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Wilhelm Schmidt
Leitbild produktives Alter(n)


1.

Niemand vermag es heute mit Sicherheit zu sagen, wie Deutschland in 15, 20 oder 30 Jahren dasteht. Für diese Zeitspanne rechnen die Ökonomen mit einem mäßigen längerfristigen Wachstum der Produktivität. Es wird zu einem verschärften Wettbewerb und zu einer Beschleunigung des Strukturwandels kommen, verbunden mit einem Schrumpfen einzelner Branchen. High-tech-lndustrien und Dienstleistungssektor werden weiter wachsen. Der Arbeitskräftebedarf prosperierender Branchen wird nicht so schnell zunehmen, daß freigesetzte Arbeitskräfte dort alle neue Arbeitsplätze finden. Der Strukturwandel wird einhergehen mit den Anforderungen anspruchsvollerer Qualifikationen. Die Chancen Deutschlands liegen in der Qualifikation und Flexibilität unseres Humankapitals, im Know-how bei Forschung und Technik, in einer moderner Produktionsweise, in umweltverträglichen Investitionsgütern, mehr Umwelteffizienz. Eine zusätzliche Chance sehe ich darin, die Produktivität des neuen Alters zu erschließen.

Während noch vor 100 Jahren ein langes und gesundes Leben nur wenigen vorbehalten war, ist es heute für die Menschen in den Industrieländern eine fast sichere Zukunftsperspektive. Doch Altern ist nicht nur eine individuelle Herausforderung. Deutschland ergraut, das ist die Botschaft der Statistik, eindrucksvoll und nicht nennenswert zu korrigieren. In den nächsten 30 Jahren wird der Anteil der über 60jährigen in der Gesamtbevölkerung von gegenwärtig einem Fünftel auf weit über ein Drittel ansteigen. Demgegenüber wird der Anteil der unter 20jährigen von gegenwärtig einem Fünftel auf weniger als ein Sechstel zurückgehen, vielleicht sogar auf unter 15% absinken.

Sicherlich, der Zeithorizont wird in meiner Betrachtung weit geöffnet. Andererseits: Die Senioren des Jahres 2020 sind die 25- bis 40jährigen von heute. Auch die 60jährigen des Jahres 2050 leben bereits heute, es sind unsere Kinder bzw. Enkelkinder. Salopp formuliert, werden ab 2010 aus den Kohorten des „Baby Booms" die des Senior Booms in allen Industrie-

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ländern, besonders stark in Japan, zeitlich versetzt auch in den Schwellenländern. Die heutigen ostasiatischen Boomländer sind im übrigen - so warnte die Weltbank schon 1994 - denkbar schlecht auf die Bevölkerungsentwicklung eingestellt.

Die Gründe für die - ich wiederhole es - nicht mehr aufhaltbare Entwicklung sind leicht zu benennen. Der erste Grund: Wir haben in Deutschland eine außerordentlich niedrige Geburtenziffer von statistisch etwa 1,3 Geburten pro Frau. Zum Erhalt der Bevölkerung in ihrer gegenwärtigen Zahl wären etwa 2,1 Geburten pro Frau erforderlich. Diese Ziffer wird heute in keinem westeuropäischen Land erreicht. Nichts spricht dafür, daß sich an dieser Tatsache in absehbarer Zukunft etwas ändern wird. Mit politischen Maßnahmen (Familienpolitik, Sozialpolitik) läßt sich das generative Verhalten der Bevölkerung kaum beeinflussen; zumal die bisweilen positiven Wirkungen familienpolitischer Maßnahmen durch Nebenwirkungen anderer Politiken konterkariert werden. Je erfolgreicher z.B. die Wirtschaftspolitik ist, je höher der Lebensstandard und der allgemeine Wohlstand sind, desto niedriger liegen in der Regel die Geburtenziffern.

Der zweite Grund: Die Lebenserwartung ist in den hochentwickelten Ländern (des Westens) seit Jahrzehnten kontinuierlich angestiegen, auch in Deutschland. Heute erreichen Frauen bei uns ein statistisches Durchschnittsalter von rund 80, Männer ein Durchschnittsalter von 75 Jahren. Dieser Trend zum längeren Leben wird nach Meinung vor allem der medizinischen Experten anhalten. Bei langfristigen Bevölkerungsprojektionen wird heute ein Anstieg der Lebenserwartung bei Frauen auf durchschnittlich 90, bei Männern auf 84 Jahre unterstellt.

2.

