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TEILDOKUMENT:


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Ralf Zimmer-Hegmann
Epilog zum Beitrag von Ton van der Pennen


Ton van der Pennen hat in seinem Beitrag über das niederländische Beispiel vier zentrale Fragestellungen aufgegriffen, die auch für die deutsche Diskussion um integrierte Stadtteilerneuerungsansätze von grundlegender strategischer Bedeutung sind. Die Fragen zielen insbesondere auf die Ansatzpunkte und die Reichweite und Tiefe von stadtteilbezogenen Erneuerungsstrategien. Sie machen im übrigen auch deutlich, daß es sich bei der Debatte um solche Erneuerungsstrategien nicht alleine um national spezifische Fragestellungen handelt, sondern um Fragen und Problemstellungen, die die Praxis von stadtteilbezogenen Ansätzen europaweit berühren. Dies unterstreicht aus meiner Sicht gerade auch die Bedeutung eines europaweiten Diskurses über solche Fragestellungen. Aus der Perspektive der nordrhein-westfälischen Diskussion und Praxis der integrierten Stadtteilerneuerung [Fn.1: In NRW existiert seit 1993 ein staatliches „Integriertes Handlungsprogramm für Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf" gemeinsam von Land und Kommunen, in dem z.Z. 28 Stadtteile in 22 Kommunen gefördert werden. Siehe dazu ausführlich den Beitrag von Susanne Kürpick in diesem Heft.] möchte ich die Fragen folgendermaßen kommentieren:

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1. Integration der Zusammenarbeit und Vernetzung

Im Zusammenhang mit dem integrierten Stadtteilerneuerungsansatz in NRW ist es zu vielen neuen und unterschiedlichen Formen der Zusammenarbeit gekommen, die bisherige fachspezifische Zuständigkeiten und Sichtweisen verändert haben. Die aufgrund des stadtteilbezogenen Ansatzes erforderliche Integration von Arbeitsfeldern hat in der Konsequenz auch zu neuen Verwaltungsstrukturen geführt. Deren Formen sind aufgrund der je spezifischen örtlichen und kommunalpolitischen Bedingungen recht unterschiedlich. Sie reichen von der Einrichtung von ortsbezogenen und fachübergreifenden eigenständigen Entwicklungsgesellschaften über die Dezentralisierung von städtischen Einrichtungen bis zu temporären fachübergreifenden Arbeitsgruppen der Verwaltung, die den Prozeß der stadtteilbezogenen Erneuerung verwaltungsseitig begleiten. Als wichtige Erfahrung zeigt sich, daß

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integrierte Stadtteilerneuerung damit nicht nur eine Strategie zur Verbesserung der Lebenssituation der Menschen im Stadtteil ist, sondern auch wichtiger Impulsgeber für eine effektive Verwaltungsmodernisierung sein kann. Allerdings zeigt sich auch, daß diese Impulse nur langsame Lerneffekte ermöglichen, d.h. daß das Beharren von alten fachspezifischen und ressort-egoistischen Denk- und Verhaltensweisen noch recht stark verankert ist. Jedoch nicht nur altes Verwaltungsdenken behindert integrierte Ansätze. Gerade auch viele Diskussionen um das sogenannte neue Steuerungsmodell in Deutschland mit dem vermeintlichen Ziel der Modernisierung und Effektivierung von öffentlicher Verwaltung könnte sich als Fallstrick erweisen. Die dezentrale Ressourcenverantwortung von Verwaltungseinheiten erhebt den betriebswirtschaftlichen Erfolg der jeweiligen Einheit einseitig zum zentralen Ziel, was die ressortübergreifende Zusammenarbeit für ein nicht nur betriebswirtschaftliches Gesamtziel eher behindert als erleichtert.

Insgesamt wird jedoch ein zeitliches Dilemma deutlich. Der Erfolg von stadtteilbezogenen integrierten Strategien, der angesichts der beschriebenen Problemkumulationen auch unter einem kurzzeitigen Veränderungsdruck steht, ist wesentlich von der integrierten Zusammenarbeit der verwaltungsseitigen Akteure abhängig. Deren Veränderungsfähigkeit als Lernprozeß in Folge des Zwangs durch die konkrete Praxis ist jedoch wesentlich langsamer und mühseliger. Bisweilen mag man hier an das berühmte Spiel und Bild vom „Hasen und Igel" denken.

Insofern möchte ich auch hier den Befund von Ton van der Pennen unterstreichen: In der Praxis sind die Erfolge von Stadtteilerneuerungsansätzen damit vor allem von Personen abhängig, die bereit und in der Lage sind, sich aus traditionellen Denk- und Verwaltungsstrukturen zu lösen und bereit sind, über den eigenen „Tellerrand" zu schauen und quer zu bestehenden „Zuständigkeiten" zusammenzuarbeiten.

