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Nikolaos van Dam

Fünfzehn Jahre Bündnis für Arbeit in den Niederlanden


Am Montag dieser Woche [ am 5. Juli 1999] hat Bundesfinanzminister Hans Eichel mit dem niederländischen Finanzminister Gerrit Zalm ein ausführliches Gespräch über finanzpolitische Rezepte gegen die strukturellen Wirtschaftsprobleme geführt. Dabei hat Minister Eichel auch seine Sparpläne erläutert.

Der offene Meinungsaustausch, bei dem der niederländische Weg zur Sprache kam, hatte auch zum Ziel, die in der kurzen Ära Lafontaine entstandenen Kratzer an den guten Beziehungen zwischen Deutschland und den Niederlanden zu beseitigen.

Es ist ein bisschen länger her, da hat in Vorbereitung der Wirtschafts- und Währungsunion der heutige Präsident der Europäischen Zentralbank, Wim Duisenberg, vor der Friedrich-Ebert-Stiftung einen Vortrag gehalten. Damals - es war im März 1997- waren es die Niederlande, die die Ratspräsidentschaft innehatten, und in der Rede ging es bei der Frage um die Einführung des Euro besonders um die für die gemeinsame Währung erforderlichen Verbesserungen der wirtschaftlichen Situation in den Ländern der Gemeinschaft.

Zu jener Zeit war die Notwendigkeit eines Stabilitätspaktes in der Diskussion, und Duisenberg erläuterte anhand der niederländischen Erfahrungen seit 1982 - nunmehr also 17 Jahren - die großen Chancen für Stabilität, Wirtschaftswachstum und zunehmende Beschäftigung durch mehr Flexibilität auf den Arbeitsmärkten, Lohnmäßigung und Sanierung der Staatsfinanzen.

Seit der Rede haben Vertreter verschiedener Ministerien in Den Haag und der niederländischen Botschaft in Bonn landauf und landab in Deutschland in zahlreichen Gesprächen mit deutschen Entscheidungsträgern, in Artikeln und Vorträgen die niederländischen Reformen in der Wirtschaftspolitik seit dem sogenannten "Abkommen von Wassenaar" im Jahre 1982, dem ent-

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scheidenden Vertrag zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen, geschildert. Dabei ist stets zum Ausdruck gekommen, daß wir unseren typisch niederländischen Weg in keiner Weise als ein "Patentrezept" verstehen, das einfach auf andere Länder übertragbar wäre. Auch wurde immer wieder darauf verwiesen, daß auch wir noch immer "unterwegs" und keinesfalls an einem Ziel angekommen sind, um auszuruhen. Dies schon alleine deshalb nicht, weil in den Niederlanden das hohe Maß an Erwerbsunfähigen noch immer nicht hinreichend zurückgeführt werden konnte.

Soviel als Einführung, die mir wichtig erschien, um einem gewissen "déjà vu" beim einen oder anderen von Ihnen vorzubeugen, weil Sie bereits frühere Darlegungen zum niederländischen Bündnis für Arbeit gehört oder gelesen haben.

Was konkret stand denn nun im Wassenaarer Abkommen? Die niederländische Vereinigung von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen, die sogenannte "Stiftung der Arbeit", hatte am 24. November in einem Vorort von Den Haag, Wassenaar, zentrale Vorschläge zur zukünftigen Beschäftigungspolitik in einem eineinhalbseitigen Papier zusammengefaßt. Damals gab es in meinem Land eine rapide zunehmende Arbeitslosigkeit, jährlich gingen über 100 000 Arbeitsplätze verloren! In diesem Papier wurde zunächst einmal festgehalten, daß für eine strukturelle Verbesserung der Beschäftigungslage die Wiederherstellung des wirtschaftlichen Wachstums, ein stabiles Preisniveau und die Stärkung der Konkurrenzfähigkeit von Unternehmen durch die Verbesserung von deren Ertragslage nötig war. Die dafür erforderliche Sozial- und Wirtschaftspolitik sollte für mehrere Jahre festgeschrieben und die vorhandenen Arbeitsplätze durch Arbeitszeitverkürzung, Teilzeitarbeit und Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit besser verteilt werden. Diese bessere Verteilung sollte nicht zu Lasten der Betriebe gehen. Um sicherzustellen, daß schon 1983 mit dieser Politik begonnen werden konnte, wurde sogar vereinbart, bereits für 1983 in Tarifverträgen festgeschriebene Lohnansprüche auf Tarifvertragsniveau neu zu verhandeln. Die Stiftung richtete einen ausdrücklichen Appell an die Tarifvertragsparteien, die Bedingungen für die angestrebte Politik zu schaffen und appellierte an die Regierung zu ermöglichen, daß die Parteien - ich zitiere:- "in Freiheit auf Tarifvertragsniveau verhandeln können." Diese letztere Forderung ist für Sie sicher-

