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4. Risikoarmut der Frauen durch geschlechtshierarchische Strukturen des Arbeitsmarktes und des Sozialstaates



4.1 Risikoarmut der Frauen trotz Erwerbsarbeit 4.1.1 Risikoarmut als „working poor"

Die Einkommensdifferenz zwischen Männern und Frauen liegt in der Bundesrepublik immer noch bei ca. 30 Prozent (Bruttostundenlöhne im gewerblichen Bereich: Männer 26,59 DM, Frauen 19,73 DM). Sie droht noch zu steigen, weil die westdeutschen Tarife noch nicht in vollem Umfang auf Ostdeutschland übertragen sind. Darüber hinaus scheint es einen Trend in der Gruppe der Arbeiterinnen zu geben, der bisher zunächst nur für NRW empirisch nachgewiesen ist. Trotz besserer Qualifikation verschlechtert sich die Position der Frauen in der Erwerbsarbeit im Laufe der Jahre. Waren 1966 von 100 Industriearbeiterinnen noch 46 in der niedrigsten Lohngruppe eingruppiert, waren es 1992 bereits 64 Arbeiterinnen (zum Vergleich Männer 1966: 13 Prozent, 1992: 12 Prozent) (Frauen in NRW 1994). An der unteren Schwelle der Tarife und in den Niedriglohnbranchen, die vor allem Frauen beschäftigen, ergibt sich aus dieser Lohndrift ein Armutsrisiko. Die Tatsache, daß jemand trotz einer Vollzeitbeschäftigung an die Armutsgrenze kommt, wird als Skandal immer noch verschleiert. Erst recht wird vertuscht, daß es sich dabei überproportional um Frauen handelt. Erste europaweite Analysen zeigen das Ausmaß: 1990 gab es in der Bundesrepublik fast 2 Millionen Frauen, und das ist fast ein Drittel aller volltags erwerbstätigen Frauen, die ein Einkommen bezogen, das nicht einmal 50 Prozent des durchschnittlichen Einkommens aller Vollerwerbstätigen betrug (Schäfer 1996). Das niedrige Arbeitseinkommen führt nun nicht automatisch zur Armut im Sinne des Bundessozialhilfegesetzes, weil verfügbares, bedarfsgerichtetes Einkommen im Haushalt zur Bezugsgröße herangezogen wird. Das heißt, die Frauen, die als „working poor" zu bezeichnen sind, werden nicht als arm wahrgenommen, wenn die Definition der Armut sich auf das gesamte Haushaltseinkommen bezieht. Allerdings sind sie arm im Sinne einer individuell betrachteten Lebenssituation, eine Betrachtungsweise, die gerade bei verheirateten Frauen selten angelegt wird.

Die statistischen Größen, mit denen das Phänomen der „working poor" zu erfassen ist, lassen sich variieren: je nachdem, ob man den durchschnittlichen Wert aller Vollbeschäftigten oder den medialen zugrundelegt, je nachdem, ob man den männlichen Durchschnittsverdienst, den weiblichen oder den aller Vollerwerbstätigen als Kriterium heranzieht. Wählt man als Schwellenwert den Median des Einkommens aller Vollzeiterwerbstätigen, fallen 6,5 Prozent der Vollzeitbeschäftigten, das sind 1,2 Millionen Personen, darunter. 80 Prozent von ihnen sind Frauen, davon 70 Prozent aus Dienstleistungsberufen, insbesondere dem Handel, Gaststätten- und Beherbergungsgewerbe, dem Gesundheitsgewerbe, dem Reinigungsgewerbe, der Nahrungs- und Genußmittelindustrie und dem Textil- und Bekleidungsgewerbe. Unabhängig von diesen statistischen Differenzierungen läßt sich nicht mehr übersehen: Die Armut trotz Vollerwerbstätigkeit trifft in extrem hohem Ausmaß die Frauen. Sie sind überproportional in den je unteren Tarifgruppen eingruppiert und arbeiten in Niedriglohnbranchen. Beide Phänomene sind Ausdruck der geschlechtshierarchischen Strukturierung des Erwerbsarbeitsmarktes, in dem nicht etwa nach Leistung, sondern zunächst nach Geschlecht Zugänge eröffnet und verbaut werden. Tarifsysteme und Tarifierung von Arbeiten nach Branchen folgen dem Ernährerprinzip, und Arbeitsplätze werden nach Geschlechtern getrennt zugewiesen. Diese