Bei immer besserer Gesundheit werden immer mehr Menschen immer älter, erfüllt sich damit ein Menschheitstraum? Die Stichwörter, unter denen die an sich erfreuliche Tendenz häufig diskutiert wird (Vergreisung, Alterslast), assoziieren eher einen Alptraum. Der Nestor der österreichischen Sozialwissenschaften, Leopold Rosenmayr, entwirft eine andere Perspektive. Er spricht davon, daß durch die grauen Haare des Altenanteils die Gesellschaft nicht insgesamt grau, sondern sie vielmehr mehrfarbiger wird. Die „bunte Gesellschaft" erhält das in sich gestufte Farbenspektrum „grau" zu den

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anderen Farben hinzu. Eine bunte Gesellschaft ist freilich eine prekäre Gesellschaft, eine, die ihren Zusammenhalt ebenso neu bestimmen muß wie die Möglichkeiten ihrer Weiterentwicklung.

Verschiedene wissenschaftliche Disziplinen haben dazu beigetragen, daß wir mittlerweile über ein höchst differenziertes Bild über unsere Bevölkerungsentwicklung und das neue Alter verfügen. Viele Alter(n)sforscher verstehen sich zu recht als Wegbereiter einer besseren Zukunft. Beispielhaft nenne ich die Forscher aus der Berliner Akademie der Wissenschaften, die ihre Arbeitsergebnisse in dem multidisziplinären Bericht „Zukunft des Alterns und gesellschaftliche Entwicklung" niedergelegt haben. Die Arbeit des 1996 neu eingerichteten Max-Planck-Institutes für demographische Forschung in Rostock wird hoffentlich unsere Grundlagenforschung an das internationale Spitzenniveau heranführen.

Noch verfügen wir über eine Reihe gesellschaftspolitischer Optionen, um auf die demographischen Entwicklungen zu reagieren. Bleibt die Entwicklung jedoch unbeeinflußt, verengen sich unsere Spielräume und Chancen mit wachsender Geschwindigkeit. Es ist Aufgabe der Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und Verbänden, Konsequenzen zu diskutieren und vor allem: zu handeln!

Tatsächlich gibt es bislang weltweit keinerlei Erfahrung damit, wie eine so drastische Verschiebung der Relation zwischen Jung und Alt eine Industriegesellschaft verändert. Unsere Gesellschaft ist immer noch so strukturiert, als gäbe es wenige alte Menschen und noch weniger, die produktiv sein können. Wollen wir der demographischen Revolution auf leisen Sohlen vorbereitet entgegentreten und - füge ich hinzu - wollen wir die Verantwortung fairer und sinnvoller zwischen den Menschen in den zweiten 50 Lebensjahren und den Menschen in den ersten 50 Lebensjahren aufteilen, dann müssen Strukturen verändert werden: im Erwerbsleben, in der Ausbildung, im Familienleben, in der gesellschaftlichen Rollenverteilung. Amerikanische Sozialwissenschaftler schlagen als eine Antwort altersintegrierte Konzepte vor, d.h., Verteilung der Phasen für Arbeit, Ausbildung, Familie und Freizeit soweit möglich über das gesamte Leben, über alle Altersgruppen.

Mindestens eine Milliarde DM werden in den USA pro Jahr in die Alter(n)sforschung investiert. Gemessen an der Bevölkerungszahl ist das etwa viermal mehr als bei uns. Längst geht es dabei nicht mehr in erster Linie nur um

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medizinische Projekte. Die wissenschaftlichen Forschungen von Soziologen und Ökonomen, von Psychologen und Geisteswissenschaftlern, von Bildungsforschern und Medizinern werden als Investitionen in die Zukunft verstanden. Der Glaube an das produktive Potential Älterer und die Vorstellung, eine potentielle Ressource zu vergeuden, sind Argumente, die heute die Debatten in den USA prägen. In dem Maße, in dem die 50 Millionen ehemaligen Baby-Boomer sich in Richtung Ruhestand bewegen oder in ihn eintreten, verändert sich Amerikas Wahrnehmung des Alterns.

Auch in Japan verläuft die Debatte energischer, offensiver und vor allem optimistischer als bei uns. Von einer „Gesellschaft des langen Lebens" wird dort in programmatischer Absicht gesprochen. Das MITI z.B. entwickelt völlig neue Industriestandards, die auf Bedürfnisse von Senioren zugeschnitten sind, aber auch die Lebensqualität aller anderen Altersgruppen verbessern.

3.

