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TEILDOKUMENT:


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Ton van der Pennen
Sozialwirtschaftliche politische Strategie und Praxis: das Beispiel Niederlande


Einleitung

Die Koalitionsvereinbarung des neuen Kabinetts unter Leitung von Ministerpräsident Kok enthält die Aussage, daß die niederländische Gesellschaft noch immer Defizite aufweist, und zwar sowohl in finanzwirtschaftlicher als auch in gesellschaftlicher Hinsicht. Die soziale und physische Infrastruktur ist den Anforderungen des neuen Jahrhunderts nicht in ausreichendem Maße gewachsen. In der bevorstehenden Legislaturperiode (1998-2002) wird man die Aufmerksamkeit erneut auf das erforderliche Beschäftigungswachstum, Erneuerungen in der Wirtschaft, Investitionen in die Umwelt und Hilfestellung für sozial schwache Bevölkerungsgruppen lenken. Man hat sich vorgenommen, verstärkt in die soziale und physische Infrastruktur zu investieren, um so die Entfaltungsmöglichkeiten von Menschen zu vergrößern und die soziale Kohäsion zu verstärken. In der Regierungserklärung wird erneut betont, daß den Menschen, die zu weit vom Arbeitsmarkt entfernt sind, als daß sie wieder eine Arbeit finden könnten, geholfen werden muß. Man zielt auf eine Verbesserung der Situation von Langzeitarbeitslosen, großen Gruppen Jugendlicher, Haushalten mit Kindern am Rande des Existenzminimums, älteren Mitbürgern und Frührentnern mit einem niedrigen Einkommen, Drogenabhängigen und Obdachlosen, also Menschen in einer Rückstandslage ab. Dem Kontext, in dem sich die Problematik manifestiert, beispielsweise in Stadtvierteln und Stadtteilen, wird ebenfalls gebührende Aufmerksamkeit geschenkt: Ziel ist die Förderung der Lebensqualität und des sozialen Zusammenhalts solcher Wohnverbände.

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1. Polarisiertes Wachstum in den Städten und das politische Dilemma

Neben pessimistischen Stimmen über den zunehmenden Verfall bestimmter städtischer Gebiete und die dort herrschende Armut ist auch ein gewisser Optimismus über die Revitalisierung der Großstädte und die Aufwertung des

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städtischen Charakters zu verspüren. Die wirtschaftliche Revitalisierung der Großstädte nimmt einen wichtigen Platz auf der politischen Tagesordnung ein, und zwar nicht nur in den Niederlanden. Nationale Regierungen versuchen, diesen Prozeß mit Finanzspritzen, Verbesserungen im wirtschaftlichen Bereich, Technologie und Städteplanung zu lenken. Man hält diese wirtschaftliche Städtepolitik für notwendig, damit man sich im starken wirtschaftlichen Wettbewerb zwischen Städten, Regionen und Märkten behaupten kann.

Gleichzeitig sind die Kommunalbehörden darum bemüht, die sozialen Probleme, die sich in den Städten konzentrieren, beispielsweise hohe Arbeitslosigkeit, soziale Ausgrenzung und Kriminalität, zu bekämpfen. Die Maßnahmen, die in diesem Zusammenhang getroffen werden, lassen sich unter dem Begriff „Stedelijke Vernieuwing" [Fn.1: Siehe Regierungsplan zur Stedelijke Vernieuwing vom 26. Juni 1997, in dem das Kabinett seinen neuen Impuls für die Stadtentwicklung darstellt (TK 1996/1997).] zusammenfassen. Die Bekämpfung des Verfalls und die Revitalisierung sind die beiden Ausdrucksformen städtischer Entwicklung, die Castells [Fn.2: M. Castells 1989.] als einen Prozeß polarisierten Wachstums beschreibt. Eine Wiederbelebung der Wirtschaft bedeutet, daß bestimmte Bevölkerungsgruppen davon profitieren und andere nicht. Es hat den Anschein, als hätten sich die Trennungslinien zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen in den Städten verschärft. In diesem Zusammenhang läßt sich ein unausgewogenes Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage auf den lokalen Arbeitsmärkten feststellen. Infolge der städtischen Revitalisierung entstehen neue hochwertige Arbeitsplätze, die mit Arbeitnehmern von außerhalb besetzt werden, während sich die Beschäftigungslage im unteren Segment des Arbeitsmarktes für einen Großteil der eingesessenen Bevölkerung ständig verschlechtert. [Fn.3: Vgl. R. van der Wouden 1996.]
Die Förderung der städtischen Revitalisierung darf, wie aus den politischen Zielsetzungen abgeleitet werden kann, nicht zu einer extremen Verschärfung der Gegensätze in der Stadt führen. Eine reelle Bedrohung der städtischen Revitalisierung stellt die Konzentration von Rückstandsproblemen und Problemgruppen dar. Die meisten Bewohner benachteiligter städtischer Gebiete nehmen eine ungünstige Position in der niederländischen Gesellschaft ein. Unter ihnen herrscht große Arbeitslosigkeit und sie müssen sich mit dem weniger attraktiven Angebot des Wohnungsmarktes

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begnügen. Sie werden sozial ausgegrenzt. In politischen Debatten zu diesem Thema wird vor einer sozialen Kluft gewarnt.

Als Ursache für die Ausgrenzung werden zum einen die Hintergrundmerkmale der Bewohner, z.B. ihr Einkommen und ihr Bildungsstand, genannt. Andere Erklärungen konzentrieren sich auf das Umfeld, in dem die Bewohner leben und das zwangsläufig zur Resignation führt - eine Kultur der Armut. [Fn.4: O. Lewis 1966.] Andere wiederum, zu denen auch Wilson gehört, verweisen auf den Einfluß von Wohngegenden, insbesondere Ghettos. [Fn.5: W.J. Wilson 1987.] All diese Erklärungen konzentrieren sich auf das Verhalten der Menschen, das zur Ausgrenzung führt. Obwohl diese Erklärungen möglicherweise interessante Einblicke in Aspekte wie Kriminalität und soziale Sicherheit in bestimmten Vierteln gewähren, werden sie kontrovers diskutiert und wird der Vorwurf erhoben, daß dadurch den Opfern die Schuld gegeben wird. Wir werden nicht auf diese Ansätze eingehen. Unser Ansatz steht im Einklang mit der Theorie des räumlichen Ungleichgewichts, die Kassarda formulierte. [Fn.6: J.D. Kassarda 1985.] Diese Theorie besagt, daß eine Reihe demographischer und wirtschaftlicher Trends bestimmte Bevölkerungsgruppen an den Rand der städtischen Gesellschaft drängen. Diese Perspektive betont den Ausschluß vom Arbeitsmarkt; davon sind in den Niederlanden insbesondere Ausländer betroffen. Hohe Arbeitslosigkeit - eine der Hauptursachen der sozialen Ausgrenzung von Ausländern - kann in erheblichem Maße auf das räumliche Ungleichgewicht zurückgeführt werden. Es wird davon ausgegangen, daß die schnelle Deindustrialisierung der städtischen Wirtschaft zu einer erheblichen Verringerung der Zahl der Arbeitsplätze geführt hat, für die Minderheiten qualifiziert sind. Diese „Ausgrenzung" kann durch die selektive Abwanderung von Minderheiten mit einem geringen Bildungsgrad in diese Städte verstärkt werden.