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lich nur verständlich, wenn Sie wissen, daß der niederländischen Regierung grundsätzlich die Verfügung eines Lohnstops zusteht.

Die Mitglieder der Stiftung für Arbeit erklärten sich im Gegenzug dazu bereit, die Regierung im Laufe des Frühjahrs 1983 "über die tatsächlichen Entwicklungen in den Lohntarifverhandlungen und deren Ergebnisse zu informieren."

Ich denke, die Besonderheit der Entwicklung in den Niederlanden liegt darin, daß sehr unterschiedliche Interessen durch diesen Beschluß zum Miteinander überbrückt wurden. In seiner bereits erwähnten Rede erläuterte Duisenberg den bei allen Beteiligten bestehenden Konsens darüber, daß eine über der Produktivitätsentwicklung liegende Lohnentwicklung ein nicht versiegender Quell der Vernichtung von Arbeitsplätzen ist und für lange Zeit das Vertrauen in die Wirtschaftsentwicklung untergräbt. Mit Sicherheit ist auch den niederländischen Gewerkschaften diese Erkenntnis nicht leicht gefallen.

Neben Lohn- und Arbeitsmarktpolitik begann zur selben Zeit mit wirklich harten Einschnitten bei den Staatsausgaben die Sanierung des Staatshaushalts. Die zuvor geführte Grundsatzdebatte, ob Sozialausgaben und öffentliche Investitionen in Zeiten wachsender Arbeitslosigkeit gekürzt werden dürften, war damit zu Ende. Und die Entwicklung hat den Sparern Recht gegeben, denn - hier berufe ich mich nochmals auf die Rede von Herrn Duisenberg - gerade "Maßnahmen, die auf den ersten Blick die soziale Marktwirtschaft einzuschränken scheinen, sind erforderlich, um diese funktionsfähig zu erhalten." Und weiter sagte er: "Zweitens beweisen die Erfahrungen in den Niederlanden, daß Sanierung und wirtschaftliches Wachstum einschließlich mehr Beschäftigung auf längere Sicht Hand in Hand gehen." Ich zitiere diese Aussage besonders deshalb, weil in der deutschen Diskussion oft zu hören war, Sparpolitik und die Schaffung von Arbeitsplätzen schlössen einander aus.

Die bisherigen Zitate, meine Damen und Herren, haben eines bereits ganz deutlich gemacht: Das Thema "Bündnis für Arbeit" beinhaltet in keiner Weise nur Fragen des Arbeitsmarktes wie etwa Tarifpolitik oder Subventionen für den Niedriglohnsektor, sondern umfaßt wie ein Räderwerk alle ineinander greifenden Teile der Wirtschaftspolitik, den Wettbewerb ebenso wie den Staatshaushalt, die Steuerpolitik wie alle Bereiche der Sozialpolitik.

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Auch Privatisierung und Deregulierung gehören dazu. Das aber dürfen Sie sich in keiner Weise wie einen Masterplan vorstellen, den einige kluge Köpfe vor 17 Jahren erfunden hätten und der dann über viele Jahre durchgeführt worden wäre. Vielmehr kam es durch den Beschluß zum Miteinander von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen zu immer neuen pragmatischen Schritten, die aufeinander aufbauten. Dabei bedeutet der viel zitierte Konsens keineswegs, daß es in meinem Land keine kontroversen Auseinandersetzungen gegeben hätte. Es gab aber auch Mittel, die man in Deutschland nicht kennt oder ausdrücklich ablehnt, wie das bereits genannte Recht der Regierung, einen Lohnstop zu verhängen, wenn sie der Auffassung war, daß die gesamtwirtschaftliche Entwicklung durch zu hohe Lohnabschlüsse in Gefahr geriet. Auch wenn hiervon kein Gebrauch gemacht wurde, schwebte diese Möglichkeit bei Verhandlungen wie ein Damoklesschwert über den Tarifparteien und hat - sozusagen als unsichtbarer Verhandlungspartner - mäßigend gewirkt.

