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TEILDOKUMENT:
[Seite der Druckausg.: 6]
2. Geschlechtertheoretische Grundlagen von Politikstrategien oder gibt es eine Frauenpolitik ohne Theorie der Geschlechter?
Im folgenden werden drei geschlechtertheoretische Ansätze vorgestellt und ihre Verknüpfung zu spezifischen frauenpolitischen Strategien aufgezeigt. Die Darstellung bezieht sich auf die Grundideen und kann demzufolge der Komplexität, wie sie in den Texten ihrer VertreterInnen zu finden ist, nicht gerecht werden.
2.1 Differenztheorie und Identitätspolitik
DifferenztheoretikerInnen gehen davon aus, daß es zwei Geschlechter gibt. Diese beiden Geschlechter sind in der Natur der Menschen angelegt und die Stereotype und Normen, die die Geschlechterbilder prägen, sind kulturell und gesellschaftlich bestimmt. Das natürlich angelegte Geschlecht wird mit Sex bezeichnet, die kulturellen und gesellschaftlichen Momente, die die Geschlechterbilder und -normen bestimmen, werden als Gender bezeichnet. Die Trennung der Geschlechter wird in ihren Auswirkungen auf Frauen kritisiert: Das den Frauen Zugewiesene wird als gesellschaftlich unterbewertet, als zweitrangig, als weniger mächtig analysiert gegenüber dem, was den Männern zugewiesen ist. Männer bestimmen die politischen Strukturen, Staat und Wirtschaft tragen männliche Züge. Frauen werden andere Qualitäten als Männern zugeschrieben, und die Kritik richtet sich auf die Unsichtbarmachung dieser Qualitäten in der Öffentlichkeit, auf ihre mangelnde Repräsentanz, aber auch auf die institutionellen Strukturen und Mechanismus, die diese Unterdrückung aufrechterhalten. Nicht die Spaltung selber, sondern nur die mangelhafte Ermächtigung des weiblichen Teiles sind Gegenstand für die Geschlechterpolitik, die auf der Differenztheorie basiert. Die konsequenteste politische Strategie aus dieser Sichtweise besteht in dem Aufbau frauenspezifischer Gegenstrukturen. In Beziehungsnetzen, in denen nur Frauen arbeiten und leben, soll ihnen Raum zur Entfaltung ihrer eigene, geschlechtsspezifischen Vorstellung vom Leben und Arbeiten gegeben werden. Insbesondere ihr doppelter Lebensentwurf, der Privates und Berufliches vereinbart, soll in diesen Räumen realisiert werden. Die Autonomie von männlich geprägten Organisationen wird als Voraussetzung für die Entfaltung der Gegenkultur angesehen positiviertes Weibliches soll Entwicklungschancen bekommen, die nicht durch männliche Kontrolle beschnitten werden. Die subjektiven Erfahrungen als Frau, also die Ebene der Geschlechterbeziehungen, werden ernst genommen, zum Sprechen gebracht und bilden die Grundlage politischer Handlungen. Die weibliche Subjektivität wird zum Programm erhoben. Das Gemeinsame der Frauen wird in ihrer Geschlechtsidentität gesehen. Die konkreten Formen solcher weiblichen Gegenstrukturen sind sehr vielfältig: Viele Frauenprojekte, die Mütterzentren, Frauengruppen, einige Konzepte von Frauenuniversitäten begründen sich in der Differenztheorie und machen den spezifisch weiblichen Erfahrungshintergrund zur Grundlage eigenständiger Repräsentationen in der jeweiligen Öffentlichkeit. Das "Müttermanifest" der Grünen von 1987 ist ein Dokument eindeutiger Identitätspolitik, die auf der Differenztheorie der Geschlechter aufbaut. Eine italienische feministische Philosophinnengruppe (Diotima), die eine besondere Form der differenztheoretischen Position vertritt, hat erst in jüngster Zeit eine frauenpolitische Strategie vorgeschlagen, die die Beziehung zwischen Frauen in den Mittelpunkt stellt und diese Beziehung in Form des gegenseitigen