Die Stadtverwaltungen stehen vor einem Dilemma. Indem die positiven Seiten der Stadt beispielsweise in Form der Förderung der städtischen Wirtschaft oder der Aufwertung der Stadt als kulturellem Zentrum weiterentwickelt werden, wird die Rückstandsproblematik nicht unmittelbar gelöst. Die Lösung der sozialen Probleme ist jedoch eigentlich nicht Aufgabe der Stadtentwicklungspolitik. Andere politische Sektoren außerhalb der Raumordnungs- und Wirtschaftspolitik leiten eine soziale Offensive ein, um eine

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Zweiteilung der Stadt zu verhindern. [Fn.7: Die lokale Sozialpolitik, die zur Verwirklichung dieser „Offensive" eingesetzt wird, läßt sich folgendermaßen beschreiben: 'Die politischen Interventionen der Kommunalbehörden, die auf eine Lösung von sozialen Problemen abzielen und die die Chancen sozial schwacher Gruppen auf eine optimale Beteiligung an der Gesellschaft vergrößern. Sozialpolitik ist das Ergebnis der Fürsorgepolitik in präventivem Sinne (Betreuung, Entspannung, Begegnung und Entfaltung) und der gemeinsamen Anstrengungen der Sektoren Fürsorge, Bildung, Pflege, Wohnen, Soziales und Arbeit in bezug auf Themen wie Arbeitsmarkt, Bildungswesen, Einbürgerung, Unterstützung sozial schwacher Familien, soziale Partizipation, Betreuung von Obdachlosen und soziales Klima im Stadtviertel'.]
Dabei handelt es sich teilweise um eine Fortsetzung der herrschenden Sozialpolitik und teilweise um eine Neudefinition der kommunalen Sozialpolitik als integralem Bestandteil der Großstadtpolitik. [Fn.8: Vgl. T.A.W, van der Pennen, E. ter Borg 1996.]
Im Hinblick auf die Wirtschaftsförderpolitik der Städte spielt die kommunale Sozialpolitik sowohl eine korrigierende als auch eine stimulierende Rolle. Die Sozialpolitik greift die Probleme auf, die von der Wirtschaftsförderung nicht erfaßt werden. Mit der Beleuchtung der sozialen Seite des städtischen Entwicklungsprozesses wird die Diskussion über das Gemeinwohl der Bürger erneut aktualisiert. Ein qualitativ hochwertiges Einrichtungs- und Wohnumfeld gilt als wichtiger Faktor, wenn man das Interesse von Unternehmen und Investoren wecken will; die Bewohner sind aus anderen Gründen an einem qualitativ hochwertigen Wohnumfeld interessiert.

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2. Die sozialwirtschaftliche Offensivpolitik im Wandel der Zeit

Das derzeitige politische Interesse in den Niederlanden an den Problemen der (großen) Städte und ihrer Viertel ist zwar verständlich, jedoch nicht neu. Die Stadtsanierungspolitik („Bouwen voor de buurt", Bauen für das Viertel), die in den siebziger Jahren eingeleitet wurde, war der Beginn des staatlichen Engagements im Hinblick auf spezifische städtische Probleme in den Niederlanden. Zuvor hatte sich die Raumordnungspolitik vorrangig mit der Regulierung des städtischen „Überschusses" durch Ausweisung von Expansionszentren in der Umgebung von Großstädten befaßt. Diese Politik wirkte sich selbstverständlich auf die betreffenden Städte aus, man befaßte sich jedoch nicht mit den Problemen in den Städten selbst. Das änderte sich mit der Vorbereitung und Veröffentlichung des Dokuments über die Stadt- und Dorfsanierung im Jahr 1981, dem ein Jahrzehnt der Debatten über die Ziele

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der Stadtsanierung, ein 1977 gestarteter Versuchsplan und Aktivitäten der Großstädte in diesem Bereich vorangingen. Die anschließenden Pläne und Aktivitäten zielten auf die Renovierung veralteter städtischer Bausubstanz zugunsten der alteingesessenen, häufig nicht gerade wohlhabenden Bürger ab. Die Mieten mußten niedrig gehalten werden und die eingesessene Bevölkerung sollte weitestgehend von der Stadtsanierung profitieren. Die Städte setzten sich, möglicherweise in noch stärkerem Maße als die niederländische Regierung dies tat, eine Wohnungspolitik zum Ziel, die auf das untere Segment des Wohnungsmarktes abzielte. Dies hatte zur Folge, daß die meisten alten niederländischen Innenstadtviertel saniert wurden.

Im Rückblick kann diese Vorgehensweise als Konsolidierung der sozialen Probleme in diesen Vierteln betrachtet werden. In den achtziger Jahren geriet die in den siebziger Jahren entwickelte und umgesetzte Stadtsanierungspolitik zunehmend in die Kritik. Trotz der Modernisierung der Häuser in den ehemaligen Stadtsanierungsgebieten traten erneute Probleme in bezug auf Verarmung, hohe Arbeitslosigkeit, eine begrenzte wirtschaftliche Infrastruktur und Spannungen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen auf. [Fn.9: Diese städtische Sichtweise des Sozialwohnungswesens änderte sich in den frühen neunziger Jahren, unter anderem als Reaktion auf die groß angelegte Privatisierung des Wohnungsmarktes. Dies resultierte in einer Politik, die dem oberen Segment des Wohnungsmarktes ebenfalls verstärkte Aufmerksamkeit widmete. Die Kooperation mit Marktteilnehmern zur Erzielung eines besseren Gleichgewichts beim Wohnraumangebot in den Großstädten entwickelte sich zum Ausgangspunkt der Politik. Diese Politik hat in den vergangenen Jahren Gestalt erhalten. Man hat es sich zum Ziel gesetzt, nicht nur die reicheren Bevölkerungsgruppen an die Stadt zu binden, sondern auch eine sozial gemischte Bevölkerung auf regionaler Ebene zu fördern. Der Bau von Eigenheimen in alten Bezirken ist ein Mittel zur Förderung einer ausgeglicheneren Stadtbezirksbevölkerung, sowohl in bezug auf das Einkommensniveau als auch auf die ethnische Abstammung.]
Allmählich widmete man der Form, in der ein Viertel nach Abschluß des Stadtsanierungsprozesses verwaltet werden mußte, verstärkte Aufmerksamkeit.

Seit den achtziger Jahren bis heute hat sich ein Wandel hin zu einem integralen Ansatz in bezug auf Stadtviertel vollzogen. In diesem Ansatz stehen sowohl das physische als auch das sozialwirtschaftliche Element der Rückstandsprobleme im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Obwohl das physische Klima der Viertel in der Stadtsanierungsphase verbessert wurde, blieben die sozialwirtschaftlichen Probleme ungelöst. Zur Lösung dieser Probleme plädierte man für einen integraleren Ansatz in bezug auf Stadtviertel. 1985

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wurde die Politik, die auf „kumulative Problemgebiete" abzielte, in die Praxis umgesetzt. Seit 1990 wurde diese Politik in die anschließend entstandene soziale Erneuerungspolitik integriert. Aufgrund der Dezentralisierung und Deregulierung seitens der niederländischen Regierung erhielten die Städte eine bedeutende Rolle in diesem politischen Programm. Ihnen wurde eine „neue" Arbeitsmethode zur Bekämpfung der Rückstände in bestimmten Stadtvierteln zur Verfügung gestellt. In dieser sozialen Erneuerungspolitik wurden die sozialen Probleme in drei Kategorien unterteilt:

  1. Beschäftigung, Ausbildung und Einkommen

  2. alltägliches Wohnumfeld

  3. die Effizienz und Qualität von Einrichtungen.

Auf kommunaler Ebene lag der Schwerpunkt hauptsächlich auf der Verbesserung der Lebensqualität und der Bekämpfung der Unsicherheit im Stadtviertel (die beiden ersten Punkte). Man wurde sich in zunehmendem Maße der Tatsache bewußt, daß das Arbeitsumfeld neben der physischen und sozialen Qualität der Umwelt ebenfalls eine wichtige Rolle in der Rückstandsbekämpfungspolitik spielte. In noch stärkerem Maße als das frühere Sozialerneuerungsprogramm zielte die 1995 eingeleitete Großstadtpolitik auf eine Kombination der marktorientierten Förderung der städtischen Wirtschaft und der Rückstandsbekämpfungspolitik ab. Ziel ist ein Zusammenspiel von Wirtschaft und Sozialpolitik: Von den neuen oder intensivierten wirtschaftlichen Aktivitäten sollen die Schwächsten auf dem Arbeitsmarkt profitieren.