Zum "Konsens" möchte ich aber auch noch eine sehr grundsätzliche Anmerkung machen. Wenn eine ganze Mannschaft zu ertrinken droht, wird sie sich sicher leichter dazu entschließen, die Rettungsboote zu besteigen, als in dem Fall, wo noch genügend Zeit besteht, unterschiedlichste Bootsmodelle zu begutachten und erst dann das liebste Gefährt auszusuchen. Mit anderen Worten: Die Lage war 1982 so prekär, daß unsere Gesellschaft wirtschaftlich zu ertrinken drohte: Eine tiefe Rezession, horrende Staatsverschuldung, schwindelerregende Steuerlasten auf Arbeit und Kapital und rapide steigende Arbeitslosenzahlen zwangen zum Handeln. Ein Beispiel zur Ausgangslage: Das Haushaltsdefizit lag mit 6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts doppelt so hoch wie die für die Wirtschafts- und Währungsunion festgelegte Höchstgrenze beträgt. Der Staat war als Kreditnehmer so unglaubwürdig geworden, daß man nur noch zu extrem hohen Zinsen Geld gab. Staatsobligationen mußten mit 12,3 Prozent verzinst werden!

Während sich also die Tarifpartner in Wassenaar auf eine Begrenzung von Lohnsteigerungen verständigten, begann das 1. Kabinett Ruud Lubbers mit so einschneidenden Strukturreformen, daß diese dem Premierminister in der internationalen Presse das Etikett "Ruud Shock" einbrachten.

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Die neue Wirtschaftspolitik bestand aus drei Elementen:

  • der Konsolidierung der Staatsfinanzen einschließlich tiefgreifender Einschnitte bei den Sozialversicherungen
  • der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit niederländischer Unternehmen durch Steuer- und Abgabenerleichterung
  • und als drittes Element: Beschäftigungsförderung.

Zunächst wurde der Staatshaushalt dadurch entlastet, daß zahlreiche Sozialleistungen von 80 auf 70 Prozent des letzten Lohnes reduziert wurden. Die Beamtenbezüge wurden um drei Prozent gekürzt. Gleichzeitig wurden alle Sozialleistungen, der Mindestlohn und Gehälter im öffentlichen Dienst für zehn Jahre eingefroren. Bis 1996 sanken die Staatsausgaben - bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt - um zehn Prozentpunkte auf europäisches Durchschnittsniveau. Wegen niedrigerer Ausgaben konnten Steuern und Sozialversicherungsprämien und gleichzeitig auch das Haushaltsdefizit heruntergeschraubt werden. Steuererleichterungen gab es zunächst für Unternehmen, dann aber auch für die Bürger, damit deren Kaufkraft nach den Einschnitten auf der Einkommensseite nicht unverhältnismäßig geschwächt wurde. Die Steuererleichterungen für Unternehmen sollten vor allem die Nettorendite kleiner und mittlerer Unternehmen verbessern und deren Eigenkapitalquote stärken. Der Körperschaftssteuersatz wurde von 48 auf 42 und später 35 Prozent gesenkt. Dazu eine Anmerkung: wie Sie vielleicht wissen, gibt es in den Niederlanden keine Gewerbesteuer.

1990 wurde die Lohn- und Einkommenssteuer reformiert, indem jenseits eines Steuerfreibetrages drei Stufen eingeführt wurden, wobei die Sozialversicherungsprämien in die erste Stufe integriert wurden. Der Spitzensteuersatz sank von 72 auf 60 Prozent. Zusätzlich zu dieser Vereinfachung der Einkommenssteuer wurde die Mehrwertsteuer von 20 auf 17,5 Prozent gesenkt. Als neues fiskales Instrument kamen Umweltsteuern hinzu, um umweltschädliche Aktivitäten zu entmutigen. Derzeit ist eine weitere Einkommenssteuerreform mit einer deutlichen Absenkung des Spitzensteuersatzes in Planung, die 2001 in Kraft treten soll.