Was die von Ton van der Pennen angesprochenen „Projektkarussells" betrifft, kann ich dem für Nordrhein-Westfalen tendenziell zustimmen. Zwar findet im Rahmen von stadtteilbezogenen Ansätzen durch die Vernetzung der örtlichen Akteure und durch die Durchführung von Bedarfsanalysen eine Abstimmung von Angeboten statt, so daß auch ein effektiverer Einsatz von Ressourcen möglich ist. Doch sind solche Abstimmungsprozesse in der Praxis solange von begrenzter Reichweite, wie eine Unübersichtlichkeit der staatlichen Förderlandschaft für solche Projekte besteht. Die Vielzahl der Fördergeber

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und -Programme und deren Ausrichtung auf spezifische Zielgruppen bzw. auch Empfänger der Fördergelder (Wohlfahrtsverbände, Initiativen, Kommune etc.) macht eine auf die Bedarfe eines Stadtteils zugeschnittene Koordination sehr schwer, wenn nicht häufig sogar unmöglich. Hier müßte die Philosophie der stadtteilbezogenen und integrierten Projektansätze auch mehr Eingang in die staatliche Förderpolitik und deren -Struktur finden.

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2. Ist der Stadtteil eine Gemeinschaft bzw. wie groß ist die Reichweite von stadtteilbezogenen Ansätzen?

Auch in diesem Punkt ist Ton van der Pennen zuzustimmen. Der Stadtteil ist keine abgeschlossene Gemeinschaft, in der alle Probleme gelöst werden können. Abgesehen von der richtigen Feststellung, daß die meisten Probleme der benachteiligten Stadtteile exogenen Ursprungs sind, man denke nur an die Probleme des Arbeits- und Wohnungsmarktes, handelt es sich bei den Stadtteilen selbst um sehr stark sozial, ökonomisch und kulturell fragmentierte Gesellschaften. Manche (kommunitaristische) Ideen über „intakte" Nachbarschaften erweisen sich angesichts dieser Realität schon bald als Illusion. Man denke hier nur an die latente Explosivität im Zusammenleben verschiedener Kulturen, deren vermeintlich ethnische Konflikte oftmals Ausdruck handfester sozio-ökonomischer Konkurrenzen - etwa um Arbeitsplätze im unteren Arbeitsmarktsegment - sind. Ein Zukunftsbild der „heilen Stadtteilwelt" wäre demnach auch grundfalsch. Eine realistische Sichtweise über die Begrenztheit solcher Ansätze bedeutet jedoch im dualistischen Umkehrschluß nicht die Unsinnigkeit von stadtteilbezogenen Strategien. Im Gegenteil lassen sich eine Vielzahl von endogenen Potentialen durch solche Ansätze im Stadtteil wecken, die bekannt sind und die ich hier nicht aufzählen will und die einen Beitrag zur Verbesserung der Lebenssituation leisten können. Um die Wirkungen solcher stadtteilbezogenen Strategien zu optimieren, bedarf es darüber hinaus der Integration von stadtteilbezogenen und zielgruppenspezifischen Ansätzen sowie der Einbettung in eine kohärente Strategie der sozialen Stadtentwicklung aller politischen Ebenen. Ich gestehe ein, daß solche politischen Diskussionen in Deutschland noch recht unterentwickelt sind. So fehlt es selbst in Kommunen mit Stadtteilen mit besonderem Erneuerungsbedarf in NRW oft noch an der politischen Strategie der Gesamtstadt für eine ausgewogene räumliche Entwicklung, die unter dem Leitbild der „sozialen Stadtentwicklung" die Verhinderung weiterer sozialräumlicher

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Polarisierungen zum Ziel hat. Häufig bleiben dann stadtteilbezogene Ansätze nur insulare Konzepte mit geringer Wirkung. Institutionell-politisch sind gute Voraussetzungen in Deutschland geschaffen, das Thema „Soziale Stadtentwicklung" zum einem gesamtgesellschaftlichen Thema mit dem Ziel der Entwicklung von ebenenübergreifenden integrierten Strategien zu machen. Die entsprechenden Passagen in der Koalitionsvereinbarung der neuen Bundesregierung weisen dabei in die richtige Richtung. Es bleibt jedoch auch hier festzustellen, daß Deutschland gewiß auch in dieser Frage noch viel von seinem niederländischen Nachbarn lernen kann.

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3./4. Gibt es Ghettos in Deutschland? Wie weit reicht die sozialräumliche Diskriminierung und Stigmatisierung?

