erarbeitet: nachhaltige Entwicklung, Standortqualität, Informationsqualität, Mitentscheidung der Bewohner und Bürger, demokratische Planung,

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gesellschaftliche und wirtschaftliche Erneuerung und Innovation, Solidarität, nachhaltige Raumplanung, Stadt- und Raumqualität, Urbanitätsstreben, Entwicklung von Zeitpolitiken (Öffnungszeiten, öffentlicher Verkehr, Schulrhythmen ...). Dies sind sicherlich neue Ansatzpunkte für eine demokratische Stadtgebietsentwicklung.

Die vierte Frage erlaubt, einige zusätzliche Beispiele aus Frankreich zu geben.

Unter dem Titel „partizipative Stadtviertelinstanzen" haben 40 Städte und Kommunen zusammengearbeitet, um zu einer demokratischen Erneuerung und Bürgerbeteiligung bei den Entwicklungsplänen zu gelangen [Fn.8: Albi, Amiens, Argentueil, Belfort, Besancon, Brest, Cenon, Cergy, Chambry, Chevilly-Larue, Creil, Créteil, Dunkerque, Epinal, Fresnes, Grenoble, Guéret, La Rôche sur Yon, La Rochelle, Kremlin-Bicêtre, Lille, Lutterbach, Meylan, Moissy-Cramayel, Mulhouse, Nancy, Nantes, Orléans, Quimper, Rennes, Roubaix, Rouen, Saint-Denis, Saint-Fons, Saint-Nazaire, Saint-Brieuc, Saint-Malo, Saintes, Strasbourg, Toulouse, Troyes, Versailles, Villeneuve d'Ascq, Villeurbanne.]

Es scheint so, daß die traditionellen Regeln der repräsentativen Demokratie nicht mehr genügende Durchschlagskraft für die heutigen Problemstellungen der Stadtentwicklung haben. Sollte nicht das parlamentarische Delegationsprinzip durch ein permanentes Beteiligungsprinzip ergänzt werden, das alle Bürger (wahlberechtigte oder nicht) zu aktivierbaren Ressourcen macht? Das ist die Grundüberlegung der 40 französischen Städte und Kommunen. Sie sind sich auch darüber bewußt, daß eine solche Entwicklung über Lernprozesse gehen soll, die nicht nur die Bürger, sondern auch die öffentlichen Dienste betreffen. Die Analyse [Fn.9: Georges Gontcharoff, Du recueil aux projets pluri-annuels, in: Territoires, n° 374-375, 1997.] dieser „partizipativen Stadtviertelinstanzen" zeigt, daß diese neuen Strukturen in der Regel fünf Funktionen haben:

Festivitätenplanung, Klagenanhörung und Projektplanung, Informationsinstanz, Befragungs- und Abstimmungsinstanz.

Interessante thematische Ansätze für bürgerbezogene Gebietsplanung können aus drei Beispielen abgeleitet werden:

  • St. Denis (Seine St. Denis): Aufstellung einer Projektgruppe mit Bewohnern und der RATP (Pariser Verkehrswerke). Erarbeitung angepaßter Zeit- und Linienpläne der öffentlichen Verkehrsmittel. Die Zeitwünsche

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    der Bewohner sind berücksichtigt worden. Linien und Zeitpläne sind verändert worden. Aufstellung von Projektgruppen für die Bewertung des Kommunalvertrags.

  • Villeneuve-le-Roi (Val-de-Marne): Erarbeitung eines Schulprojektes im Rahmen eines kommunalen Modellbauernhofes. Die Projektgruppe besteht aus Vertretern der Lehrerschaft, der Schüler, der Stadtverwaltung, des Landwirtschaftsministeriums, des Erziehungsministeriums und des Stadtviertels, wo sich der Hof befindet. Keine Entscheidung kann ohne Beratung dieser Projektgruppe getroffen werden. Die Arbeitsmethode sieht vor, daß alle Partnergruppen an gemeinsamen thematischen Schulungen teilnehmen. Ein besonderer Bildungsaufwand wird von den Vertretern der Stadtverwaltung verlangt. Diese Arbeitsmethode wird allmählich auf alle Entscheidungsbereiche angewandt. Es ist jetzt vorgesehen, mit dieser Arbeitsmethode das Thema „Flußwiedergewinnung" anzugehen. Villeneuve-le-Roi liegt an der Seine und besitzt alte Hafenanlagen. Die Projektgruppe soll mit den Schulen, Sportvereinen, Bewohnern, den nachbarlichen Seine-Städten, den Pariser Hafenwerken, staatlichen Vertretern und interessierten Unternehmen zusammengestellt werden. Themen: lokale freizeitgestaltende und ökonomische Auswertung (Einrichtungen, Aktivitäten, festliche Veranstaltungen), überkommunale Wertsetzung (Fahrradwege, Boot- und Wassersport, Freizeitanlagen, touristische Entwicklung mit Ausflugsbooten).

