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Alexander Leschinsky
Die Älteren als mainstream-Segment?


Karriere eines Themas

Mit der Feststellung von Bundespräsident Roman Herzog zur Eröffnung des 5. Deutschen Seniorentages am 9. Juni 1997 in Dresden, die Gesellschaft Deutschlands verändere mit der Zunahme des Anteils älterer Menschen ihr Gesicht, hat des Thema 60plus nun auch die Titelseiten der Tageszeitungen erobert. Dies ist der vorläufige Höhepunkt einer Karriere, die das Thema „soziodemographischer Wandel" in den letzten Jahren durchlaufen hat.

Begonnen hat die Eroberung der öffentlichen Meinung mit einer ausgezeichneten Analyse, die Bettina Sommer in „Wirtschaft und Statistik", Heft 4/92, veröffentlicht hat. Seither hat das Thema die engeren Fachkreise hinter sich gelassen und ist Gegenstand sämtlicher wichtiger Marketingkongresse geworden. Insbesondere der Kongreßveranstalter Management Circle dürfte die Rolle des Marktführers bei der Verbreitung der Ideen des 60plus-Marketings einnehmen. Die seit 1994 jährlich mindestens einmal im Jahr stattfindenden Fachveranstaltungen erfreuen sich unverändert lebhaften Zuspruchs.

Vom Tabu zum Zeitgeistthema

Alles spricht dafür, daß das 60plus-Marketing den Rang eines Zeitgeistthemas eingenommen hat, während es bis zum Beginn der neunziger Jahre eher den Charakter eines Tabu-Themas hatte. Derjenige, dessen Produkte die Senioren erreichten, mußte sich ernsthafte Gedanken um seine professionelle Akzeptanz machen. Heute wird der erfolgreiche Produktmanager für 60plus-Produkte als begehrter Referent zu Kongressen eingeladen.

Wir befinden uns mitten in einer Trendwende. Wer in seiner Marketingausbildung gut aufgepaßt hat, verspürt noch in sich den herzlichen Wunsch, seine Produkte an die Innovatoren zu verkaufen, jene Edelzielgruppe, die Neuem gegenüber stets aufgeschlossen ist. Legionen von Produktmanagern - alle um die 30 - waren und sind auf diese Zielgruppe ausgerichtet. Und

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wer die Laggards bedient, die letzten auf der Skala der Produktnutzer, erlebt die stigmatisierende Ausstrahlung dieser Zielgruppe auf sein eigenes professionelles Image. In der Kampagne für die eigene Aktie weist proSieben darauf hin, daß rund 80% der TV-Werbekampagnen sich an die Zuschauer unter 50 richten.

Zielgruppe mit Zuwachsraten

Jeder Bevölkerungsstatistiker weiß, daß die Älteren die höchsten Zuwachsraten aller soziodemographischen Gruppen aufweisen. Heute ist fast jeder Vierte 60 und älter, bald wird von drei Menschen in Deutschland einer über 60 sein. Und die Zielgruppe wächst nicht nur quantitativ, auch kaufkraftmäßig ist sie sehr trendy: Es sind die reichsten Alten aller Zeiten. Und noch wichtiger: Sie werden immer mobiler und sind mit Sicherheit alles andere als hilfsbedürftig. 88% der 70- bis 80jährigen kommen ohne Fremdhilfe aus. Senioren im Altersheim: Das ist die Ausnahme. Über 90% der Senioren leben Zuhause und wollen da auch bleiben (s. Abbildung 1).

Abbildung 1: Das 60plus-Menschenbild wandelt sich




Und die Zielgruppe 60plus ist nicht nur heute schon attraktiv. Sie wird in den kommenden Jahren immer interessanter. Die heute 45- bis 50jährigen werden künftig das Bild des Seniors prägen. Diese Gruppe hat „1968" den Gehorsam verweigert und sie wird auch als Senior anders handeln als heu-

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tige Senioren, die in autoritäreren Zeiten ihre Prägungen erfuhren. Der konsumfreudige, lebensbejahende Senior wird nicht nur zum Leitbild, sondern mehr und mehr zur Realität (s. Abbildung 2).

Abbildung 2

Senioren sind
• eine wachsende Zielgruppe ... heute gibt es 16 Mio. Senioren, im Jahr 2030 werden es 24 Mio. sein. D.h. die Zielgruppe wird in 35 Jahren um 50% größer. Dann ist jeder Dritte 60 und älter.
• die reichsten Alten aller Zeiten ... seit 1945 hat es bei uns keinen Krieg mehr gegeben und keine Währungsreform, die Vermögenswerte zerstören.

Die Kapital-Lebensversicherungen schütten in den kommenden 10 Jahren über 350 Mrd. DM an die Senioren aus.