Die Diskussion über Produktivität des Alters und erfolgreiches Altern ist für deutsche Ohren noch ungewohnt, ja provokant. In Deutschland jedenfalls gibt es unübersehbar eine strukturelle Kluft zwischen Vitalität, Ressourcen und Kompetenzen der Älteren einerseits, dem Regelwerk und den Leitbildern unserer Gesellschaft andererseits.

Die Rede von der Zukunft des Alters zielt in erster Linie auf unausgeschöpfte Potentiale einer Lebensform, die bislang primär in Kategorien des Verfalls gesehen und gemessen wird. Die öffentliche Meinung ist nach wie vor, daß sich irgendwann so um die 60 die Menschen zurückziehen wollen und sollen. Eine kollektive Verantwortung für eine Neugestaltung des Altersprozesses kann durch dieses tiefsitzende Klischee erst gar nicht aufkommen. Durchaus vergleichbar mit der Frauenemanzipation benötigen wir einen neuen gesellschaftlichen Konsens darüber, was unsere Gesellschaft von den Älteren erwartet.

Die Berliner Altersstudie hat die These des englischen Sozialhistorikers Peter Laslett vom Entstehen eines „dritten Lebensalters" bestätigt und inhaltlich ergänzt um ein „viertes Lebensalter". Mit dem dritten Lebensalter ist eine Lebensphase mit einer neuen Lebensqualität entstanden, die die Berliner Altersstudie als „Belle Époque" charakterisiert. Historisch gesehen ist grundlegend neu, daß es für relativ viele Menschen ab etwa dem 60. Lebensjahr,

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z.T. auch eher, eine Phase gibt, in der sie körperlich und geistig vergleichsweise fit, finanziell abgesichert und zudem von gesellschaftlichen, beruflichen und sozialen Verpflichtungen frei sind oder sich frei machen können. Das Heidelberger Sinus-Institut hat schon 1990 im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung eine Milieu-Studie vorgelegt, nach der etwa ein Viertel der 60- bis 75jährigen diese Gruppe der sogenannten neuen oder aktiven Alten ausmachen. Sie begegnen uns beispielsweise als Reiselustige im Ausland, als Studierende an den Universitäten oder als sozial Engagierte.

Andere Studien bestätigen, daß immer mehr Ältere als aktive Bürger in Erscheinung treten, die ihre Sache selbst in die Hand nehmen. Sie wollen mitgestalten und mitentscheiden. Ihr soziales, kulturelles, politisches, sportliches oder nachberufliches Engagement ist überdurchschnittlich. Selbst bei den über 70jährigen liegt die Beteiligung am sogenannten Ehrenamt noch höher als bei den 20- bis 40jährigen. Das Spektrum des Engagements ist breit. Es reicht von organisierter Kinderbetreuung über zeitweise Hilfen und Betreuung für Gleichaltrige, über Wissensvermittlung und Unternehmensberatung bis hin zu Handwerker- und Reparaturdiensten. Es sind - wie in anderen Altersgruppen auch - noch Minderheiten, die sich so engagieren, allerdings wachsende Minderheiten.

Selbstverständlich gibt es auch Fallen und Gefahren eines übertriebenen Optimismus. Der größte Teil der aktuellen gerontologischen Forschung beschäftigt sich mit dem jungen oder aktiven Alter. Das Alter hat eben viele Gesichter, und es ist beileibe nicht nur schön, alt zu werden und zu sein. Es wird stärker zu differenzieren sein: Für das dritte Lebensalter wird die Definition von Produktivität und Erfolg im Vordergrund stehen. Das eher pessimistische Bild der Zukunft des vierten Alters wird in der Diskussion um die Altersdemenz auf den Punkt gebracht. Für das hohe Alter der 80- bis 100jährigen wird es darauf ankommen, Bedingungen und Interventionen zu optimieren, die Lebensqualität zu bewahren.

Die Berliner Altersforscher Margret und Paul Baltes fassen ihr Modell eines „erfolgreichen Alterns" unter der Überschrift „Selektive Optimierung mit Kompensation" zusammen. Pianisten etwa beschränken sich auf ein kleineres Repertoire an Stücken, die sie häufiger spielen. Schließlich vermögen sie schnelle Passagen dadurch zu meistern, daß sie das Stück insgesamt langsamer vortragen. Ob dieser Grundgedanke in größerem Maßstabe trägt, muß geprüft werden. Das generelle Ziel jedenfalls ist dabei, trotz Verlusten

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möglichst lange aktiv zu bleiben, das eigene Leben zu meistern. Welche spezifischen Ziele angegangen werden, ist Sache des einzelnen.

4.