Im Laufe der Jahre kristallisierten sich die wichtigsten Merkmale der Politik zur Beseitigung der Großstadtprobleme in den Niederlanden heraus. Bei dem ersten Merkmal handelt es sich um das politische Dilemma: den Balanceakt zwischen einer marktorientierten Förderung und der Rückstandsbekämpfungspolitik einerseits und einer sozialen Offensivpolitik anderseits. In den vergangenen Jahren ist man verstärkt zu der Einsicht gelangt, daß sich die Probleme der Bevölkerungsgruppen im unteren Segment des Wohnungs- und Arbeitsmarktes nicht dadurch lösen lassen, daß man sich nur auf diese Gruppen konzentriert, sondern daß man den gesamten Wohnungs- und Arbeitsmarkt betrachten muß. Das zweite Merkmal ist die Verschiebung von spezifischen, oftmals sektorspezifischen Maßnahmen hin zu einer umfassenden Politik. Die anfängliche Notwendigkeit, Probleme unter Einsatz

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der vorhandenen Mittel und der sektorspezifischen Struktur der staatlichen Verwaltung schnell zu bekämpfen, wurde später durch die Annahme ersetzt, daß eine integrale Vorgehensweise in bezug auf ein Problemgebiet wertvoller war als eine Reihe von Einzelmaßnahmen, die sich jeweils auf einen einzelnen Bereich des Problems konzentrierten. Das dritte Merkmal ist die Verschiebung von einer einheitlichen Politik, die für alle Städte in den Niederlanden galt, hin zu einer differenzierteren Politik, die auf die Städte mit den größten Problemen abzielte. In einigen Fällen bezog sich diese Politik auf die vier größten Städte, in anderen Fällen wurden andere große oder mittlere Städte ebenfalls miteinbezogen.

Mit der Einführung der sozialen Erneuerung entsteht ebenfalls eine neue Arbeitsmethode, die folgende Hauptmerkmale trägt:

  • ein integraler und stadtviertelorientierter Ansatz

  • Dezentralisierung und Deregulierung

  • eine wichtige Rolle für die Städte

  • die Einbeziehung von Bürgern in die Umsetzung politischer Aktivitäten.

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3. Die Lenkfähigkeit der niederländischen Gemeinden

Auf politischer Ebene haben niederländische Gemeinden in vielen Bereichen der Sozialpolitik die Möglichkeit, eigene Strategien zu entwickeln. Seit 1980 betreiben die verschiedenen Regierungen eine aktive Dezentralisierungspolitik. Sowohl die kommunale als auch die nationale Politik hat im Hinblick auf die Dezentralisierung eine Reihe von Erwartungen formuliert:

  • das Zielbewußtsein der Politik nimmt zu, wenn die Bürger verstärkt einbezogen werden und mehr „Tuchfühlung" mit der Politik haben (Aktivierung und Nachfragelenkung);

  • die Basis der Politik und Maßnahmen wird verstärkt, wenn eine klare lokale Abwägung stattfindet (bessere politische Abwägung auf lokaler Ebene);

  • Integration und Koordination unterschiedlicher politischer Anstrengungen bei der Bekämpfung von Rückstandssituationen führen zu einem besseren „Fit" der Maßnahmen und vergrößern die Zweckmäßigkeit (Maßarbeit) (siehe auch Schaukasten 1).

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Schaukasten 1: Argumente für Dezentralisierung

Die Gründe, die für eine Dezentralisierung der Sozialpolitik sprechen, lassen sich in groben Zügen auf drei Hauptargumente reduzieren: Zweckmäßigkeit, Machtgleichgewicht und Partizipation. Diese Argumente werden im Anschluß kurz erörtert. [Fn.10: Die Hauptargumente für die Dezentralisierung stammen von R. Gilsing, Sozial- und Kulturplanungsamt (SCP), Niederlande.]

Zweckmäßigkeit

Das Argument der Zweckmäßigkeit beinhaltet, daß selbständig demokratisch operierende Gemeinden besser in der Lage sind, die kommunalen staatlichen Leistungen zu erbringen, die sich die Bürger wünschen. Dabei handelt es sich eigentlich um zwei Argumente: die technische Zweckmäßigkeit und die allokative Zweckmäßigkeit.

Das Argument der technischen Zweckmäßigkeit geht davon aus, daß die Kosten der Gemeinden beim Angebot bestimmter lokaler Leistungen niedriger als die der Zentralbehörden sind. Darauf stützt sich ebenfalls der Gedanke, daß Gemeinden bei einer zentralisierten Beschlußfassung über Leistungen Kosten und Nutzen weniger sorgfältig abwägen, da sie diese Leistungen fast kostenlos bekommen. Für den Staat ist es viel schwieriger, diese Abwägungen für jede einzelne Gemeinde zu machen. Dieses Argument kann ebenfalls als Efficiency-Argument bezeichnet werden.

Die allokative Zweckmäßigkeit bedeutet in diesem Zusammenhang, daß selbständig demokratisch operierende Gemeinden besser auf den lokalen Bedarf an (staatlichen) Leistungen eingehen können als die Zentralbehörde. Die gewählten Vertreter, und somit indirekt die Bewohner einer Gemeinde, können selbst sorgfältig die Kosten und Nutzen alternativer Leistungen abwägen. Auf diese Weise können spezielle lokale Umstände besser berücksichtigt werden, da die lokalen Vertreter darüber besser informiert sind. Dieses Argument kann als Effektivitätsargument bezeichnet werden.

Machtgleichgewicht

Die Schaffung eines Machtgleichgewichts ('checks and balances'), das zweite Hauptargument für die Dezentralisierung, beruht auf der klassischen Idee der Gewaltentrennung. Neben der horizontalen Trennung der Gewalten kann eine vertikale Trennung zur Anwendung kommen, die verhindert, daß die Staatsmacht zu stark konzentriert wird. Die Verteilung der Staatsmacht auf verschiedene selbständig demokratisch operierende Verwaltungsebenen trägt dazu bei, daß die Bürger nicht von einer einzigen Verwaltungsebene abhängig sind.



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Politische Partizipation

Die Förderung der politischen Partizipation ist das dritte Hauptargument für die Dezentralisierung. Wenn die Entfernung zwischen Bürger und Politik geringer ist, verbessern sich die Möglichkeiten der politischen Partizipation. Politische Partizipation wird aus verschiedenen Gründen positiv beurteilt. Zum einen wird der politischen Partizipation eine edukative Funktion nachgesagt. Wegen des begrenzten Umfangs der Kommunalpolitik wird in diesem Sinne häufig von der Gemeinde als Lehrschule der Demokratie gesprochen. Außerdem soll die politische Partizipation eine eher instrumentelle Rolle spielen; sie versetzt die Bürger in die Lage, ihre Interessen gegenüber dem Staat zu vertreten. Diese Rolle ist ebenfalls vor dem Hintergrund der bereits erwähnten Argumente der Zweckmäßigkeit und des Machtgleichgewichts wichtig. Die Gemeinde ist nur in der Lage, die auf lokale Bedürfnisse abzielenden Leistungen anzubieten und als Interessenvertreter ihrer Bürger bei übergeordneten Behörden aufzutreten, wenn sie die Wünsche und Forderungen der Bürger kennt. Je mehr Bürger sich beteiligen, desto besser ist die Gemeinde über die Wünsche und Forderungen informiert.