Auch ich würde mich entschieden gegen den Begriff des „Ghettos" im Zusammenhang mit benachteiligten Stadtteilen wenden. Oft sind es gerade auch die wohlmeinenden Fürsprecher für stadtteilbezogene Ansätze, die diesen oder andere Begriffe (z.B. „Armutsinsel") zur Charakterisierung dieser Gebiete wählen, um mit einer solchen drastischen Negativbeschreibung der Gebiete bei Politik und Öffentlichkeit die Notwendigkeit gebietsbezogener Maßnahmen einzufordern. Doch hierbei begibt man sich schnell auf gefährliches Glatteis, die Stigmatisierung der Gebiete noch zu verstärken. Stigmatisierung von außen scheint mir auch das entscheidende Kriterium der räumlichen Diskriminierung zu sein. Auch in Deutschland gibt es keine Ghettos im definierten Sinne. Wir haben es (noch) nicht mit von der gesamtstädtischen Ökonomie und Gesellschaft abgekoppelten und abgehängten Stadtteilen zu tun. Übergänge in die Stadtökonomie und Stadtgesellschaft existieren noch. Das ist der Unterschied von wohlfahrtsstaatlichen Systemen wie Deutschland oder den Niederlanden beispielsweise gegenüber den USA, wo Ghettos existieren. Was es jedoch gibt, sind eine Vielzahl von räumlich sich konzentrierenden und gegenseitig verstärkenden Benachteiligungen (Problemkumulationen), bei denen die Gefahr besteht, daß sie sich zu einer dauerhaften Abwärtsspirale von Gebieten entwickeln können. Eine solche Entwicklung kann durch die Außenstigmatisierung eines Stadtteils, die Verfestigung eines Negativimages noch verstärkt werden. Man denke nur an die Wirkungen auf die Rendite von Immobilien in einem schlechten Stadtteil oder die Investitionsbereitschaft von Unternehmen. Neben der Konzentration von sozio-ökonomischen Problemen in einem bestimmten Stadtteil kann

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damit auch das Wohnen und Leben in einem solchen Stadtteil selbst zu einem benachteiligenden Faktor werden. Wenn beispielsweise Jugendliche aus solchen Stadtteilen sich bei Bewerbungen um eine Lehrstelle scheuen, ihre Wohnadresse anzugeben, aus Angst, diese Lehrstelle dann nicht zu bekommen, ist solch ein räumlicher Diskriminierungsprozeß treffend beschrieben. Objektiv vorhandene Benachteiligungen und Probleme werden für solche Stadtteile allzu häufig mit der Verfestigung von Vorurteilen zu einer dauerhaften (Außen-)Stigmatisierung dieser Gebiete verstärkt. Dabei tragen bisweilen auch Öffentlichkeit (Medien) und Politik zur Pflege dieser räumlichen Diskriminierung bei, während sich auch nach unserer Beobachtung diese Außendramatisierung nicht mit der Innenwahrnehmung der Bewohner deckt, die in ihrer Mehrzahl gerne in ihrem Stadtteil wohnt.

Der auch sprachliche Umgang mit diesem Phänomen ist insofern eine schwierige Gradwanderung. Geht es doch darum, die tatsächlichen Probleme anzusprechen, um sie wahrnehmbar und damit politisch lösbar zu machen, ohne sich in die Gefahr zu begeben, diese Gebiete schlecht zu reden und sich damit an der Verfestigung des Negativimages selbst zu beteiligen. In NRW heißt das Programm auch gerade aus diesem Grund Handlungsprogramm für Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf und nicht für benachteiligte Stadtteile o.ä. Es geht darum, durch eine positive Begrifflichkeit eine Positiventwicklung der Gebiete zum Ausdruck zu bringen.

Auch in Deutschland wird in der Mainstream-Diskussion eine starke (vor allem ethnische) Segregation mit der Warnung vor der Gefahr der Ghettobildung abgelehnt und das alte Leitbild der „gesunden" Mischung von Bevölkerungsgruppen gepflegt. Ich halte diese Einseitigkeit für falsch. Ich bin sehr dafür, Gebiete durch bauliche und ökonomische Maßnahmen aufzuwerten, um das Negativstigma zu überwinden. Dazu gehören beispielsweise auch Wohnungsbaumaßnahmen für wohlhabendere Bevölkerungsgruppen in diesen Gebieten, sofern dies möglich ist. Ich bin allerdings gegen die zwanghafte Verhinderung von ethnischer Segregation etwa durch Diskussionen um mögliche Zuzugsquoten von Ausländern in bestimmte Stadtteile - eine Diskussion, die beispielsweise in Dortmund geführt wird. Abgesehen von der Frage, ob die öffentliche Hand überhaupt Steuerungsmöglichkeiten in diesem Bereich hat oder ob es sich nur um eine ideologische Scheindiskussion zur Beruhigung eines bestimmten deutschen Wählerklientels handelt, kann Segregation auch nützlich sein, nämlich da, wo sie freiwillig erfolgt

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und auch zu konkreten Verbesserungen der Lebenssituation von Menschen führen kann. Dann nämlich, wenn sich beispielsweise ethnische Minderheiten räumlich konzentrieren, um gegenseitige informelle oder formelle Hilfsnetzwerke oder kulturelle Traditionen zu pflegen. Eine allgemeingültige Antwort auf die akademische Frage: (ethnische) Segregation/ "Ghettobildung" - nützlich oder schädlich? kann es daher nicht geben. Diese Frage ist nur am konkreten Fall und unter den je spezifischen örtlichen Bedingungen differenziert zu beantworten.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2000

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