Anerkennens von Stärken und Schwä- [Seite der Druckausg.: 7] chen zum Angelpunkt der Politik von Frauen macht. Ohne dabei eine eigene Definition des "Weiblichen" zu geben, sieht diese Gruppe in dem hauptsächlichen Bezug von Frauen auf Frauen, im "Affidamento", dem Sich-Anvertrauen einer weiblichen Autorität, die Möglichkeit, daß sich die gesellschaftlichen Machtverhältnisse zugunsten von Frauen verändern, daß "Patriarchat in seinem Ende" offenbar wird (Libreria 1996). Die Differenztheorie der Geschlechter bildet auch den theoretischen Rahmen vieler empirischer Untersuchungen über Frauen in der Politik: Während Frauen von mänlichen Forschern in den siebziger Jahren unterstellt wurde, sie seien unpolitisch, wird jetzt von überwiegend weiblichen Forscherinnen mit differenztheoretischer Perspektive angenommen, daß Frauen aufgrund ihres Geschlechts eine andere Politik machen, daß sie weibliche Werte und Verhaltensweisen in die Politik einbringen und sie damit reformieren wollen. Als zu Männern komplementäre Wesen wird bei Frauen ein weibliches Politikverständnis und ein spezifisches Verhalten in politischen Zusammenhängen vorausgesetzt bzw. empirisch untersucht und teilweise gefunden, Frauen gelten dann als moralisch besser, weniger verdorben und mit den Alltagserfahrungen mehr verbunden als Männer (z.B. Hoecker 1995, Schöler-Macher 1994, Schaeffer-Hegel u.a. 1995). Nicht immer werden die beschriebenen Andersartigkeiten als reiner Ausdruck von Weiblichkeit interpretiert, es werden auch spezifische Konfliktlagen von Frauen in der Politik gerade aus den unvereinbaren Erwartungen der männlich geprägten Handlungsräume und dem weiblichen Geschlechterbild erklärt. Gemeinsam aber ist diesen Forschungsarbeiten, daß sie nach dem "anderen", das Frauen in die Politik einbringen, fragen. Bereits die Kritik von Feministinnen aus anderen Kulturen hat darauf hingewiesen, daß nicht alle Frauen die Identität einer weißen Mittelschichtsfrau teilen. In der Tat hat westliches feministisches Denken erst durch die Akzeptanz schwarzer feministischer Denktraditionen von der Annahme einer universalen Weiblichkeit im Format der Middle Class White Women Abschied genommen und auch andere Definitionen vom weiblichen Geschlecht akzeptiert. Die essentialistische Sicht auf die Unterschiede zwischen den Geschlechtern, die darauf abhebt, daß alle Frauen anders sind als Männer und alle Frauen im Sinne der Geschlechtsidentität einander ähnlich sind, wird aus empirischer Perspektive kritikwürdig: Die deutlichste Verwerfung dieser essentialistischen Theorie geschieht jedoch durch Theoretikerinnen, die eine dekonstruktivistische Geschlechtertheorie vertreten.
2.2 Dekonstruktion der Kategorie Geschlecht und Parodie
Die sogenannten poststrukturellen Geschlechtertheorien und die Queer-Theorien gehen davon aus, daß Geschlecht keine natürliche Seinsform der Körper oder Individuen ist, sondern daß es eine gesellschaftlich kulturelle Existenzweise ist, die sich durch historisch spezifische Denk-, Gefühls- und Körperpraxen herstellt, und die auf der binären Logik dichotomer Opposition beruht. So wie die Kategorien Mann und Frau einander polar gegenübergestellt werden, geschieht es auch mit den Kategorien Kultur Natur, Körper Geist, Materie Bewußtsein. Die Kritik dieser Denkweisen führt zu der Annahme einer potentiellen Vielzahl von Geschlechtern, also verschiedener Weiblichkeiten und Männlichkeiten. Die bekannteste Vertreterin des Dekonstruktivismus in der Geschlechterfrage, Judith Buttler, kritisiert, daß sich auch der Feminismus der Konstruktion des