Die Zentralregierung gibt den inhaltlichen Rahmen der Politik vor, erläßt entsprechende gesetzliche Vorschriften und schafft die finanziellen Voraussetzungen. Die Gemeinden sind (in zunehmendem Maße) für die Umsetzung der Politik verantwortlich. Darunter wird die Gesamtheit der gesellschaftlichen und sozialkulturellen Aktivitäten verstanden, die auf Personen oder Gruppen abzielen. Die Entscheidung darüber, wie das (subventionierte) Leistungsangebot aussieht, fällt - innerhalb der Grenzen der zentralen Vorschriften - in erster Linie in den Zuständigkeitsbereich der Gemeinden. Im Rahmen der niederländischen Politik können die Kommunalbehörden somit die Rolle des lenkenden Akteurs spielen: Sie formulieren ihre eigene Politik und lenken den entsprechenden Umsetzungsprozeß. Das wichtigste Lenkungsinstrument, das den Gemeinden bei der Sozialpolitik in ihrer Zusammenarbeit mit Privatorganisationen zur Verfügung steht, ist das der Fördermittel. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, daß die Gemeinden über ausreichende Finanzmittel verfügen. Die Gemeinden können diese Gelder nach eigenem Ermessen ausgeben. Zwischen der Zentralbehörde und den Gemeinden werden offizielle Vereinbarungen getroffen. Im Prinzip wird die Gemeinde in einer solchen Vereinbarung aufgefordert, eine integrale Sichtweise der Vorgehensweise gegen die von ihr formulierten Probleme auszuarbeiten und darzustellen, welche externen Partner einbezogen werden und welche Ergebnisse sie in welchem Zeitraum erreichen will. An der Entwicklung derartiger Vereinbarungen wird gearbeitet und die letzte Ausarbeitung betrifft die Frage nach der Beziehung zu anderen Investitionen in

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die lokale Infrastruktur (Wirtschaft, Raumordnung). Diese Vereinbarungen widmen einem der wichtigsten Ausgangspunkte der Dezentralisierung, nämlich der aktiven Rolle, die von dem Bürger erwartet wird, besondere Aufmerksamkeit. Dies wird in dem Modellentwurf der sozialen Aktivierung beschrieben (siehe Abschnitt 4.).

Bei den großen Operationen im Rahmen der sozialen Offensive, z.B. der sozialen Erneuerung und der Großstadtpolitik, wurden verschiedene Geldströme unterschiedlicher Ministerien zusammengelegt und den Gemeinden als Gesamtetat bereitgestellt. Mit dieser Bündelung werden auf jeden Fall folgende Ziele verfolgt: [Fn.11: D. Hanemaayer u.a. 1998.]

  • gezielterer und integralerer Einsatz von Mitteln für jene Angelegenheiten, die in der spezifischen lokalen Situation vorrangig behandelt werden müssen;

  • Herausforderung für die Gemeindeverwaltungen, kreativer gegen gesellschaftliche Probleme vorzugehen; es ist mehr Kreativität gefragt als in der Situation, in der die Verwendungsmöglichkeiten der Etats durch gesetzliche Vorschriften beschränkt sind;

  • die Erweiterung der Möglichkeiten für die Gemeindeverwaltungen, ergebnisorientierte Kooperationsverbände mit (privaten) Partnern zu schließen, und zwar zur Erfüllung der Investitionsaufgabe in ihrer Gemeinde.

Die Art und Weise, wie die Kommunalbehörden ihre Aufgabe, nämlich die Lenkung des lokalen politischen Netzwerks, gestalten, wandelt sich ebenfalls. Vor den Dezentralisierungsbemühungen waren die Kommunalbehörden lediglich dazu da, die staatliche Politik durchzuführen, und fungierten sie als eine Art „Subventionsvergabestelle". Die privaten Sozialeinrichtungen erhielten Fördermittel, die in erster Linie dazu dienten, sich selbst und ihre Einrichtungen über Wasser zu halten. Ein wichtiges Argument gegen diese Art der Zuschußvergabe besteht darin, daß die (nationalen und lokalen) Behörden kaum wissen, was die Empfänger mit diesen Zuschüssen machen. Wenn Kommunalbehörden ihre lenkende Aufgabe angemessen erfüllen und eine effektive sozialwirtschaftliche Politik in die Praxis umsetzen wollen, müssen sie feststellen können, ob die politischen Ziele tatsächlich erreicht werden und ob die bezuschußten Organisationen im Rahmen der Vorgaben der Kommunalbehörden

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arbeiten. Die Lenkung der Durchführung von Aktivitäten seitens der Gemeinden muß eine andere Struktur erhalten als jene, die normalerweise bei der Vergabe von Subventionen angewandt wird. Die Lenkung der ausführenden Aktivitäten muß ergebnisorientierter sein.

In diesem Zusammenhang wird auf die Etatfinanzierung verwiesen, in deren Rahmen leistungsbezogene Zuschüsse gewährt werden, beispielsweise wenn sich eine Organisation verpflichtet, eine bestimmte Leistung zu erbringen. Wenn die vereinbarten Leistungen nicht zum zuvor vereinbarten Preis erbracht werden, kann der Fördermittelgeber Geldstrafen verhängen. Die Etatfinanzierung ist eine Form der Subventionierung, bei der die zur Verfügung gestellten Mittel mit meßbaren Tätigkeiten und/oder Zielen verbunden werden. Indem eine Beziehung zwischen den Fördermitteln und der tatsächlichen Erfüllung der Vereinbarung hergestellt wird, wird eine wesentlich direktere Beziehung zwischen politischen Zielen und Fördermitteln als bei anderen Formen der Subventionsvergabe erzielt. Dies kann zu einer produktiveren Beziehung führen, in deren Rahmen das Wissen und die Fähigkeiten aller Parteien optimal genutzt werden können. Ein wichtiges Merkmal dieser Beziehung (der privaten-öffentlichen Kooperation) besteht darin, daß sie im Vergleich zu früher verstärkt auf den Konsens, die Kommunikation und die Interaktion zwischen den Beteiligten abzielt.

Dies ist zum einen auf die Rationalisierung des politischen Prozesses, z.B. die ergebnisorientiertere Arbeitsweise mit einer klaren Rollenverteilung zwischen Kommunalbehörden und privaten Sozialeinrichtungen zurückzuführen. Die lokalen Behörden sind für die Festsetzung der Politik, die Lenkung des eigentlichen Prozesses und die Überwachung der Ziele verantwortlich. Die Art und Weise, wie die Ziele erreicht werden, bleibt den Organisationen überlassen. Die Organisationen genießen bei der Durchführung der Politik ein hohes Maß an Freiheit. Andererseits kommen Vereinbarungen über die zu erzielenden Ergebnisse und somit auch indirekt über politische Zielsetzungen im Idealfall während der Verhandlungen zwischen der Kommunalbehörde und den privaten Sozialeinrichtungen zustande.

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4. Soziale Aktivierung

Die soziale Aktivierung ist im Zusammenhang mit der sozialen Offensive in politischen Kreisen derzeit sehr beliebt. Unter diesen Begriff fällt die integrale

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Förderung der Partizipation und lassen sich alle Aktivitäten zusammenfassen, die Bürger zur Partizipation an und Integration in verschiedene Bereiche der Gesellschaft anregen.

Die Partizipation ist in diesem Zusammenhang mehr als nur die „Beteiligung" an oder die Nutzung von gesellschaftlichem Gut wie Wissen, Kultur oder Besitz. Es handelt sich vielmehr um die aktive Teilnahme an gesellschaftlichen Prozessen. Aufgabe der Partizipation ist der Ausbruch aus Abhängigkeitsverhältnissen und die Erweiterung des Zugangs des Bürgers - auch des armen/ chancenlosen/ behinderten Bürgers - zur gesellschaftlichen Realität. Die Regierung setzt diesen Ausgangspunkt in eine Politik um, die unter den umfassenden Begriff der sozialen Aktivierung fällt. Innerhalb der Zielgruppe der Politik wird ein Unterschied gemacht zwischen Bürgern, die in der Nähe des Arbeitsmarkts sind und Bürgern, die sehr weit davon entfernt sind, die sogenannten Phasen 1, 2, 3 und 4.