Die über 65jährigen verfügen über ein Geld- und Grundvermögen von mehr als 1.500 Mrd. DM; bis zum Jahr 2000 werden es 2.700 Mrd. DM sein.

• eine ausgabefreudige Zielgruppe ... 48% des verfügbaren Einkommens entfällt auf die Älteren.

60plus heute und künftig

Es sollte eigentlich mittlerweile nicht mehr erforderlich sein, auf die statistischen Trends hinzuweisen. Alle Fakten sind bekannt - es ist höchste Zeit für die Umsetzung. Denn noch empfinden sich Senioren als „unsichtbare Generation" Sie finden sich in der Werbung nicht wieder und vermissen in der Marketing-Kommunikation das, was sie mehr als andere Zielgruppen interessiert: Die Vermittlung des Produktnutzens. Bereits heute aber, so stellte Sample 1995 in einer repräsentativen Studie fest, verfügen die Älteren über die Hälfte der Kaufkraft der Haushalte. Diese Quote wird zunehmen und die 60plus-Zielgruppe wird sich ihrer dominanten Position immer bewußter werden. Sie wird massiv ihr gemäße Produkte einfordern. Vergessen wir bitte nicht - die Senioren der Jahrtausendwende sind demo-erfahren (s. Abbildung 3).

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Abbildung 3: Das negative Bild des hilfsbedürftigen Seniors war nie realistisch

98% der 60- bis 70jährigen sind unabhängig und selbständig.
88% der 70- bis 80jährigen kommen ohne Fremdhilfe aus.
66% der über 90jährigen sind selbständig.

Erst wenn der Alters-Leidensdruck einsetzt,
ändert sich das Konsumverhalten.

Quelle: Dr. Hans Peter Doebli: Die neuen jungen Senioren, Mgm. Circle 5./6.12.1994

Für das strategische Marketing bleibt also festzuhalten: Die 60plus-Zielgruppe ist die einzige Konsumentengruppe, die noch kräftige Zuwachsraten verheißt. Sie ist kaufkräftig und konsumfreudig. Und ihr Einkommen wächst, durch Lebensversicherungen und nicht zuletzt auch durch Erbschaften. Die längere Lebenserwartung bringt es nämlich mit sich, daß ein Erbe bereits 60 ist, wenn der Erblasser mit 90 stirbt.

Dies alles wird früher oder später eine Sogwirkung auf das Marketingmanagement ausüben. Die Akzeptanz bei der Zielgruppe 60plus hinsichtlich Produktgestaltung und Handhabbarkeit wird zum Maßstab für Marktgängigkeit werden. Und anders als heute, wo sich Ältere durch die Ausrichtung auf jüngere Zielgruppen ausgegrenzt fühlen, werden 60plus-Produkte die jüngeren nicht diskriminieren. Die Orientierung am wirklichen Gebrauchsnutzen statt an einem imaginären Erlebniswert ist altersneutral.

Pioniererfolge

Allerdings braucht auch dieses Thema seine kritische Masse. Wenn denjenigen, der zu spät kommt, das Leben bestraft, bestraft denjenigen, der zu früh kommt, der Markt. Erfolgreich sind heute Anbieter von Waren und Dienstleistungen, die die 60plus-Zielgruppe über ihre Kaufmotive erreichen, ohne sie als Senioren mit vermeintlichen Defiziten anzusprechen.

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Erste Erfolgsbeispiele aus unterschiedlichen Branchen sollten Mut machen. 60plus-Marketing ist machbar - mit Intelligenz und Kreativität, vor allem aber mit viel Fleiß und konsequenter Umsetzung.

Als Star der Szene wird immer wieder „Nivea vital" herangezogen. Hier ist es in langjähriger Bemühung und ständiger Zusammenarbeit mit der Zielgruppe gelungen, ein Kosmetikprodukt zu plazieren, das nicht mit vollmundigen Anglizismen faltenfreie Schönheit verspricht. Der erfahrenen Kosmetik-Nutzerin wird lediglich gepflegtes Aussehen in Aussicht gestellt. Bei der präzisen Detailarbeit wurde nichts ausgeschlossen: Die Packungsaufschriften sind aus der Entfernung einwandfrei lesbar, die Nachtcreme hat einen dunkelblauen Deckel mit Mondmotiv, die Tagescreme einen weißen mit Sonne. Hier finden wir endlich einmal die intuitive Bedienbarkeit, die uns Anbieter anderer Produkte immer nur versprechen. Der Erfolg der Serie ist nicht zuletzt an der Zahl seiner Nachahmer auszumachen: Als „vital" verkauft sich mittlerweile manche Kosmetikserie. Aber auch hier gilt: Wer in die Fußstapfen eines anderen tritt, wird ihn nicht überholen.