1994 führte das erste lila Kabinett die Politik zur Sanierung der Staatsfinanzen und Sozialversicherungssysteme fort. Premierminister Wim

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Kok, der selbst als ehemaliger Gewerkschaftsführer und später als Finanzminister alle Facetten der anstehenden Probleme kannte und der zu den Unterzeichnern des Vertrages von Wassenaar gehört hatte, begann zusätzlich mit institutionellen Reformen zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit und Deregulierung der Märkte.

Lassen Sie mich nachfolgend einige Änderungen aus dem Bereich der Sozialpolitik erläutern, die durchaus auch in meinem Land als - allerdings notwendige - "Grausamkeiten" gesehen wurden. Grundlinie der Änderungen war es, daß strengere Kriterien für Unterstützungsleistungen eingeführt wurden. Es galt die Devise: Mehr Markt auf dem Arbeitsmarkt und mehr Eigenleistung bei der sozialen Absicherung von Bedürftigen.

So wurde mit einer Verschärfung des Begriffs "passende Arbeit" verlangt, auch Arbeiten anzunehmen, die früher als unzumutbar gegolten hatten.

Die finanziellen Risiken für Krankheit oder Arbeitsunfähigkeit wurden zunehmend in die Hand der Arbeitgeber gelegt, die auch verpflichtet wurden, Risiken in ihrem Unternehmen aufzulisten und anzugeben. Seither verpflichtet das Bürgerliche Gesetzbuch Arbeitgeber im Krankheitsfall für einen Zeitraum von maximal 52 Wochen zur Zahlung von 70 Prozent des Lohnes. Gängige Praxis ist aber, daß in Tarifverträgen in der Regel die Lohnfortzahlung von 100 Prozent vereinbart wird. Den Arbeitgebern wurde die Möglichkeit eingeräumt, sich gegen das Krankheitsrisiko bei Privatversicherungen rückzuversichern. Je niedriger der Krankenstand in einem Unternehmen, desto geringer sind die Versicherungsprämien. Dieses System gilt als Anreiz für Unternehmer, für einen niedrigen Krankenstand zu sorgen.

Wesentlich für eine verbesserte Sozialpolitik erscheint mir auch die organisatorische Änderung hin zur sogenannten "Ein-Schalter-Politik". Diese besagt, daß die Wiedereingliederung ins Erwerbsleben und die Bewilligung von Sozialleistungen bei einer Instanz liegen. Arbeitslose werden von derselben Person betreut, aber auch kontrolliert.

Auch der lange bestehende "gemeinschaftliche medizinische Dienst" wurde abgeschafft, zu dessen Aufgaben es gehört hatte, arbeitsunfähige Personen medizinisch und psychisch zu betreuen und dazu auch das Ausmaß einer Arbeitsunfähigkeit festzustellen. Diese Aufgaben wurden auf

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Betriebsvereinigungen, in denen Arbeitgeber und Arbeitnehmer präsent sind, übertragen.

Es würde zu weit führen, hier alle organisatorischen und gesetzlichen Veränderungen in der Sozialpolitik allein aus den letzten Jahren aufzulisten. Stattdessen will ich noch einige wichtige Neuerungen in der Altersvorsorge einerseits und auf dem deregulierten Arbeitsmarkt andererseits zur Sprache bringen.

Viele von Ihnen haben sicherlich bereits vom "Cappuccino-Modell" gehört. Es ist ein Weg, um der Überforderung der Rentenkassen durch die steigende Lebenserwartung der Bevölkerung ohne eine Explosion der Rentenversicherungsprämien Rechnung zu tragen. Sie können hier sehr gut den Trend zu mehr Eigenverantwortung erkennen: Den Kaffee bietet in diesem Modell die Volksrente auf niedrigem Niveau. Die betriebliche Altersversorgung, in die während des Berufslebens bereits "Eigenleistung" einfließt, ist die Sahne, und durch private Zusatzversicherungen kann man noch Schokolade draufgeben.