Die globale Definition von Partizipation kann je nach den gesellschaftlichen Zusammenhängen, in denen sich die Partizipation abspielt, noch stärker untergliedert werden. Dabei kann festgelegt werden, was im Sinne einer aktiven oder sozialen Staatsbürgerschaft planerisch erstrebenswert ist. Zu unterscheiden sind 1. der wirtschaftliche, 2. der gesellschaftliche und 3. der sozialkulturelle Zusammenhang und die Partizipation an politischen und verwaltungstechnischen Zusammenhängen sowie die eher informelle soziale Partizipation in primären sozialen Netzwerken (siehe Schaukasten 2). Die einzelnen Partizipationsformen verfügen über wechselseitige Beziehungen und verschiedene Abstufungen. Die ersten drei Formen der Partizipation sind insbesondere bei der sozialen Aktivierung gefragt. Die Beziehung zwischen der sozialen Aktivierung und der Partizipation wird in der Abbildung dargestellt. Den drei verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, in denen sich die Partizipation abspielen kann, wurde der Bereich „Betreuung" hinzugefügt. Sie werden kurz erläutert.

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Schaukasten 2: Die verschiedenen Partizipationsformen

  1. Wirtschaftliche Partizipation: Ein wichtiger Faktor für die Integration ist die Arbeitspartizipation, die Teilnahme am offiziellen Arbeitsmarkt.

  2. Sozialkulturelle Partizipation: Dabei handelt es sich um die Teilnahme am Angebot im Bereich des Unterrichts, der Ausbildung und des Bildungswesens.

  3. Gesellschaftliche Partizipation: Dabei handelt es sich um die Partizipation von Bürgern an gesellschaftlichen Organisationen und die Partizipation an sozialen Netzwerken, und zwar außerhalb des politischen Entscheidungsprozesses, mit dem Ziel, die Gestaltung der Gesellschaft zu beeinflussen. Neben diesem kollektiven Ziel hat diese Form der Partizipation ein individuelles Ziel: Sie trägt zum Wohlbefinden des individuellen Bürgers bei, da sie soziale Isolation abbauen und Selbstrespekt fördern kann. Die eher kollektiv ausgerichteten Formen der sozialen Partizipation sind für die Qualität der Einrichtungen wichtig. Die Existenz sozialer Netzwerke ist für die Lebensqualität in Stadtvierteln, Dörfern oder Städten von Bedeutung. Letzteres betrifft insbesondere die soziale Kohäsion und das Sozialkapital: die Fähigkeit eines Kollektivs, Menschen friedvoll miteinander leben zu lassen, um Projekte durchzuführen, die die Leistungsfähigkeit von Individuen oder Gruppen übersteigen. Derartige Kollektive können soziale Probleme signalisieren und einen Beitrag zu deren Lösung leisten.

  4. Demokratische oder politische Partizipation: Dabei handelt es sich um die Partizipation von Bürgern an politischen oder verwaltungstechnischen Entscheidungsprozessen, d.h. die Beteiligung an der (kommunalen) Politik und deren Beeinflussung. Ausdrucksformen der politischen Partizipation sind das Wahlverhalten, Parteimitgliedschaft und die Beteiligung an Mitbestimmungsverfahren, die Berücksichtigung von Benutzerforen usw. Derartige organisierte politische und verwaltungstechnische Organisationen tragen dazu bei, daß ihre Interessen effektiv vertreten werden können. Voraussetzung dafür ist, daß sie anderen Interessenverbänden und Behörden professionell entgegentreten können.

  5. Partizipation an primären sozialen Netzwerken: Diese Form der Partizipation ist informell und persönlich und findet im weiteren und engeren Familienkreis und im Freundes- und Bekanntenkreis statt.

  6. Eine sechste und nicht unbedeutende Form der Partizipation ist die konsumtive Partizipation. Sie umfaßt die Nutzung von Einrichtungen und Dienstleistungen in einer passiven Rolle. Dies steht im Gegensatz zu der Benutzerbeteiligung als Form der politischen Partizipation, bei der die Partizipation auf den Ausbau der Einflußnahme auf die angebotenen Einrichtungen und Dienstleistungen abzielt.


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Graphik Seite 76

Die Tatsache, daß jemand einer bezahlten Beschäftigung nachgeht oder nicht, also die wirtschaftliche Partizipation, gilt in der Regel als wichtigster Indikator für die soziale Integration von Bürgern. Die Arbeitsmarktaktivierung, bei der die Voraussetzungen für einen ersten Schritt hin zu einer bezahlten Arbeit geschaffen werden, ist somit die bedeutendste Form der sozialen Aktivierung. Die politischen Programme und Aktivitäten in diesem Rahmen zielen insbesondere auf das Angebotspotential, die arbeitslosen Bürger, ab. Maßnahmen, die in diesem Zusammenhang genannt werden können, sind Wiedereinstiegsprogramme, Arbeitsinformationsangebote und Arbeitsvermittlung.

Gleichzeitig ist man sich darüber im klaren, daß die Voraussetzungen für einen (Neu-)Start auf dem Arbeitsmarkt gegeben sein müssen. In einer Vorbereitungsphase werden Möglichkeiten angeboten und Maßnahmen getroffen, die die wirtschaftliche Partizipation schließlich ermöglichen sollen. Die Partizipation in einem solchen Zusammenhang kann als sozialkulturelle Partizipation bezeichnet werden. Bei dieser Form der sozialen Aktivierung handelt es sich um Maßnahmen und Angebote im Bereich des Unterrichts- und (sozialen und kulturellen) Bildungswesens.

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Die Partizipation in einem anderen Zusammenhang, nämlich die gesellschaftliche Partizipation, gilt ebenfalls als Sprungbrett für eine bezahlte Beschäftigung auf dem offiziellen Arbeitsmarkt. Dabei handelt es sich um ehrenamtliche Arbeit oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Diese Tätigkeiten auf dem Dienstleistungs- und Pflegesektor sind für den Arbeitnehmer unter dem Aspekt einer sinnvollen Beschäftigung und des Abbaus oder der Vermeidung von sozialer Isolation und für den Empfänger gleichermaßen von Bedeutung. Sie können jedoch auch zum Ziel haben, der Lebensqualität im Stadtviertel einen positiven Impuls zu geben (soziale Kohäsion und Solidarität). Die Förderung der Partizipation in anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen kann einerseits ein Schritt hin zur wirtschaftlichen Partizipation sein, aber ebenfalls das eigentliche Ziel der Partizipationsförderung darstellen.

Andererseits ist man zu der Einsicht gelangt, daß verschiedene Gruppen arbeitsloser Bürger die zentrale Zielsetzung der wirtschaftlichen Partizipation nicht verwirklichen können. In diesen Fällen kann die soziale und sozialkulturelle Partizipation nicht als Sprungbrett für die wirtschaftliche Partizipation dienen. Dann zielt die soziale Aktivierung auf die Integration in andere gesellschaftliche Bereiche ab. Im Hinblick auf den Pflegesektor ist dies häufig sicherlich der Fall. Bestimmte Arbeitslosengruppen sind nicht nur vom offiziellen Arbeitsmarkt ausgeschlossen, sondern haben zudem Gesundheits- und Suchtprobleme. Verschiedene Maßnahmen, die im Rahmen der sozialen Aktivierung durchgeführt werden, wenden sich speziell an diese Zielgruppe. Dabei handelt es sich um einen paradigmatischen Wandel. Sah man bei der Rückstandsbekämpfung anfangs die Beschäftigung und damit die Einkommenslage als vorrangiges politisches Problem, so hat man inzwischen erkannt, daß eine solche Partizipation einerseits nicht mehr möglich ist und daß die Arbeit anderseits nicht der einzige Weg zum Gemeinwohl und zur sozialen Integration ist. Das Problem der sozialen Isolation ist komplexer.