Der aus den USA stammende Begriff Produktivität umschreibt sowohl Wertschöpfung, also die Erzeugung geldwerter Leistungen, wie auch andere Aktivitäten, die zu einem erfüllteren Leben führen. Martin Kohli hat empirisch nachgewiesen, daß sich auch in Deutschland eine beträchtliche Zahl der Älteren in neuen Feldern nachberuflicher Tätigkeiten engagiert. Ruheständler entlasten die Erwerbstätigen von familiären Pflichten und leisten damit produktive Beiträge zum Funktionieren unserer Wirtschaft und Gesellschaft. Senior-Experten vermitteln ihr Erfahrungswissen. Ehrenamtliches Engagement, bei Älteren besonders hoch, entlastet die Gesamtgesellschaft von hohen sozialen Kosten. Die ökonomische Geberrolle der Älteren im Generationenkontext hat zuletzt die großangelegte Berliner Altersstudie demonstriert.

Produktivität des neuen Alters i.S. (gegenseitiger) Nutzenbeziehungen umfaßt aber noch wesentlich mehr: nämlich Kaufkraft und aktiven Konsum, der wiederum Arbeitsplätze schafft. Immer noch zu wenig machen sich Marketing-Strategen klar, daß sich Ältere auch für Mode und Bekleidung, für Körperpflege und Kosmetik, für Reisen und Touristik, für Bankdienstleistungen, für Möbel und Einrichtungen interessieren.

Industrie, Handel, Marketing und Werbung sollten erkennen, daß die Zeit fast ausschließlicher Orientierung an jungen Erstverwendern und der Verunglimpfung Älterer als tumbe „Kukident's" schlicht vorbei ist. Manche Medien zumindest sind schon einen Schritt weiter. Analysen zum Thema „Alter und Altern als Zeitungsthema" zeigen: Handelten 1985 noch 40% der altersbezogenen Artikel von Altersheimen und Altenhilfe, waren es 1993 nur noch knapp 8%. Die „aktiven Alten" dagegen, 1985 nur in 16% der Berichte Thema, standen 1993 in jedem zweiten Artikel im Mittelpunkt. Es entsteht ein Potential von Konsumenten, die erfahren, kaufkräftig und beweglich sind und im Interesse unseres wirtschaftlichen Wachstums angesprochen werden sollten. Fraglich ist, ob das jugendkultige Management dazu willens und in der Lage ist.

Ich zitiere Helmut Thoma, den Chef von RTL: „Bei der letzten Sendung waren nur 3,8% der Zuschauer über 50. Das ist ein Traum für jeden Werber".

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Uralt-Erkenntnisse in den USA sagten vor Jahren, nur jene Zielgruppe der Jüngeren bis maximal Mittelalten verfüge über genügend Geld und findigen Käufersinn, um auch auf neue Produkte einzusteigen. Welch ein Unsinn! Altersmythen blockieren Zukunftsmärkte. Eben jene über 49 verfügen mehrheitlich über ausgesprochen gutgepolsterte und weiterwachsende Etats. Eben jene verfügen über ausreichend Zeit, um auf die Pirsch nach neuen und attraktiveren Produkten zu gehen. Amerikas Konsumforschung hat das erkannt und die Werbung ist auch schon wesentlich weiter als hier.

Altersmythen blockieren Chancen, in der Wirtschaft wie in der Politik. Die Zahl derer, die an positiveren Bildern aus durchaus eigennützigen Gründen mitzuwirken bereit sind, nimmt glücklicherweise zu: in den Wissenschaften klar; auch in der Wirtschaft, in Verbänden, bei den Medien, sogar in der Politik. Die Ideen, von denen einige heute vorgestellt werden, lassen sich nicht auf einen allein verbindlichen Nenner bringen. Der Handlungsspielraum und das Spektrum alternativer Möglichkeiten werden jedoch m.E. mit jedem dieser Ansätze erweitert.

Unsere Gesellschaft kann „erfolgreich" altern, aber nur, wenn wir nicht einfach zuwarten. Es wird wichtig sein, Lösungen mit den Älteren gemeinsam zu finden. Dazu gehört auch, daß Neueinsteiger im Seniorenalter demokratische Beteiligung in Gremien und Mandaten ermöglicht wird.

Ich wünsche dem Thema endlich unverstellte Neugier und Wahrnehmungsfreude, denn es reizt doch eigentlich ungemein, sich eine Gesellschaft vorzustellen, die nicht mehr jugendfixiert und altersvergessen, sondern altersunabhängig ist.

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