Um Ihnen auch einmal ein paar Zahlen zu nennen: das Allgemeine Altersgesetz (AOW), das die Volksrente zu Anfang dieses Jahres angehoben hat, legt bei Vollendung des 65. Lebensjahres folgende Bruttorenten fest, die 70 Prozent beziehungsweise 90 Prozent des niederländischen Nettomindestlohnes betragen. Es sind 70 Prozent für Alleinstehende und 90 Prozent für Alleinerziehende. Danach erhalten Alleinstehende brutto 1.685 Gulden monatlich, Alleinerziehende bekommen 2.088 Gulden und Verheiratete oder Zusammenlebende im Regelfall je 1.162 Gulden. Zusätzlich werden unterschiedliche Beträge als Urlaubsgeld gewährt. Personen, die zwischen der Vollendung ihres 15. und 65. Lebensjahres nicht ununterbrochen nach dem Allgemeinen Altersgesetz versichert waren, haben keinen Anspruch auf eine volle Volksrente. Der volle Betrag der Volksrente wird dann für jedes fehlende Versicherungsjahr um 2 Prozent gekürzt.

Nun aber noch zum Arbeitsmarkt, dessen positive Entwicklung einer der wichtigsten Gründe für das rege Interesse am "niederländischen Modell" im Ausland ist. Der Zuwachs an Arbeitsplätzen war in den letzten 12 Jahren in meinem Land nämlich deutlich größer als anderswo in Europa. Die Arbeitslosenquote sank von 11 Prozent im Jahre 1983 erst nach längeren

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Sanierungsmaßnahmen zunächst allmählich, dann jedoch beschleunigt auf 3,5 Prozent im Frühjahr dieses Jahres. Auch der Anteil Langzeitarbeitsloser nahm ab, jedoch nicht im erstrebenswerten Maße. Hier zeigt sich dasselbe Problem wie in anderen Industrieländern: Arbeitsplätze kommen zum größten Teil den besser Ausgebildeten zugute. Es besteht noch immer ein Mangel an einfachen Beschäftigungen, auf die vor allem Langzeitarbeitslose angewiesen sind.

Hohen Bekanntheitsgrad hat auch die große Akzeptanz von Teilzeitarbeit in den Niederlanden. Insgesamt arbeiten etwa 37 Prozent der Berufstätigen bei uns in Teilzeitarbeit. Innerhalb der OECD ist das die Spitzenposition. Nicht nur Frauen - es sind dies 67 Prozent, sondern auch 17 Prozent der erwerbstätigen Männer nehmen die Gelegenheit wahr, auf diese Weise der Doppelrolle zu Hause und im Beruf besser gerecht werden zu können oder aber neben dem Job an einer Weiterbildungsmaßnahme teilzunehmen. Dazu verhilft ihnen die vor vier Jahren getroffene Vereinbarung der Tarifvertragsparteien über ein relatives "Recht auf Teilzeitarbeit", gegen das der Arbeitgeber nur zwingende betriebliche Gründe geltend machen kann. Vielleicht ist es eine kulturelle Besonderheit, daß in den Niederlanden der Arbeitsplatz höher bewertet wird als das Einkommen. Dabei läßt sich diese Haltung nicht etwa mit größerer Wohlhabenheit begründen: Auch nach der deutschen Einheit liegt das Pro-Kopf-Einkommen in Deutschland noch deutlich höher als in den Niederlanden.

Bei einer Erwerbstätigenzahl von 6,5 Millionen arbeiten derzeit in den Niederlanden fast 2 Millionen Menschen in Teilzeit. Im Vergleich zur Bundesrepublik könnte man einen Kulturunterschied nicht nur darin sehen, daß Arbeit höher bewertet wird als Einkommen, sondern auch darin, daß Niederländer in der Akzeptanz durchgreifender Reformen leidensfähiger zu sein scheinen als die Deutschen.

Zu Beginn dieses Jahres trat ein neues Gesetz "Flexibilität und Sicherheit" in Kraft, dessen Ziel es ist, ein Gleichgewicht zwischen Flexibilität für Unternehmen und Sicherheit für Beschäftigung und Einkommen der Arbeitnehmer herzustellen. Dies gilt insbesondere für sogenannte Flexarbeiter, wie Abrufkräfte, Aushilfskräfte, Telearbeiter und Zeitarbeitnehmer. Der Schwerpunkt des Gesetzes besteht darin, daß Arbeitnehmer in einem Zeitarbeitsverhältnis nach 26 Wochen fest angestellt werden können. Damit wird die Zeitarbeitfirma zum Arbeitgeber. Nach Ablauf der

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26-Wochen-Frist darf der Zeitvertrag nur zu dem mit der Zeitarbeitfirma vereinbarten Termin beendet werden. Falls keine Arbeit vergeben werden kann, ist die Zeitarbeitfirma folglich zur Entgeltzahlung verpflichtet.