Geschlechts unterwirft und Frauen für ihre Rechte als Frauen kämpfen, nachdem sie die von Männern erdachte Geschlechterdichotomie übernommen und akzeptiert haben. Auch die Unterscheidung im Rahmen der Differenztheorie zwischen Sex (als körperliches Geschlecht) [Seite der Druckausg.: 8] und Gender (als kulturelle Geschlechtsnorm), die zunächst die natürliche Basis bestimmter Geschlechtszuschreibungen in Frage gestellt hat, wird aus dekonstruktivistischer Perspektive als kulturelle Fortschreibung der Geschlechterpolarität kritisiert. Damit wird Sex als Bezeichnung des geschlechtlichen Körpers zum historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Phänomen. Die Dichotomie der Geschlechter wird genauso wie die Vorgängigkeit der Natur vor der gesellschaftlichen Formung, besonders durch Bezeichnungen und Sprache, verworfen. Empirisch läßt sich die Konstruktion der Geschlechtlichkeit durch die Untersuchung von Transsexualität belegen. Transsexuelle Menschen sind an der interaktiven Konstruktion in der binären Form der Geschlechter zwar beteiligt, aber die für ihren Körper vorgesehene Definition des Geschlechts lehnen sie ab. Transsexuelle Menschen fühlen sich in dem Geschlecht, das aufgrund ihrer biologischen Geschlechtsmerkmale für sie zutreffen soll, nicht zu Hause und identifizieren sich mit dem je anderen Geschlecht. Das doing gender, also die alltägliche Praxis der zweigeschlechtlichen Wahrnehmung, des Denkens und Handelns, wird seiner "Natürlichkeit" beraubt, wenn Individuen die sozialen Konstruktionen nicht mitmachen, ein Hinweis darauf, daß der Körper eher der Effekt als die Basis sozialer Prozesse ist. Die Travestie ist Ausdruck einer Praxis, die gängige Geschlechterordnung als kulturelles Phänomen umzukehren. Das Spiel mit dem Geschlecht hat provozierende Wirkung, ein Beleg für die Tiefe, mit der die kulturellen Konstruktionen verankert sind. Ohne eine prinzipielle Infragestellung der Natürlichkeit der zweigeschlechtlichen Ordnung, eine Idee, die vielen absurd erscheint, lassen sich jedoch die Herstellungsmodi dieser Zweigeschlechtlichkeit schlecht erkennen. Auf welche Weise die Differenz zwischen den Geschlechtern immer wieder neu reproduziert wird, eröffnet sich nur dann, wenn sie selbst als konstruiert und nicht als überzeitlich, natürlich Gegebenes angenommen wird. Insbesondere die die Zweigeschlechtlichkeit normalisierenden Praktiken, die ständigen Wiederholungen und klaren Ausschließungen, sind Gegenstand dekonstruktivistischer Untersuchungen: Institutionalisierte Heterosexualität und geschlechtshierarchische Arbeitsteilung spielen dabei als materielle Strukturen der sozialen Beziehung eine besondere Rolle. Die Queer-Theorien, die in subkulturellen Kontexten entwickelt wurden, benutzen keine Identitätskategorien für das Geschlecht. Queer-TheoretikerInnen suchen nach Geschlechterkonzepten, die nicht nur die Hierarchisierung (Mann - Frau), sondern auch die Vereindeutigungen (Homosexuell-heterosexuell) vermeiden und kritisieren (vgl. Hark 1996). Sie bezweifeln ebenfalls die Eindeutigkeit der Zweigeschlechtlichkeit und übertragen das Problem von der Geschlechterdifferenz auf das Problem der Hetero- und Homosexualität. Die Grundannahme dieser Geschlechtertheorien lauten:
