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[Seite der Druckausg.: 7 ]


Günther Schultze
Zusammenfassung


Westeuropäische Länder haben sich in den vergangenen Jahrzehnten zu dauerhaften Einwanderungsgesellschaften entwickelt. Das heißt, daß sie zu multikulturellen oder multiethnischen Gebilden geworden sind. Multikulturelle Einwanderungsgesellschaften sind keine romantische Idylle, sondern gehen mit einer Vielzahl von sozialen und ethnischen Konflikten einher. Diejenigen, die ein Harmonie- bzw. Gemeinschaftskonzept von Gesellschaft zugrunde legen, betrachten Konflikte als negativ und dysfunktional. Andere hingegen sehen die Gesellschaft prinzipiell durch Unterschiede und Gegensätze geprägt und bewerten mithin Konflikte eher positiv. Professor Axel Schulte unterscheidet zwischen rechtlichen, politischen, sozialen und kulturellen Konflikten. Er favorisiert einen Politiktyp und ein Demokratieverständnis, das Konflikte als „normale" soziale Phänomene behandelt, die notwendig für die gesellschaftliche Entwicklung sind. Die Demokratie stellt die Staatsform dar, die am ehesten in der Lage ist, die positiven Elemente von Konflikten zu gewährleisten. Die Integration der Einwanderungsminderheiten kann nur gelingen, wenn die dauerhaft ansässigen Migranten rechtlich und politisch den Einheimischen gleichgestellt werden. Daneben ist es eine zentrale Aufgabe der Politik, kulturelle Selbstbestimmung und Partizipation von Migranten am Gemeinwesen sicherzustellen. Bei der Austragung von Konflikten darf der Basiskonsens einer Gesellschaft nicht zerstört werden. Dieser muß immer wieder in den alltäglichen Auseinandersetzungen neu geschaffen und dort, wo nötig, durch gerichtliche Entscheidungen herbeigeführt werden. Entscheidend für demokratische Gemeinwesen ist, daß sich die Auseinandersetzung mit „extremen" oder „fundamentalistischen" Positionen nicht auf den Einsatz von rechtlichen Mitteln reduzieren darf, sondern vor allem auch die politische und geistige Ebene mit einbeziehen muß.

Welche Bedeutung Ethnizität in einer Gesellschaft hat, ist sehr unterschiedlich.Clemens Dannenbeck weist auf gesellschaftliche Prozesse hin, die Menschen in ihrer Identität auf ihre ethnisch-kulturelle Herkunft reduzieren und hierdurch Unvereinbarkeits- und Ausgrenzungsprozessen Vorschub leisten. Er stellt Ergebnisse eines Projektes dar, das der Frage nachgeht, wann und

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warum Jugendliche ihre ethnisch-kulturelle Herkunft zur Selbstbewertung und zur Unterscheidung zu anderen benutzen. Die zentrale These ist, daß Nationalität und Ethnizität für einzelne wesentliche Bestandteile von Identität sein können, aber nicht müssen. Anhand zweier biographischer Interviews mit einem Geschwisterpaar werden verschiedene Faktoren diskutiert, die dazu führen, daß Ethnizität als eher nebensächliche oder zentrale Komponente des eigenen Selbst behandelt wird. Männliche und weibliche Jugendliche scheinen unterschiedliche Verarbeitungsmechanismen zu besitzen. In dem beschriebenen Fall wurde vor allem der junge Mann, auch bedingt durch die andere Hautfarbe, auf sein „Fremdsein" verwiesen. Die beiden Interviews machen deutlich, daß trotz einer gemeinsamen Familiengeschichte die ethnische und kulturelle Zugehörigkeit unterschiedlich interpretiert werden kann und ihre Relevanz für die Selbst- und Fremdwahrnehmung stark differiert.