Die Erfahrungen aus solchen neuen Praktiken sind noch nicht ausreichend und die Nachhaltigkeit des Prozesses ist noch nicht gesichert. Ihr Erfolg hängt u.a. von der Kapazität der Projektpartner ab, ihre Standpunkte über den eingeleiteten Lernprozeß zu verändern. Diese für Frankreich neuen Praktiken liefern bereits wertvolle Ansatzpunkte für demokratische, bevölkerungs- und akteureinbeziehende Gebietsplanungen. Diese „Philosophie" ist Bestandteil des Methodenansatzes der aufzustellenden Stadt- und Landverträge für 2000-2006.

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Der französische Methodenansatz für bürgereinbeziehende Bottom-up-Planungen

Von zwei Thesen ausgehend:

  1. 1. Akteure sind die gebietlichen Hauptanknüpfungspunkte,

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  2. keine demokratische, bürgereinbeziehende Planung ohne vorherige Bildung eines entscheidungsfähigen Akteursystems,

ist unter Mitwirkung zahlreicher Stadt- und Landgebiete [ Fn.10: Montreuil (Seine St. Denis), Alsace Centrale, Epernay (Champagne), Nord-Drôme, Aubagne-La Ciotat (Bouches-du-Rhône), Centre-Ouest-Bretagne, Sedan (Ardennes), Béziers (Hérault), Lille (Nord), Marmande (Lot-et-Garonne), Pays des 7 Vallées (Nord), Saverne (Bas-Rhin).] der französische Methodenansatz gebildet worden. Wie soll eine strategische Diagnose erstellt werden, um zu „mobilisierenden" realistischen Zielvorstellungen zu gelangen? Es geht darum, die Kristallisierungspunkte zu identifizieren, von denen aus eine ressourcen- und bevölkerungsaktivierende Stadt- und Gebietsplanung gesichert werden kann. Die Schwerpunkte sind:

  • Einrichtung des Akteursystems,

  • Anhörung der Akteure und der Bevölkerung,

  • Aufstellung strategischer Achsen,

  • öffentliche Diskussion der vorgeschlagener Achsen,

  • Diagnose und Erarbeitung eines Aktionsprogramms,

  • öffentliche Diskussion des Aktionsprogramms.

Dieser Methodenvorschlag ist in weiten Kreisen und auch in Betrieben getestet worden. Er soll praktische Orientierungen liefern und den Teilnehmerkreis ständig erweitern.

Die kritischen Phasen der Anwendung sind die Auswahl der Akteure (in bezug auf Problem- und Fragestellungen, die Bezugsebenen für relevante Lösungen, die Zugehörigkeit zu verschiedenen Aktionslogiken), die Auswahl der vorrangigen Ziele sowie die Abstimmung der Orientierungsvorschläge mit den Akteuren und der Bevölkerung. Der schwierigste Teil besteht in der Bewertung der Orientierungsvorschläge, um wesentliche Bedingungen räumlicher Exzellenz zu erarbeiten und herauszustellen (Stadtbild und Landschaftsqualität, nachhaltige Entwicklung und Einbeziehung benachteiligter Bevölkerungsteile, Bildungsstand und wirtschaftliche Ressourcen usw.). Die Originalität der Methode ist, daß die Diagnose nicht am Anfang des Prozesses, sondern in einer der letzten Phasen stattfindet. Es ist wichtiger, die Bürger, Akteure, Ideen- und Projektträger vorerst anzuhören, um gemeinsame Orientierungsmöglichkeiten zu erarbeiten, sie nicht in ein Diagnosenschema einzusperren, das oft verhindert, neue Wege zu entdecken.

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Auch wenn diese Methode ein Grundzug der neuen französischen städtischen und regionalen Entwicklungsstrategien ist, ist eine breite Durchführung noch nicht sichergestellt. Sie stellt klassische öffentliche und private Machtpositionen in Zweifel, schlägt den weitaus üblichen „technokratischen" Verfahren einen demokratischen Vorschlag entgegen. Es ist eine Umstellung von „top-down" zu „bottom-up".

Diese demokratische Verfahrenstechnik setzt voraus, daß alle Partner bereit sind, in einen gemeinsamen Lernprozeß einzutreten.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2000

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