Wenn nun sowohl Sex als auch Gender der essentialistischen Gültigkeit beraubt sind, die Kategorie Geschlecht dekonstruiert werden kann, eignet sie sich folglich auch nicht [Seite der Druckausg.: 9] als Basis für eine spezielle Politik. Eine prinzipiell so fragile Selbstkonzeptualisierung, eine solche Vieldeutigkeit in der Bestimmung von Geschlecht kann demnach nicht dazu dienen, eine bestimmte Geschlechterpolitik zu legitimieren. Buttler schlägt deswegen auch vor, diese Fragilität zu demonstrieren und durch Parodie die herrschenden Geschlechternormen zu unterlaufen. Die Queertheorien bieten deutlichere Ansatzpunkte für politisches Handeln. Die Basis ist nicht die geschlechtliche Identität sondern der Widerstand und der Widerspruch gegen die hegemoniale heterosexuelle Normalität. Beweggrund für politische Aktivität ist also nicht das authentische Selbst z. B. als Frau, Mutter oder Lesbe, sondern gerade im Gegenzug zu einer solchen universellen Fundierung ist es das je konstruierte Selbst, das in Opposition zu dem jeweiligen sozialen und politischen Gegenüber konstruiert wird. Die dekonstruktivistische Theorie der Geschlechter bietet eine Interpretationsfolie, unter der viele bislang unbequeme und offene Fragen der realen Geschlechterpolitik besser verstanden werden können. Eine Frage, die in der Frauen- und Geschlechterpolitik immer wieder diskutiert wird, nämlich, warum nicht alle Frauen feministische Politik machen wollen, warum es so verschiedene Frauenpolitiken gibt, kann aus der Perspektive der Dekonstruktionstheorie beantwortet werden. Das Problem stellt sich ja nur dann, wenn man davon ausgeht, daß Frau-Sein einen Identitätsbezug hat, der für alle Frauen gleich ist. Die dekonstruktivistische Sichtweise öffnet dagegen den Blick sowohl auf den vielfach gebrochenen Weg, auf dem eine Geschlechtsidentität erworben werden kann und nicht muß und verweist gleichzeitig auf andere, ebenfalls gesellschaftlich konstruierte Identitätsangebote wie ethnische Herkunft, Klassenzugehörigkeit, generative Position oder Alter. Jede dieser Kategorien für sich hat ein kulturelle und subjektive Geschichte und für jede einzelne Person gibt es eine Vielzahl von identitätsformenden Beschränkungen. Darum muß sich nicht jede Frau mit einer spezifischen Definition von Frau identifizieren, denn je nach Lebenslage sind ganz andere Identifikationen für sie bedeutsam. So kann bei einer Frau ihre Herkunft oder ihr Alter, ihre generative Position oder ihre sozio-ökonomische Position viel bedeutsamer sein als ihre Identifikation als Frau. Die jeweilige Identität ist bestimmt durch ein fragiles Konstrukt verschiedener Identitäten, bei weitem nicht und nicht immer durch die Geschlechterdualität. Es bedarf offenbar einer von sehr vielen Frauen gefühlten Betroffenheit, wie sie etwa die Beschränkung der Selbstbestimmung über den eigenen Körper darstellt, damit sich Frauen als Frauen identifizieren und politisch eindeutig Stellung nehmen. Die alltägliche, strukturelle Diskriminierung des weiblichen Geschlechts muß nicht für jede Frau so erfahrbar sein, daß sie sich aktiv dagegen wehrt. Noch weniger ist es selbstverständlich, daß alle Frauen eine einzige Lösung gegen diese Diskriminierung anstreben. So versucht Young (1995), das Geschlecht als serielle Identität zu deuten. Das bedeutet, daß das Geschlecht erst dann ein politisches Movens wird, wenn bestimmte Strukturen oder Situationen Frauen als Frauen kenntlich machen und die so kenntlichen Subjekte die Diskriminierung als Frauen in ähnlicher Weise erfahren. Erst dann werden sie sich dagegen wehren. Feminismus ist danach ein reflektierter Impuls zur Bildung von Gruppen von Frauen und als Frauen mit dem Ziel, die Strukturen zu verändern, die sie als Frauen identifizieren. Gegen die Dekonstruktionsperspektiven in der Geschlechterfrage wird eingewendet, sie würden entpolitisierend wirken, weil sie das Subjekt der Frauenbewegung