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[Seite der Druckausg.: 109 ]


Ulrich Hellweg
Wie können Quartiere als sozialräumliche Gebiete entwickelt werden? - Thesen


  1. Die Stadtplanung ist ein wesentliches, aber kein ausschließliches Instrument der sozialräumlichen Quartiersentwicklung. Die Chance und die Verpflichtung der Stadtplanung besteht darin, die richtigen städtebaulichen, freiräumlichen und architektonischen Rahmenbedingungen für sozialverträgliche und ökologische Lebens- und Arbeitsverhältnisse zu schaffen. Man kann, wie Zille sagt, einen Menschen mit einer Wohnung erschlagen, aber man kann ihn - so muß man ergänzen - nicht allein mit einer Wohnung glücklich machen.

  2. Städte sind traditionell sozialräumlich gegliedert. In jeder historischen Epoche weist die Stadt Viertel und Quartiere aus, die besonderen Schichten und Gruppen der Gesellschaft vorbehalten bleiben. Auch in einer demokratischen Gesellschaft ist nicht die Differenzierung der Stadt in unterschiedliche Teilräume das Problem, sondern die wachsende Unüberwindbarkeit der Grenzen, d.h. die zunehmende Ghettoisierung bestimmter Quartiere.

  3. Die Ghettoisierung findet vor allem an den gesellschaftlichen Rändern statt. Hier ist die Abschottung nicht nur stabil, sondern sie verschärft sich. Das gilt sowohl für die Quartiere der Reichen, die sich durch zunehmende Überwachung (private Sicherheitsdienste, Einlaßkontrollen etc.) isolieren, als auch für die „red-lining-areas" in New York, die „banlieues" von Paris oder jene Berliner Kieze, in denen manche schon den Verlust des staatlichen Gewaltmonopols zu erkennen glauben.

  4. Die stadtplanerischen Möglichkeiten, als „soziale Brennpunkte" stigmatisierte Stadtquartiere zu „heilen", sind begrenzt. Hier müssen andere Maßnahmen wie spezielle Beschäftigungsprogramme für Jugendliche, Qualifikationsinitiativen, Streetwork, Drogen- und Schuldnerberatung, Konflikt- und Quartiersmanagement usw. ansetzen. Stadtplanerische Maßnahmen, vor allem in den Bereichen der sozialen Stadterneuerung, der Wohnumfeldverbesserung und der Infrastrukturversorgung, können

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    hier unterstützen und zur Verbesserung der Lebensqualität und des Standortimages beitragen.

  5. Neben den stabilen Gebieten an den Rändern der gesellschaftlichen Skala befinden sich viele Stadtquartiere in einem dynamischen Prozeß der Veränderung, der mit empfindlicher sozialer und ökonomischer Labilität verbunden ist. Die Ursachen hierfür sind vielfältig:
    • Veränderung des Wohnungsangebotes und des Wohnungsbedarfes
    • Verschlechterung der ökologischen Bedingungen durch wachsende Verkehrsimmissionen
    • Qualitätsverschlechterung des öffentlichen Raumes, Sicherheitsprobleme
    • Gefährdung der ökonomischen Basis der Quartiere, z.B. durch Schließung oder Verlagerung großer innerstädtischer Betriebe, Strukturwandel des Einzelhandels und des Handwerks
    • Migrationsprozesse und Herausbildung einseitiger Bevölkerungsstrukturen.

  6. Vor wenigen Jahren hat man in Berlin vor allem die Aufwertung durch Mauerfall und Vereinigung als Bedrohung der innerstädtischen Gründerzeitviertel (z.B. Moabit, Kreuzberg) gesehen und diese Gebiete großflächig durch Milieuschutzsatzungen gesichert. Tatsächlich sind diese Gebiete gegenwärtig nicht durch „Gentrifikation", sondern durch, den Exodus des Mittelstandes bedroht. Diese unerwartete Entwicklung erfordert neue planerische und politische Strategien.

  7. In der Tat liegt das Hauptaktionsfeld der Stadtplanung in diesen bedrohten Gebieten. Hier müssen die Strategien und Maßnahmen ansetzen, bevor die soziale, ethnische und ökonomische Erosion voranschreitet. Wie die Sanierung der Großsiedlungen der siebziger Jahre bzw. der Plattensiedlungen gezeigt hat, ist es erheblich schwieriger und kostspieliger, ein lebendiges gemischtes Stadtquartier wiederherzustellen als ein gefährdetes Quartier zu stabilisieren.

  8. Für die Stadtplanung gibt es sechs politische und planerische Interventionsbereiche zur sozialräumlichen Stabilisierung von Stadtquartieren:
    • der Wohnungsbereich
    • das örtliche Gewerbe

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    • die Infrastruktur
    • der öffentliche Raum
    • die Umweltqualität
    • die Bürgerbeteiligung.