Besonders Rechtsextreme haben Ausländer als Negativthema entdeckt. Nach Bernd Wagner spitzt sich vor allem in den dörflichen Siedlungen in den neuen Bundesländern die Situation dramatisch zu. Rechtsextreme Orientierungen prägen inzwischen maßgeblich die Lebens- und Denkweisen einer immer stärker wahrnehmbaren Zahl von Menschen. Rechtsextrem orientierte Gesinnungen sind zu einer ernstzunehmenden Gegenmacht zu demokratischen und humanitären Werten geworden. Zwar spielt das insbesondere bei Jugendlichen eine herausragende Rolle. Rechtsextreme Orientierungen sind aber inzwischen bei allen Generationen weit verbreitet und werden als „normal" erlebt. Die gesellschaftlichen Ursprünge dieser Entwicklung sieht er in dem Zusammenbruch der DDR, den Anomien der „Wende" und den Auswirkungen der ökonomischen Krise. Rechtsextreme Orientierungen werden zwar auch von rechtsextremen Parteien und Organisationen verbreitet. Wichtiger sind in den ostdeutschen Bundesländern jedoch rechtsextrem orientierte Gruppen und Szenen, die in Wohngebieten, Gaststätten und Jugendfreizeiteinrichtungen verankert sind. Das Gefährliche an dieser Entwicklung ist, daß „rechts sein" inzwischen zu einer Lebensart geworden ist, die einhergeht mit einem Elitebewußtsein, das sich legitimiert sieht, die eigenen Interessen mit Gewalt durchzusetzen. Die gesellschaftlichen Reaktionsweisen müssen der Komplexität des Problems gerecht werden. Es reicht nicht aus, polizeilich repressive, jugendinterventionistische Modelle und Projekte der Ausländerarbeit durchzuführen. Vielmehr ist es wichtig, eine demokratische Zivilgesellschaft, die sich auf möglichst viele aktive Gruppen stützt, in

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den Kommunen aufzubauen. Hierbei müssen die Reizthemen des Alltags aufgegriffen werden, um das Gespräch zwischen Bürgern, Politik, Verwaltung, Justiz und Wirtschaft zu fördern und stabile Diskussionsforen zu eröffnen. Positive Erfahrungen und Modelle müssen verstärkt in der Öffentlichkeit dargestellt werden. Dabei haben die Medien eine besondere Verantwortung. Polizeidienststellen sollten ermutigt werden, mit anderen Gruppen zu kooperieren und auch verstärkt präventive Ansätze zu erproben. An den Justizvollzug wird die Erwartung gerichtet, für die Vermeidung von Rückfällen im Zusammenhang mit einschlägigen Szenen zu sorgen.

Es mehren sich die Berichte, daß in einzelnen Stadtteilen aufgrund von Zuwanderungsprozessen die Konflikte eskalieren. Birgit Hellwig zeigt, daß auch junge Spätaussiedler von den alteingesessenen Einwohnern oft als Fremde wahrgenommen werden. Sie selbst reisen häufig mit unzureichenden deutschen Sprachkenntnissen ein und zeigen vermehrt Gefühle der Unsicherheit in der ihnen fremden Umgebung. Es ist nicht den Jugendlichen selbst anzulasten, daß es in sozialen Brennpunkten häufiger zu Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen kommt. Vielmehr führt ein enormer Modernisierungsprozeß in den letzten Jahren zu einem verschärften Konkurrenzkampf, zu einer Zunahme der Ohnmachtsgefühle und zu einem zunehmenden Verlust von sozialen Bezügen. Vor allem junge Spätaussiedler seien häufig den Anforderungen in Schule, Ausbildung und Beruf nicht mehr gewachsen. Maßnahmen der Jugendhilfe können angesichts der Komplexität der Probleme nur flankierend eingreifen. Ziel einer professionellen Beratungs- und Betreuungsarbeit ist der Aufbau von stabilen Identitäten, die nicht in sinnlosen Gewaltattacken Ohnmachtsgefühle abreagieren. Notwendig ist eine stadtteilbezogene Jugendsozialarbeit, die positive Nachbarschaftsbeziehungen aufbaut. Über Streetworkprojekte können Jugendgruppen angesprochen werden, die nur schwer den Weg zu den Einrichtungen finden. Räumlichkeiten müssen zur Verfügung gestellt werden, damit die Jugendlichen die Möglichkeit haben, ihre jeweiligen Interessen und Bedürfnisse ausleben zu können. Das Ziel ist eine interkulturelle soziale Arbeit, die durch eine „organisierte" Kontaktaufnahme einen Beitrag zum Abbau von Vorurteilen leisten kann. Angesichts der schwierigen finanziellen Situation vieler Kommunen ist die Initiierung bzw. Fortsetzung solcher Maßnahmen zur Zeit in Frage gestellt.

[Seite der Druckausg.: 10 = Leerseite ]


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2000

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