zerstören. Wenn es nicht mehr darum gehen kann, definierte Entitäten des Frau-Seins und daraus abgeleitete Interessen zu vertreten, kann sich auch politisches Handeln nicht mehr im Rückgriff auf gemeinsame substantielle Eigenheiten legitimieren. Vielmehr müssen die politischen Ziele stets neu bestimmt und miteinander ausgehandelt werden und im Rahmen wechselnder Bündnisse durchgesetzt werden. Frauenbewegung heißt Frauen- [Seite der Druckausg.: 10] bewegung, repräsentiert aber nicht alle Frauen. Selbst beim Kernthema Gewalt und § 218 sind die Frauen nicht einer Meinung: Männergewalt gegen Frauen wird nicht von allen als Element der herrschenden Geschlechterverhältnisse interpretiert, sondern die gemeinsame Empörung hat verschiedene Motive: humanitäre Einstellungen, die sich genauso gegen Gewalt gegen Kinder, Schwächere oder gar Tiere beziehen, sind genauso vertreten wie die Sichtweise, daß sich in der Gewalt gegen Frauen patriarchalische Strukturen zuspitzen. Deswegen ist die Zielbestimmung von Frauenpolitik wichtiger als die konzeptualisierte Motivation. Wenn die Ziele bündnisfähig sind, wird etwas gesellschaftlich sichtbar gemacht und durchsetzbar. Schäfer (1998) interpretiert die feministische Politik in der Zeit der Wende im Sinne der Buttlerschen Dekonstruktion der Geschlechtsidentität. Was die 1.200 Frauen aus der DDR in der Volksbühne 1998 verband und sie im UFV (Unabhängigen Frauenverband) zum politischen Subjekt werden ließ, war nicht ihre Geschlechtsidentität, sondern das Gemeinsame in der Abwehr eines spezifischen Identitätsangebotes und Gebotes der DDR-Kultur und -Politik. Die vielen Frauen wollten sich je an ihrem Ort davon absetzen, sich davon befreien und mit ihren anderen Vorstellungen vom Frau-Sein sichtbar werden. Nicht eine gemeinsame Identität war das politisch Bewegende sondern die geschlechtlich begründete Kritik an der alten DDR-Gesellschaft. Auch hier wird deutlich, daß die Kategorie Geschlecht als potentieller, nicht als wesentlicher und allgegenwärtiger Begründungszusammenhang dient. Während für einige Frauen die Bühne der Politik nur und wesentlich durch die Geschlechterverhältnisse geprägt ist, stehen für andere Frauen Fragen der Humanität und Unterdrückung unabhängig vom Geschlecht im Vordergrund. Die Dekonstruktionsperspektive eröffnet nun ein Verständnis dafür, daß Frauen nicht überall und immer die Geschlechterfrage stellen und unter diesen Gesichtspunkten politisch handeln. Geschlecht ist nur eine unter mehreren potentiellen Betrachtungsperspektiven, die von vielen Frauen in vielen Bereichen benutzt wird, von anderen Frauen aber nicht. Eine solche Argumentation darf nun nicht dazu benutzt werden, das beharrliche Nachdenken, Nachforschen und politische Handeln der Frauen zu kritisieren, die pointiert nach den Geschlechterverhältnissen fragen, sie anprangern und zu verändern versuchen. Die Denk- und Forschungsarbeit, die die gängigen Theorien und die gesellschaftlichen Verhältnisse daraufhin untersuchen, in welcher Weise und in welcher Tiefe sie durch das Geschlechterverhältnis geprägt sind, stehen erst am Anfang. Kritisiert werden dekonstruktivistische Ansätze in der Geschlechtertheorie aber noch grundsätzlicher, wenn ihnen die Vernachlässigung von gesellschaftlich-historischen Herrschaftszusammenhängen und objektiven Strukturen auch zwischen den Geschlechtern vorgeworfen wird (Knapp 1994). Allerdings schließt der dekonstruktivistische Blick solche Zusammenhänge nicht an sich aus, wenn sie auch bislang keine große Rolle in den Denkanstrengungen dieser Richtung gespielt haben.