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geschlechtsspezifische Diskriminierung führt dort, wo eh wenig materielle Ressourcen fließen, zu Risikoarmut der beschäftigten Frauen und trifft sie unabhängig davon, ob sie einen Ernährer haben, ob sie Kinder zu versorgen haben oder ob sie Pflegearbeit leisten. Qua Geschlecht erhalten sie Arbeitsplätze, an denen sie nicht nur weniger Lohn als Männer an ihren Arbeitsplätzen bekommen, sondern zu wenig, um die eigene Existenz daraus zu sichern. Ein Mindestlohn - ob nun gesetzlich oder tariflich durchzusetzen, sei dahingestellt - käme zunächst den Frauen, die als „working poor" zu bezeichnen sind, zugute.

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4.1.2 Risikoarmut als geringfügig Beschäftigte

Ca. 1,4 Millionen Frauen sind ausschließlich geringfügig beschäftigt. Zwei Drittel aller ausschließlich geringfügig beschäftigten Frauen sind Hausfrauen. Die Expansion dieser Beschäftigung ist ungebrochen, insbesondere die geringfügige Beschäftigung von Frauen hat zwischen 1987 und 1992 um 35% zugenommen. Hohe Zuwächse in den ohnehin besonders betroffenen Branchen Handel und Gaststättengewerbe sind auch in den Privathaushalten zu verzeichnen (Weinkopf 1997). Geringfügige Beschäftigung ist ein Armutsrisiko für Frauen. Der Verdienst aus der Arbeit ist gering, wegen der niedrigen Bewertung der Arbeiten, die in geringfügiger Beschäftigung angeboten werden, wie Putzen und einfache Dienstleistungsarbeit und wegen der niedrigen Stundenzahl, in der diese Arbeiten geleistet werden, obwohl relativ häufig die Gesamtstundenzahl einer einzelnen Frau sehr viel höher liegt als ihr je einzelnes Beschäftigungsverhältnis ausweist. Geringfügige Beschäftigung ist die einzige Erwerbsarbeitsform, in der prinzipiell alle Sicherungssysteme von vornherein ausgeschlossen sind: eine typische Arbeit für eine Ehefrau, die über ihren Ernährer als abgesichert gilt, ohne zu berücksichtigen, daß sie mit diesem Status unter ein Armutsrisiko fällt (vgl. Punkt 3.). Eine besondere soziale Härte besitzt das ungeschützte Arbeitsverhältnis dadurch, daß die Frauen bei der prekären Eingebundenheit in das Erwerbsarbeitssystem weiterhin auf den Ernährer angewiesen bleiben. Sie erhalten zwar einen direkt verwertbaren Verdienst, aber die gesamte strukturelle Risikovorsorge aus der Erwerbsarbeit wird ihnen vorenthalten. Einen deutlicheren Beleg für die androzentrische Struktur des Erwerbsarbeitssystems gibt es kaum: Nur wer eine bestimmte Stundenzahl übersteigende Erwerbsarbeit leistet und dabei ein bestimmtes Lohnniveau erreicht, wird als Mitglied im Erwerbsarbeitssystem akzeptiert. Damit werden Standards der männlichen Normalbiographie verallgemeinert, und die Tatsache, daß Frauen mit der ihnen eigenen Normalbiographie ihnen nicht genügen können, als Randproblem gehandelt.