In jedem Teil der Abbildung läßt sich ein Kooperationsverband feststellen:

Kooperationsverbände, die auch andere Zielgruppen - Partizipationspartner - haben. Neben den städtischen Behörden erfüllen das niederländische Arbeitsamt und die Regionalstelle für Arbeitsbeschaffung eine Vorreiteraufgabe bei der wirtschaftlichen Partizipation. Bei ihrer Zielgruppe handelt es sich um Arbeitsuchende in Phase 1 und 2, die relativ leicht vermittelbar sind. Bei der sozialkulturellen Partizipation kann die Sozialarbeit (Arbeit im Viertel, im

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Vereinsheim und Jugendarbeit) und bei der gesellschaftlichen Partizipation ebenfalls die Sozialarbeit (präventive Sozialarbeit) eine Vorreiterfunktion haben. Das Gesundheitsamt (G.G.D.), das regionale Institut für ambulante Psychiatrie (Riagg) und die Sozialarbeit können eine wichtige Rolle in dem Betreuungsabschnitt spielen. Die gesellschaftliche Partizipation und der Pflegesektor konzentrieren sich auf arbeitslose Bürger in Phase 3 und 4, die schwer vermittelbaren Arbeitslosen.

Die Zielsetzungen der sozialen Aktivierung lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:

  • direkte Vermittlung von Arbeitslosen auf dem Arbeitsmarkt

  • Abbau und/oder Verhinderung der sozialen Isolation

  • Entfaltung gesellschaftlich sinnvoller Aktivitäten

  • Förderung der sozialen Kohäsion

  • Verbesserung der Qualität des Wohn- und Lebensumfeldes

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5. Die politische Praxis

5.1 Eine Typologie der Projekte

Elemente der angewandten Strategien, die zur Aktivierung von Langzeitarbeitslosen eingesetzt werden, wurden zuvor bereits mehr oder weniger behandelt. Ich habe die politische Praxis bezüglich der sozialen Aktivierung in 30 niederländischen Gemeinden untersucht. [Fn.12: T. van der Pennen u.a. 1998.]
Auf Kommunalebene läßt sich in allen der bereits unterschiedenen gesellschaftlichen Bereiche eine Vielzahl und Vielfalt von Projekten erkennen. Anders ausgedrückt: Das umfassende Konzept der sozialen Aktivierung wird in der politischen Praxis tatsächlich gestaltet. Damit eine gewisse Struktur angebracht werden kann, habe ich 20 Projekte und die dazugehörigen Aktivitäten zu drei Strategien gebündelt:
die individuelle Förderstrategie, die instrumentelle Strategie und die marktorientierte Strategie. Je angewandte Strategie habe ich vier meines Erachtens für die Typologie relevante Merkmale unterschieden: die wirtschaftliche Perspektive, die formulierten Zielsetzungen, die Art und Weise der stadtviertelorientierten Arbeit und die konkreten Aktivitäten, die unternommen werden.

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5.2 Integrale Politik und Kooperation

Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß die lokalen politischen Netzwerke im Zusammenhang mit der Sozialpolitik vielschichtig sind; die Erwartungen im Hinblick auf die Dezentralisierung werden in diesem Punkt offensichtlich erfüllt. Neben zahlreichen städtischen Behörden und Sektoren spielen die gesellschaftlichen Einrichtungen und Bürger in den meisten Gemeinden eine klare Rolle in der Politik. Die sektorübergreifende Arbeit kommt im Rahmen der sozialen Aktivierung häufig vor. Es ist jedoch so, daß die konkrete Zusammenarbeit bei Projekten mit gleichgesinnten politischen Sektoren stattfindet: Man orientiert sich primär auf die eigene Szene. Die sektorübergreifende Arbeit ist offensichtlich schwieriger als die integrale Arbeitsform.

Die Untersuchung hat ferner ergeben, daß sich die Wahrscheinlichkeit einer integralen Politik erhöht, wenn zur Umsetzung der politischen Konzepte Zugänge wie beispielsweise Zielgruppen, Stadtviertel oder Problemgruppen gewählt werden. In diesem Zusammenhang wurde ebenfalls festgestellt, daß es zur Gewährleistung der Effektivität der politischen Intervention nicht unbedingt erforderlich ist, daß die Organisation der Politik entsprechend angepaßt ist. Die Arbeit in Projektform und Vereinbarungen über die Zusammenarbeit ermöglichen eine solche integrale Politik in der Verwaltungspraxis. Die gewählte Strategie und die Personen, die dabei eine Schlüsselposition einnehmen, spielen eine wesentliche Rolle. Der Erfolg oder Mißerfolg der integralen Politik hängt von einer Kombination dieser Faktoren ab. Aus verwaltungstechnischer Sicht bleibt die Gewährleistung einer integralen Politik jedoch eine der schwierigsten Aufgaben. Die Umsetzungspraxis wird aber ein wenig erleichtert, wenn man sich bei der Behandlung von Themen wie „Lebensqualität" und „Arbeitsintegration" für die Arbeit in Projektform entscheidet.

Die Untersuchung hat verdeutlicht, daß Kooperationsverbände, integrale Arbeitsformen und Professionals infolge der Dezentralisierung in den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht haben. Dennoch mußte ich feststellen, daß es noch immer „Projektkarussells" gibt. Es passiert noch zu oft, daß Projekte mit vergleichbaren Zielsetzungen und Zielgruppen von verschiedenen Organisationen gleichzeitig durchgeführt werden. Man ist im Prinzip zwar darüber informiert, daß sich andere ebenfalls mit dem gleichen Thema befassen, tatsächliche Verbindungen werden jedoch selten hergestelllt.

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Hinzu kommt, daß momentan häufig in Projektform gearbeitet wird. Dabei handelt es sich um zeitlich befristete Interventionen. Das bedeutet, daß die erzielten Ergebnisse nach Ablauf wieder verlorengehen oder daß nicht genügend Kenntnisse und Fähigkeiten erlangt werden können.

Die Untersuchung hat ferner ergeben, daß die Zusammenarbeit zwar zustande kommt, daß sie trotz der guten Absichten der Betroffenen jedoch nicht so erfolgreich ist, wie man erwarten dürfte. Trotz der vielschichtigen Zusammenstellung der jeweiligen politischen Netzwerke und der Tatsache, daß die Position der meisten relevanten Akteure relativ gut verankert ist, ist die Beurteilung der Zusammenarbeit nuanciert. Das Urteil ist je nach Thema oder Projekt unterschiedlich, mal positiver und mal negativer, und es ist in starkem Maße von den erzielten Ergebnissen abhängig. Die Durchführung von Lebensqualitätsprojekten wird weniger positiv beurteilt als die von Arbeitsintegrationsprojekten. Selbstverständlich nimmt die Zufriedenheit des jeweiligen Akteurs zu, wenn das Ergebnis der Bemühungen mehr im Einklang mit seinen eigenen Ideen und Absichten steht, und ist die Unzufriedenheit größer, wenn das Ergebnis nicht mit den eigenen Wünschen übereinstimmt.