2.3 Geschlecht als Strukturkategorie im Herrschaftszusammenhang Analyse und Aufklärung
Nicht die analytisch mögliche Auflösung der Kategorie Geschlecht als subjektiv identitätsstiftende Kategorie, sondern vielmehr die durch sie verursachte Prägung gesellschaftlicher Strukturen, steht im Zentrum feministischer Sichtweisen, die den Anspruch nicht aufgeben wollen, in einer Analyse gesellschaftlicher System die geschlechtsspezifischen Herrschaftsstrukturen zu identifizieren. Bei dieser Betrachtung stellt sich die Frage, wie denn gesellschaftliche Systeme immer wieder neu die Geschlechterdifferenz produzieren, Schließung und Ausschließungsprozesse über die Geschlechtervariable funktio- [Seite der Druckausg.: 11] nieren und wie die reale Ungleichheit und Hierarchie zwischen Männern und Frauen hergestellt wird. Als besonders wirksamer Mechanismus erweist sich der der Leugnung geschlechtsspezifischer Bezüge. Feministische Politikwissenschaftlerinnen arbeiten sowohl an dem Nachweis des Androzentrismus der geltenden Theorie zu Staat und Politik als auch an der Dechiffrierung staatlicher Institutionen und Politiken als geschlechtsneutral. Der Staat wird als männlichen Normen gemäße Institution analysiert, die nicht nur durch die Geschlechterhierarchie strukturiert ist, sondern die auch auf anderen binären Dualismen beruht: so der Trennung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, zwischen Staat und Familie. Feministische Politiktheorie will die Entstehungsprozesse der Vergeschlechtlichung staatlicher Strukturen aufdecken, feministische Politik die weitere Vergeschlechtlichung seiner Gestaltungsergebnisse stoppen (Kreisky 1995). Wer das Geschlecht als Strukturkategorie zur Analyse geschlechtsspezifischer Herrschaftsverhältnisse benutzt, setzt voraus, daß alle gesellschaftlichen Strukturen in einer bestimmten Weise "vergeschlechtlicht" sind. Die Aufklärung über diese verschiedenen Formen, das Herauslösen geschlechtshierarchischer Formen des Zusammenlebens, der geschlechtshierarchischen Prägung von Institutionen eröffnet gleichzeitig Wege zum Abbau der Geschlechterhierarchie. Allerdings wird bei der Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse, als deren Teil das Geschlechterverhältnis angesehen wird, klar, daß die Kategorie Geschlecht nicht in der Lage ist, alle Herrschaftsformen zu begreifen. Spezifische Unterdrückungsformen gibt es auch über Kategorien wie Ethnie, Klasse und Alter. Entscheidend ist, daß diese Formen miteinander verwoben sind und es einer starken analysierenden Kraft bedarf, gerade diese Verwobenheit zu erkennen, ohne die eine oder andere Kategorie zu vernachlässigen. Erst eine Kontextualisierung, also ganz konkrete Betrachtung definierter Positionen, Situationen und Verhältnisse läßt erkennen, in welcher spezifischen Weise Frauen als Geschlechtsgruppe jeweils in einen Unterdrückungszusammenhang gebracht werden. Während dekonstruktivistische Ansätze versuchen, das Subjekt von den gesellschaftlichen und kulturellen Determinanten des binären Geschlechtscodes zu befreien, indem sie dessen Legitimität in Frage stellen, versuchen Feministinnen, die Geschlecht als Strukturkategorie zur Analyse von Herrschaftsverhältnissen benutzen, überhaupt erst einmal die binäre Geschlechtskodierung und die damit verborgene Beherrschung des weiblichen Geschlechts in gesellschaftlichen und kulturellen Systemen nachzuweisen. Marxistisch orientierte Feministinnen kritisieren einerseits die Geschlechtsblindheit marxistischer Gesellschaftsanalyse, andererseits versuchen sie aber, die analytischen Instrumente dieser Theorie zu verändern und zu erweitern und die Verschränkung von Klassenherrschaft und Geschlechterherrschaft zu bestimmen. Das Geschlechterverhältnis wird dabei immer als objektives Verhältnis zwischen Genusgruppen angesehen, das mit den Klassenverhältnissen verschränkt ist, aber nicht in ihnen aufgeht. Aus dieser Perspektive