Ein weiteres Problem, das die Politiker aufgegriffen haben, ist der geringe Anteil älterer Menschen am Arbeitsprozeß. Trotz hoher Zuwanderung von Arbeitskräften und trotz des anhaltenden Trends, daß immer mehr Frauen einem Beruf nachgehen - trotz zusätzlicher Arbeitskräfte also - gibt es bei uns inzwischen in vielen Branchen einen Engpaß an Arbeitskräften. Die Erwerbstätigkeit von Frauen setzte übrigens in den Niederlanden sehr viel später ein als in Deutschland!

Obwohl die Lebenserwartung enorm gestiegen ist, sind in den Niederlanden nur relativ wenige Menschen über 55 Jahre in den Arbeitsprozeß integriert. Das veranlaßt nicht nur riesige Leistungen der Rentenkasse, sondern bedeutet auch einen Verlust an Know-How. Ziel der Politik ist deshalb eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit anstelle von Frühverrentung. Ich bin mir bewußt, daß diese Strategie im Gegensatz zu der in Deutschland stattfindenden Diskussion zum Thema Rentenalter steht.

Lassen Sie mich abschließend noch auf einen weiteren wichtigen Aspekt der Verbesserung des Arbeitsmarktes eingehen. Ausgehend von der Tatsache, daß mittlere und kleine Unternehmen an der Bereitstellung von Arbeitsplätzen in besonders hohem Maße beteiligt sind, wurde der Mittelstand zu einem besonderen Schwerpunkt der Wirtschaftspolitik. Bereits die erste Regierung Kok beschloß, Neugründungen zu erleichtern und Aufstiegsmöglichkeiten zu verbessern. Die Gewerbeordnung wurde dahingehend vereinfacht, daß die Zahl der Genehmigungsverfahren von 90 auf 8 gesenkt wurden. Die Ladenschlußzeiten wurden soweit liberalisiert, daß innerhalb bestimmter Grenzen Geschäfte auch abends und sonntags geöffnet sein dürfen. Es wurde damit begonnen, die Wettbewerbsgesetzgebung durch Angleichung an die europäische Praxis auf eine neue Grundlage zu stellen.

Es ist insgesamt in den Niederlanden gelungen, ein gutes wirtschaftliches Klima zu schaffen. Neu war dabei die staatliche Anerkennung des Unternehmertums als vitalem Faktor für Wirtschaftswachstum und Beschäftigung. Die Kluft zwischen Kapital und Arbeit besteht in den Niederlanden seit langem nicht mehr. Der Produktionsfaktor "Unternehmer" erfährt die

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Anerkennung, die ihm zukommt, weil er Absatzmöglichkeiten sucht, Risiken auf sich nimmt und Kapital, Technologie und Arbeit kombiniert.

Ich will nicht verhehlen, daß einige Auguren wegen des leergefegten Arbeitsmarktes schon die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale sehen. Sie werden gehört haben, daß inzwischen auch vermehrt deutsche Arbeitslose in den Niederlanden einen Job gefunden haben, obwohl die Löhne deutlich niedriger sind. Auch von der Exportseite gibt es aufgrund der bekannten internationalen Turbulenzen inzwischen Beeinträchtigungen für die Konjunktur. Dennoch ist die Wirtschaftsentwicklung insgesamt positiv. Besonders die private Nachfrage ist ein Motor unseres Wachstums. Hier wird deutlich: die in den Niederlanden über so viele Jahre betriebene Konsolidierungspolitik mit harten Eingriffen im sozialen Sektor hat die Konjunktur nicht abgewürgt, sondern deren ausgewogene Entwicklung erst ermöglicht.

Die Sanierung der Staatsfinanzen wird auch in den nächsten Jahren eine Daueraufgabe bleiben. Obwohl die Staatsverschuldung erheblich reduziert werden konnte, hat sie noch nicht das Maastrichter Gardemaß von 60 Prozent erreicht.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 2000

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