  9. Im Wohnbereich spielt das Mietniveau eine zentrale, aber keine ausschließliche Rolle. Nach Wohnungsmarktuntersuchungen rangieren Faktoren wie Wohnungsgröße und -qualität, Sicherheit im öffentlichen und privaten Bereich sowie die Qualität des Wohnumfeldes und der Infrastruktureinrichtungen, vor allem der Schulen, vor der Miete. Daraus folgt, daß der rein ökonomisch orientierte, d.h. mietenfixierte Milieuschutz kein ausreichendes Instrument der Steuerung und Sicherung gefährdeter Quartiere ist. Genausowenig trägt eine einseitige Förderungspraxis, z.B. nur Sozialwohnungen, zur Stabilisierung gefährdeter Gebiete bei.

  10. Das ortsansässige Gewerbe hat eine Schlüsselfunktion für die Attraktivität und Lebendigkeit eines Stadtquartiers. Nicht nur die Mietexplosion vergangener Jahre, sondern auch der ökonomische Strukturwandel (großflächiger Einzelhandel, Filialisierung) können die gewerbliche Struktur eines Gebietes und damit die so qualitätsentscheidende Mischung grundlegend gefährden. Der Wegzug traditioneller Käuferschichten zerstört die Existenzgrundlage bestimmter Betriebe, so daß deren Schließung zu einem verhängnisvollen Circulus vitiosus führt. Die planerischen Möglichkeiten der Steuerung der gewerblichen Entwicklung sind gering. Wirtschaftsförderung zur Bestandssicherung, die Unterstützung von Existenzgründern und Innovationsbetrieben können die örtliche Wirtschaft stärken und neue Impulse setzen.

  11. Das Ranking der Infrastruktur, insbesondere der Schulen, spielt eine wachsende Rolle bei der Wohnstandortentscheidung des Mittelstandes. Nur wenn die Qualität der schulischen Ausbildung auch für die mittelständischen und aufstiegsorientierten Bewohner - Deutsche wie Ausländer - gewährleistet wird, kann der Wegzug dieser Schichten gestoppt und der multikulturelle Anspruch gemischter Stadtquartiere eingelöst werden.

  12. Die Bedeutung des öffentlichen Raums für die Attraktivität eines Quartiers wird - nicht zuletzt aufgrund der anhaltenden Haushaltskrise - viel zu gering bewertet. Dabei sind Aspekte der Aufenthaltsqualität, der Sicherheit,

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    der Kinderfreundlichkeit, der Sauberkeit zentrale Qualitätsmerkmale eines Standortimages. Das alte Makler-Motto: „Für die Vermarktung einer Immobilie sind drei Dinge entscheidend, nämlich erstens der Standort, zweitens der Standort und drittens der Standort!" bewahrheitet sich gerade bei einem relativ entspannten Immobilienmarkt. Investitionen in den öffentlichen Raum sind Investitionen in den Standort.

  13. Last but not least spielt die Bürgerbeteiligung im weitesten Sinne eine zentrale Rolle für die Identifikation der Bewohner mit ihrem Quartier. Dabei kann es nicht nur um die formalisierte Bürgerbeteiligung im Sinne des Bundesbaugesetzes gehen, sondern um eine umfassende Mitwirkung der Bürger in den Entscheidungsprozessen vor Ort. In der behutsamen Stadterneuerung ist in den letzten Jahrzehnten ein weites Spektrum der Beteiligung - von den Betroffenenvertretungen bis zur baulichen Selbsthilfe - praktiziert worden, das jetzt aktiv weiterentwickelt werden muß. Die geplante Einrichtung von Stadtteil-Managern kann ein wichtiger Baustein sein, Beteiligungs- und andere Gemeinwesenprozesse im kulturellen, sozialen oder baulichen Bereich zu organisieren und zu unterstützen.

  14. Die bisherige Verwaltungspraxis in den sozialen Brennpunkten bzw. in den gefährdeten Gebieten zeichnet sich vor allem durch das sektorale Nebeneinander der Fachdisziplinen (Stadterneuerung, Sozialarbeit, Arbeitsmarktpolitik usw.) aus. Integrierte Strategien (vgl. Ansätze in NW) sind selten. Gerade in konzertierten Handlungsansätzen und in der politischen Thematisierung der Probleme (vgl. Stadtteilkonferenzen in Berlin) liegt ein wesentlicher Schlüssel für die Wirksamkeit einer Strategie zum Abbau lokaler Disparitäten und sozialräumlicher Segregation. Eine lokal fokussierte Zusammenarbeit der unterschiedlichen Akteure aus dem Sozial- und Planungsbereich sowie aus der Politik erfordert intensivere Kooperationsstrukturen. Sozial-, Planungs- und Ordnungsverwaltungen sollten in lokalen Projektgruppen mit den Stadtteil-Managern und den politischen Akteuren vor Ort intensiv zusammenarbeiten.

© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2000

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