gibt es eine definierbare Gemeinsamkeit von Frauen, nämlich die Benachteiligungs- und Entwertungsstrukturen, die sich quer durch alle sozialen Bereiche und Klassen vereinheitlichen lassen. Sie bilden die objektiven Erfahrungsbedingungen von Geschlecht, die Frauen treffen. Ob diese Bedingungen den einzelnen Frauen bewußt sind oder nicht, ob Frauen diese Bedingungen akzeptieren oder gegen sie kämpfen, das konkrete Handeln der Frauen ist zunächst nicht ausschlaggebend für die Bestimmung objektiver Geschlechtsdiskriminierungen. Die Strukturen und Mechanismen, die Frauen zu Frauen machen, also die gesellschaftlichen Erfahrungen aufgrund des Geschlechts, sind aber nur einerseits von Diskriminierung und Abwertung gekennzeichnet. Andererseits bieten sie aber auch die Chance, Utopien vom besseren Leben zu entwickeln. In diesem Bild vom besseren Leben sind die [Seite der Druckausg.: 12] positiven Erfahrungen von Sozialität und Gebundenheit menschlicher Existenz aufgehoben. Das heißt die gesellschaftlichen Erfahrungen von Frauen, allerdings nicht von jeder Frau, bieten auch einen spezifischen Zugang zu Visionen und lassen andere und neue entwickeln. Die Besonderheit, in die viele Frauen gestellt werden, ihre Lebensentwürfe und Lebenspraxen, die anders sind als die der meisten Männer, führen auch zu einem anderen gesellschaftlichen Blick: Das privat gehaltene wird zum Politikum gemacht und die Dualität von Privatheit und Öffentlichkeit in Frage gestellt, der Begriff des Politischen kann von Frauen aufgrund ihrer Lebensweise erweitert werden. Solche feministischen Utopien vom guten Leben in Akzeptanz der natürlichen Ressourcen und im friedlichen Miteinander lassen sich nicht nur durch die Aufhebung der Geschlechterdifferenz in der Beteiligung am politischen System durchsetzen, sondern erfordern auch Politikkonzepte, die jenseits der Geschlechterdifferenz angesiedelt sind und die eine Ökologisierung und Demokratisierung sowie Befriedung durchzusetzen versuchen. In diesen utopischen Zielen können Frauen auch mit Männern übereinstimmen (Holland-Cunz 1998).
2.4 Geschlechtertheorien und politische Strategien
Die dargestellten und skizzenhaft verkürzten Geschlechtertheorien führen, wie gezeigt in ihrer Reinform zu unterschiedlichen politischen Strategien: Differenztheorien begründen eine autonome, von Männern und Männlichem abgegrenzte Politik. Die Dekonstruktionstheorien legitimieren jede Art von Politik, die geschlechtliche Identitäten nicht ausgrenzt, sondern entgrenzt und die gesellschaftlichen Konstruktionen als solche kenntlich macht, sie delegitimieren jede Form der Geschlechterherrschaft und ermutigen dazu, sich von allen Zuschreibungen aufgrund des Geschlechts zu befreien. Gesellschaftskritische Geschlechtertheorien bieten Analyseraster und Erkenntnisse über die je vorhandenen Formen der Geschlechterhierarchie und Frauendiskriminierung. Aus dem Geschlecht an sich läßt sich direkt kein politisches Programm und keine politische Strategie ableiten, diesen Aspekt betonen die Dekonstruktionstheorien. Dennoch ist die Geschlechtszugehörigkeit oder besser die Zuweisung einer Person im Rahmen einer binären Geschlechterordnung in vielen Bereichen Anlaß zur Diskriminierung oder Privilegierung, diese Verhältnisse werden von den gesellschaftskritischen Geschlechtertheorien hervorgehoben. Der Abbau dieser Diskriminierungen und Privilegierungen ist nur politisch zu erreichen. Für eine Politik des Mainstreaming, die bewußt innerhalb der herrschenden Strukturen ansetzt und diese von innen heraus mit dem Ziel des Abbau der Geschlechterhierarchie verändern will, bieten alle drei Ansätze wichtige Orientierungen. Differenztheoretische Entwürfe und auf ihnen basierende Studien gehen von der bestehenden Geschlechterdifferenz aus und zeichnen sich durch eine Gegenbewegung gegen die herrschende Mißachtung des den Frauen Zugeschriebenen aus. Sie halten daran fest, daß