5.3 Das Problembewußtsein: die unterschiedliche Problemdefinition von Politikern und Bürgern

Die politikbezogene Wahrnehmung von Problemen wird von einem vorwiegend negativen Bild des Stadtviertels, jener Teile der Stadt, in denen objektiv eine Häufung von Problemen auftritt, geprägt. Häufig wird der Begriff „Ghetto" verwendet, um der Beschreibung Nachdruck zu verleihen. Man betont nicht nur die offensichtlichen Aspekte wie wilde Mülldeponien, Prostitution, Drogenhandel, Autowracks, mutwillig zerstörte Spielgeräte und Straßenbeleuchtung, sondern auch und vor allem die sozialkulturellen Merkmale der Bevölkerung. Die Stadtviertel werden als Sammelbecken von Menschen mit geringen Chancen auf gesellschaftliche Partizipation dargestellt, Menschen mit einem gesellschaftlichen Rückstand. Die Angst, die man mit der Metapher Ghetto zum Ausdruck bringen will, bezieht sich auf die Konzentration von Armut und von Bewohnern, die am Rande der Gesellschaft leben. Man fürchtet sich also vor einer räumlichen Umsetzung der Situation, die als gesellschaftliche Spaltung bezeichnet wird. Man hat einen ungenügenden Einblick in die Vielfalt der im Stadtviertel lebenden Menschen und in das tatsächliche Leben, das nicht nur ein Jammertal ist.

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Aus politischer Sicht werden Stadtviertel und ihre Bewohner häufig negativ definiert. Die Bewohner selbst sehen dies oftmals anders. Meine Nachforschungen bei Bewohnern dieser Stadtviertel haben ergeben, daß sie ihr Viertel in der Regel positiv beurteilen. Die Mehrheit der Bewohner scheint keine nennenswerten Probleme in dem Viertel zu haben; sie äußern sich auf der ganzen Linie neutral oder sogar (ausgesprochen) positiv über ihr Viertel. Eine bedeutende Minderheit der Bewohner beurteilt bestimmte Aspekte des Viertels jedoch negativ.

Unter den arbeitslosen Bewohnern herrscht, wie erwartet, die größte Unzufriedenheit über die Lage auf dem Arbeitsmarkt. Bei den am häufigsten genannten Nachteilen handelt es sich um die finanzielle Verschlechterung ihrer Situation und die unsichere Zukunft. Die Befragung der Bewohner hat ergeben, daß viele Bewohner der sogenannten Ghettos erstaunt wären, wenn sie erfahren würden, daß der zuständige städtische Beigeordnete ihr Viertel für „rückständig" hält. Es hat den Anschein, daß das Bild, das die politischen Konzeptentwickler von diesen Vierteln haben, von den Auffassungen der Bewohner abweicht.

In den Niederlanden gibt es keine Ghettos, d.h. sie wurden noch nicht wissenschaftlich nachgewiesen. [Fn.13: P. Tesser u.a. 1995.] Charakteristisch für Ghettos ist die Tatsache, daß eine Person, die dort erst einmal lebt, keine Möglichkeit hat, das Ghetto zu verlassen. Die Kultur der Armut, Arbeitslosigkeit und der „Asozialität" wird von Generation zu Generation übertragen. Das Leben in einem bestimmten Viertel ist zur Ursache der Benachteiligung geworden. Derartige weitreichende Konsequenzen wurden in den Niederlanden nicht nachgewiesen. Bürger sind nicht arbeitslos oder arm, weil sie in einem bestimmten Stadtviertel leben, sondern leben in einem bestimmten Stadtviertel, weil sie arbeitslos und arm sind. Wenn diese Bürger in ein anderes, „besseres" Viertel umziehen würden, wären sie immer noch arbeitslos und arm (und einige auch kriminell).

Unter Berücksichtigung der zuvor geschilderten Lage ist es fraglich, ob neuer, „besserer" Wohnraum in der Stadt die Möglichkeiten und Voraussetzungen für eine weitere gesellschaftliche Integration bietet und ob sich damit die soziale Isolation, in der sich verschiedene Bevölkerungsgruppen bereits befinden, bekämpfen läßt. Anhand der vorangehenden Aussagen läßt sich kein

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klarer Zusammenhang oder gar eine Kausalität zwischen Segregation und Problemen feststellen. Die Segregation als solche kann somit nicht als Problem bezeichnet werden. Dennoch ist dies ein aktuelles Diskussionsthema in den Niederlanden. Man will die soziale Struktur von Stadtvierteln durch die Mischung von Bevölkerungsgruppen ändern. Zu diesem Zweck werden in den Problemvierteln u.a. teurere Wohnungen gebaut.

5.4 Der stadtviertelorientierte Ansatz

Stadtviertel sind auch weiterhin ein wichtiger Aspekt der sozialen Politik. In diesem Zusammenhang sollte man nicht vergessen, daß die Bekämpfung dieser Probleme nicht notwendigerweise territorial definiert werden muß. Auch wenn das Viertel möglicherweise als problembehafteter Ort betrachtet wird, so ist es nicht zwangsläufig der Bereich, in dem Probleme ebenfalls gelöst werden können. Viele Probleme rühren nicht aus einem Viertel her, sondern entstehen auf einer höheren Ebene. Das gilt beispielsweise für die Beschäftigungsproblematik. Dieser Faktor muß bei der Entwicklung von stadtviertelorientierten Ansätzen berücksichtigt werden. Es ist wirkungsvoller, wenn die Rückstandsbekämpfungspolitik auf spezielle Gruppen in einem Stadtviertel anstatt ganz allgemein auf das Stadtviertel abzielt. Mit dieser Vorgehensweise wird außerdem die Stigmatisierung von Vierteln verhindert. Die Untersuchung ergab einige diesbezügliche Hinweise. Das Viertel ist möglicherweise der Ort, an dem Probleme ausgemacht werden; das heißt jedoch nicht, daß es auch der geeignete Ort zur Lösung dieser Probleme ist. Die Lösung sozialer Probleme muß häufig auf einer höheren Ebene als der des Stadtviertels gesucht werden.

Zum Schluß dieses Abschnitts folgt eine Übersicht über die Argumente, die extreme Befürworter und Gegner des stadtviertelorientierten Ansatzes für verschiedene politische Sektoren verwenden. [Fn.14: Diese Übersicht stammt aus: N.G.J. Boer, J.W. Duyvendak 1998.]

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6. Investition in die soziale Infrastruktur: ein lokaler Sozialinfrastrukturplan

Soziale Aktivierungsprogramme sind erfolgreich. In der Praxis kann jedoch noch einiges verbessert werden (siehe Abschnitt 5.). Dieser Tatsache ist man sich bewußt. Die niederländische Regierung ist darum bemüht, alle Maßnahmen in einem sogenannten lokalen Sozialinfrastrukturplan zu bündeln. Die Niederländer haben ein besonderes Verhältnis zu Infrastrukturplänen, insbesondere wenn es um die physische Infrastruktur geht. Wenn man vom Flugzeug aus auf unser Land blickt, leuchtet einem sofort ein, warum dies so ist. Die größte Existenzbedrohung in den Niederlanden, nämlich das Meeres- und Flußwasser, zwingt uns zur Entwicklung umfassender Infrastrukturpläne. Die Polder, Deiche, das aus dem Meer gewonnene Land und das riesige Delta-Sperrwerk sind sichtbare Ergebnisse dieser Infrastrukturpläne. Außerdem profilieren sich die Niederlande als Transitland, und in Anbetracht der räumlichen Begrenzung müssen für solche Großprojekte entsprechende Infrastrukturpläne erarbeitet werden. Auf den Reißbrettern von Ingenieuren der großen Bauunternehmen liegen bereits die Pläne für den Bau eines zweiten Hafens in Rotterdam, die Güterzugverbindung nach Dortmund und den Ausbau des Amsterdamer Flughafens Schiphol, der verschiedenen Plänen zufolge sogar im Meer errichtet werden soll. Dies erklärt, warum Niederländer zur Lösung von Problemen immer gleich eine Art Deltaplan entwickeln. Die großen Städte in den Niederlanden haben bei der letzten Regierungsbildung für einen Deltaplan für Großstädte plädiert, damit die hartnäckigen sozialen Probleme mit neuem Elan bekämpft werden können. Das Interesse an der Infrastruktur nimmt größere Ausmaße an. Man befaßt sich inzwischen nicht mehr ausschließlich mit der physischen und wirtschaftlichen Infrastruktur, sondern in verstärktem Maße auch mit der sozialen Infrastruktur. [Fn.15: Trotz der günstigen wirtschaftlichen Entwicklungen in den Niederlanden gibt es Probleme, die eine intensive Sozialpolitik rechtfertigen. Es gibt verschiedene gesellschaftliche Entwicklungen, die sich für verschiedene Bevölkerungsgruppen negativ auswirken: die Individualisierung, die Überalterung der Bevölkerung, die neue Migration, die Kriminalität, die ungleiche Entwicklung bei Einkommen, Ausbildung und Arbeit.]
Es wird davon ausgegangen, daß die soziale Infrastruktur ebenso wie die physische und wirtschaftliche Infrastruktur - und vielleicht sogar in viel stärkerem Maße - Anzeichen von Überalterung und Verfall aufweist.