Ein weiteres bemerkenswertes Beispiel für erfolgreiches Seniorenmarketing hält der Reiseveranstalter TUI bereit, der in umfangreichen Studien die Reisemotive der 60plus-Touristen ergründet hat. Aus der zentralen Erkenntnis, daß 80% der Senioren - anders als etwa in den USA - nicht in Seniorenhotels Urlaub machen wollen, geht die TUI auf die Motive der Zielgruppe ein und weist bei besonders geeigneten Hotels auf Schlüsselaspekte hin, die für sie von erheblicher Bedeutung sind. „Tradition", „Komfort", „persönlicher Service" sind die Botschaften und Kaffee und Kuchen am Nachmittag und Abendessen, das ab 18.00 Uhr am Tisch serviert wird, einige der Dienstleistungen. Spitzenreiter dieser Hotels kommen auf eine 60plus-Quote von fast zwei Dritteln, ohne daß sich ein Gast in einem Seniorenhotel wähnt.

Ein gleichermaßen intelligentes und kreatives Eingehen auf die Zielgruppe zeigt der durch seine Türbeschläge bekannte Design-Anbieter HEWI. Das Unternehmen hat einen eigenen Geschäftsbereich „Barrierefreies Wohnen" eingerichtet. Hier ist die kluge Konsequenz aus der Tatsache gezogen worden, daß über 90% der Älteren nicht in ein Pflegeheim gehen, sondern so lange wie möglich im eigenen Heim verbleiben wollen. Die neuentwickelten Produkte optimieren die Wohnung für ein selbstbestimmtes Leben im Alter.

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Konsequenzen für das Marketing

Welche Konsequenzen müssen Anbieter beachten, die sich der Zielgruppe 60plus zuwenden wollen?

  1. Die emotionale Aufladung der Marke wird an Bedeutung verlieren zugunsten einer Betonung des Gebrauchsnutzens des Produktes. Ein sehr anschauliches Beispiel für eine ausschließlich am Gebrauchsnutzen ausgerichtete Warenpräsentation bietet der Versandhändler Manufactum. Sein Katalog ist geradezu ein Nachschlagewerk für klassische und damit hochmoderne Qualitätsprodukte und er wird durch seine Konsequenz selber schon wieder zum Mythos.
  2. Einfachheit wird die Oberhand gegenüber technischer Raffinesse gewinnen. Nicht der Produktspezialist wird künftig das Produktkonzept ausarbeiten; der Kundenspezialist wird definieren, was bei einem technischen Produkt wirklich erforderlich ist. Wie viele technische Gags eines „Komforttelefons" werden ständig benötigt? Und wenn man sie dann einmal nutzen will, ist das Komforttelefon alles andere, aber nicht intuitiv bedienbar.
  3. Direct Marketing wird an Bedeutung zunehmen. Gerade ältere Menschen reagieren besonders positiv auf persönliche Ansprache - mündlich, aber auch schriftlich. Sie nehmen sich die Zeit, um ihren Eindruck vom Produkt zu spiegeln. Die „Nivea vital" Produktmanagerinnen berichten, daß bei ihnen sogar Gedichte von zufriedenen Kundinnen eingehen. Der Dialog ist zwar ein teures und personalintensives Unterfangen, wird aber durch hohe Markenloyalität honoriert.
  4. Best-Choice-Verhalten reduziert die Loyalitätsmarge. Der jetzige Alters-Mittelbau, die 40- bis 50jährigen, verändert sein Kaufverhalten mit dem Übertritt in die 60plus-Gruppe nicht. Daher wird die Jagd nach dem besten Preis-Leistungs-Verhältnis zum Volkssport werden.

Konsequenzen für das Personalmanagement

Wenn die alte Weisheit stimmt, daß sich gleich und gleich gern gesellt, dann können wir künftig davon ausgehen, daß zunehmend Verkäufer an die Kunden gebracht werden, die mit der Zielgruppe harmonieren - weil sie selber dazugehören. In den USA gab es einen schönen McDonalds-Spot, in

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dem ein sehr rüstiger Rentner als Hamburger-Verkäufer eingestellt wird und am Ende eines erfolgreichen Tages feststellt, er könne sich gar nicht vorstellen, wie die vorher ohne ihn zurechtgekommen sind.

Erfahrung wird den Rang einer gesellschaftlichen Norm einnehmen und den Wert Jugend ablösen. Und auch im Marketing-Management wird ein Umdenkungsprozeß stattfinden - Produktmanager werden künftig ihrer Zielgruppe angehören, es wird mehr über 50jährige Produktmanager geben.

Die Älteren als mainstream-Segment!

Der Megatrend ist also unübersehbar: 60plus über alles. Und das ist es, worauf unser Bundespräsident auch hingewiesen hat: Bei aller Unsicherheit über die künftige Entwicklung ist eines festzuhalten: Die Zukunft gehört den Menschen mit Vergangenheit, dem Mainstream-Segment 60plus.

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