die Werte und Orientierungen, die im Rahmen der Geschlechterpolarisierung den Frauen zugeschrieben werden, nicht verachtenswert sind, sondern vielmehr aufgewertet werden müssen. Damit bieten sie, auch wenn man ihre Identitätstheorie nicht teilt, eine wichtige Hilfe, damit Frauen die Diskriminierung, die ihrem Geschlecht widerfährt, nicht auch selber akzeptieren und in dem männlichen Lebensentwurf und männlichem Verhalten das allgemein Menschliche sehen, dem sie sich anpassen müssen. Dekonstruktionstheorien können die für viele Frauenpolitikerinnen so schmerzhafte Tatsache erklären, warum nicht alle Frauen entschiedene Geschlechterpolitik machen, sich gegen Diskriminierung wehren. Der Abschied von dem Identitätsgedanken, nach dem alle Frauen, weil Sie Frauen sind, auch dieselbe Geschlechtsidentität entwickeln, öffnet Räume zur Entwick- [Seite der Druckausg.: 13] lung einer anderen Politik: Nicht mehr die gemeinsame Identität stiftet die politischen Zusammenhänge, sondern die geschlechterpolitischen Ziele sind immer wieder historisch anders und neu im speziellen Kontext zu bestimmen und zu verfolgen. Danach gibt es keine eindeutige, aus dem Geschlecht ableitbaren politischen Ziele, aber jeweils gültige, die sich auf den momentanen Kontext beziehen. Die oft befürchtete Beliebigkeit dieser Theorie kann durch die jeweilige Kontextsensibilität der politisch Handelnden umgangen werden. Dekonstruktionstheorien können die Akzeptanz unterschiedlicher Positionen in der Geschlechterfrage fördern. Gesellschaftskritische Geschlechtertheorien sagen bewußt wenig über subjektive Identitäten aus. Sie beziehen sich auf die Analyse des Geschlechterverhältnisses. Damit bieten Sie eine Fülle von Erkenntnissen über die Mechanismen, mit denen diese Hierarchien in allen gesellschaftlichen Feldern hergestellt werden. Die verschiedenen Ansätze der Geschlechtertheorien lassen sich auch auf verschiedene Analyseebenen beziehen.
Geschlechtsidentität bezeichnet die eigene Ein- und Zuordnung eines Individuums im Rahmen oder außerhalb der Geschlechterdualität und die Internalisierung entsprechender Normen und Verhaltensweisen. Geschlechterbeziehungen bezeichnen das Miteinander-Umgehen von Männern und Frauen, das private und öffentliche Verhalten konkreter Personen. Geschlechterbeziehungen können begrenzt durch individuelles Verhalten verändert werden, sie sind beeinflußt von der Geschlechtsidentität. Die verbreitete Erfahrung aus den Geschlechterbeziehungen ist von großer Bedeutung für die Bündnisstrategien in der Frauen- und Geschlechterpolitik. Ob ein politisches Zusammengehen mit Männern für Frauen überhaupt als politische Strategie denkbar ist oder nicht, hängt im wesentlichen nicht von der Einschätzung der Geschlechterverhältnisse ab, sondern eher von den konkreten Bedingungen der politischen Orte. Geschlechterverhältnisse bezeichnen die gesellschaftlichen Strukturen, Institutionen und Mechanismen, durch die die beiden Geschlechter definiert und einander zugeordnet werden, durch die sie hierarchisiert werden. Geschlechterverhältnisse lassen sich in theoretischer und historischer Perspektive in ihrem Wandel erkennen. Während die Geschlechterbeziehungen kulturell heterogen sind, ist das hierarchische Geschlechterverhältnis weitaus eindeutiger. Erklärte Geschlechterpolitik ist getragen von den individuellen Erfahrungen aus den Geschlechterbeziehungen und den Erkenntnissen über die Geschlechterverhältnisse. Ihr Ziel ist es, die Geschlechterverhältnisse nach einer bestimmten Vorstellung zu gestalten oder sie so zu belassen. Weil das hierarchische Geschlechterverhältnis ein wesentlicher Bestandteil der gesellschaftlichen Verhältnisse ist, betrifft jede Art der politischen Gestaltung oder Veränderung dieser Verhältnisse auch das Geschlechterverhältnis, direkt und ausgewiesen oder indirekt und unausgewiesen. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 1999 |