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Die soziale Infrastruktur, die planmäßig in Angriff genommen werden muß, besteht aus zwei Komponenten. Die erste Komponente betrifft die sozial-kulturellen Bedingungen des Viertels, der Stadt und der Bürger. Die zweite Komponente betrifft „die Gesamtheit von Organisationen, Behörden, Einrichtungen und Beziehungen, die es dem Menschen ermöglichen, in angemessener Form in sozialen Verbänden (Viertel, Gruppen, Netzwerke, Haushalte) zu leben und an gesellschaftlichen Zusammenhängen (Bildungswesen, Arbeitsmarkt) teilzunehmen". Die soziale Infrastruktur hat ein formelles und ein informelles Element. Das formelle Element wird von den Organisationen, Behörden und Einrichtungen gebildet, die den Bürger in irgendeiner Form bei der Partizipation an der sozialen Infrastruktur professionell unterstützen. Darüber hinaus können die Bürger individuell oder kollektiv selbst einen Beitrag zur sozialen Infrastruktur leisten. Dieses informelle Element wird als „civil society" bezeichnet. [Fn.16: Vgl. P. Dekker 1999.]
Die formelle und informelle soziale Infrastruktur sind eng miteinander verknüpft und stehen idealerweise miteinander im Einklang. [Fn.17: Vgl. R. Engbersen, A. Sprinkhuizen 1998.]

Engbersen und Sprinkhuizen unterscheiden nicht nur die formellen und informellen Elemente der sozialen Infrastruktur, sondern zeigen auch einen relevanten Unterschied zwischen einem allgemeinen, einem präventiven und einem kurativen Bereich auf. In der allgemeinen sozialen Infrastruktur sind die „Basiseinrichtungen" angesiedelt, beispielsweise Bildungswesen, soziale Sicherheit, die Arbeit in den Stadtvierteln und die informellen Verbände von Bürgern. Im präventiven Bereich findet man Organisationen, professionelle Arbeitskräfte und Bürger, deren Hauptaufgabe die Vermeidung von Problemen und der Eskalation kleinerer Probleme ist. Dabei kann es sich beispielsweise um Projekte handeln, bei denen die Justiz im Stadtviertel selbst anwesend ist. Der kurative Bereich umfaßt vor allem die Organisationen, die sich mit Rehabilitationsprojekten für verschiedene sozial schwache Gruppen wie Erwerbsunfähige, Langzeitarbeitslose, Senioren, psychisch kranke Menschen, Häftlinge, chronisch kranke Menschen und kriminelle Jugendliche befassen. Die einzelnen Bereiche lassen sich zwar analytisch unterscheiden, in der Praxis handelt es sich jedoch um Nuancen.

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Institutionelle Merkmale einer sozialen Infrastruktur

formell

informell

allgemeine Infrastruktur

  • soziale Sicherheit

  • Bildungswesen

  • Sozialarbeit im Stadtviertel

  • Organisationen für ehrenamtliche Arbeit

  • Lesestunde

  • Straßenclubs

präventive Infrastruktur

  • Streifenpolizist

  • Sozialverwalter

  • Justiz im Stadtviertel

  • Stadtteilnetzwerke

  • Stadtteilälteste

  • Stadtteilschlichtung

kurative Infrastruktur

  • Jugendamt

  • Bewährungshilfe

  • Kriminalitätsbe-kämpfung

  • ehrenamtliche Betreuung

  • Opferbetreuung


Unter Berücksichtigung der lokalen Situation stellt ein „Architekt der Sozialpolitik" einen solchen Sozialinfrastrukturplan zusammen und stellt entsprechende Querverbindungen her. Dabei darf es sich nicht um ein Standardkonzept handeln, da man keine allgemeingültigen Muster vorlegen kann. Die vorhandenen lokalen Projekte, Einrichtungen und Maßnahmen, bei denen ein integraler, sektorübergreifender und zusammenhängender Ansatz gegeben ist, bilden die Umrisse des Plans. Auf der Grundlage der Autonomie der verschiedenen Organisationen mit einer speziellen Professionalität und einem speziellen Beitrag können wechselseitige Zusammenhänge hergestellt werden in dem Bewußtsein, daß man das Problem der sozialen Ausgrenzung gemeinsam besser bekämpfen kann.

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7. Diskussionspunkte

Zum Schluß dieser Präsentation einiger Forschungsergebnisse aus der niederländischen Praxis habe ich einige Fragen formuliert. Ich frage mich, ob die niederländische Praxis auch für Deutschland aktuell ist.

  1. Viele Probleme werden in Projektform behandelt. Kennen Sie das Phänomen des „Projektkarussells"?

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  2. Ein Viertel wird allzu sehr als Gemeinschaft betrachtet, in der die Probleme gelöst werden können. Sind Sie mit dieser Aussage einverstanden? Was erwartet man in Deutschland von einer gebietsorientierten Intervention?

  3. Ist das Wohnen im Ghetto ein eigenständiger Faktor für die gesellschaftliche Integration? Hantiert man in Deutschland auch dieser Metapher oder ist es Realität?

  4. Wie beurteilen Sie die Diskrepanz bei dem Problembewußtsein zwischen Bürgern und Politikern?

Diese Fragen habe ich einem Forscher vom Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung des Landes Nordrhein-Westfalen in Dortmund vorgelegt. Ralf Zimmer-Hegmann hat die Fragen beantwortet.

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Literatur

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Castells, M. (1989): The informational city. Information technology, economic restructuring and the urban-regional process, Oxford/Cambridge: University Press.

Dekker, P. (1999): Soziales Engagement in den Niederlanden, in: R.G. Heinze, T. Olk (Hrsg.), Bürgerengagement in Deutschland: Bestandsaufnahme und Perspektiven, Opladen: Budrich Verlag.

Dekker, P. (1999): Freiwillige Arbeit in der niederländischen Zivilgesellschaft: Bestandsaufnahme und Forschungsperspektiven, in: E. Kistler u.a. (Hrsg.), Messkonzepte zum zivilgesellschaftlichen Zusammenhalt, Berlin: Sigma.

Engbersen, R., A. Sprinkhuizen (1998): De noodzaak van investeringen in de sociale infrastructuur, in: Staatscourant, Nr. 142, S. 3.

Hanemaayer, D., S. Kroon, R. Schouten (1998): Maatschappelijke effecten investeringsbudget stedelijke vernieuwing, Den Haag: B&A groep BV.

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[Seite der Druckausg.: 89 ]

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Tesser, P., C. van Praag, F.A. van Dugteren, L.J. Herwijer, H.C. van der Wouden (1995): Rapportage Minderheden 1995. Concentratie en segregatie. Den Haag:

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