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4.1.2 Risikoarmut von Frauen durch androzentrische Altersversorgungssysteme

Die niedrige Rentenversicherung alter Frauen ist oft beschrieben worden, die Durchschnittsregelrente lag 1995 für Männer bei 2.019 DM, für Frauen bei 960 DM (BfA-Geschäftsbericht). Bedingt durch Arbeit in Niedriglohngruppen und -branchen und durch längerfristige Unterbrechungen zur Kinderbetreuung, Alten- und Krankenpflege, durch Teilzeitarbeit und Schwierigkeiten bei der Wiedereingliederung, die, wenn überhaupt, oft nicht mehr qualifikationsgerecht gelingt, erhalten Frauen relativ weniger Altersrente als Männer und je nach beruflicher Position und Ehestatus sogar weniger als ihnen staatlicherseits als Existenzminimum zugestanden wird. Fehlt eine Sicherung über den Ehemann und dessen Unterhalt oder eine Witwenrente, sind die Frauen arm.

Aber auch betriebliche Alterssicherungssysteme leisten für Frauen weniger materielle Sicherheit. An den Stellen, an denen Frauen erwerbsarbeiten, sind häufig die betrieb

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liehen Altersversorgungssysteme entweder gar nicht aufgebaut oder materiell viel schlechter ausgestattet (Allmendinger 1996). So haben eine betriebliche Zusatzversicherung: in der Industrie 72 Prozent aller Erwerbstätigen, im Einzelhandel aber nur 26 Prozent; in Großbetrieben mit über 10.000 Beschäftigten 83 Prozent aller Beschäftigen, in Kleinbetrieben mit weniger als 10 Beschäftigten aber nur 12 Prozent. Frauen arbeiten überwiegend im Einzelhandel und in Kleinbetrieben. Während im Bankgewerbe ca. 15,50 DM pro 100 Mark für die betriebliche Altersversorgung vorgesehen ist, beträgt diese Summe im Einzelhandel nur durchschnittlich 3,70 DM. Durch spezifische Voraussetzungen für die Anwartschaft auf betriebliche Altersversorgung werden Frauen eher ausgegrenzt als Männer, weil oft Alter und ununterbrochene Betriebszugehörigkeit eine Rolle spielen. Das bedeutet, daß die Frauen, denen bereits durch relativ geringe Löhne eine niedrigere gesetzliche Rentenversicherungsleistung zusteht, auch durch betriebliche Versorgungssysteme der Altersarmut kaum entgehen können.

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4.1.3 Risikoarmut durch androzentrische Strukturen erwerbsarbeitsbezogener Sicherungssysteme

Die Strukturen der sozialen Sicherungssysteme, die das Risiko der Erwerbslosigkeit absichern sollen, bergen für Frauen ein Armutsrisiko. Frauen verlieren häufiger ihren Arbeitsplatz als Männer, insbesondere in Phasen des sogenannten Strukturwandels, wie er sich in Ostdeutschland vollzog: Die Arbeitslosenquote betrug im September 1996 im Westen bei Männern und Frauen je 10 Prozent, im Osten jedoch bei Männern 12,3 Prozent und bei Frauen 19,4 Prozent. In dieser hohen Diskrepanz zwischen Männern und Frauen drückt sich der selbstverständliche Anspruch der Ost-Frauen auf Erwerbsarbeit aus. Die niedrige Arbeitslosenquote im Westen ist nämlich auch auf dem Hintergrund der sogenannten stillen Reserve zu sehen, zu der auch die Frauen gehören, die gar keine Hoffnung auf einen Erwerbsarbeitsplatz haben und sich deswegen auch nicht arbeitslos melden.

Bei betrieblich bedingten Entlassungen sind Frauen im Zweifelsfall stärker und nicht zuletzt immer noch mit dem Verweis auf einen Ernährer betroffen. Damit geraten sie in das für sie typische Armutsrisiko als nichterwerbstätige Ehefrau. Ebenso sind Frauen bei betrieblichen Risikosicherungen in Form von Abfindungen oft weniger gut gestellt als Männer: Entweder fallen sie bei Frauen ganz weg, weil sie z.B. nur Teilzeitbeschäftigte waren, oder sie fallen geringer aus, weil sie an Kriterien wie Dauer der Betriebszugehörigkeit bzw. an das Lohnniveau gebunden sind.

Zunächst bedingt durch die niedrigen Löhne in den untersten Lohn- und Gehaltsgruppen und generell in Frauenbranchen liegen die auf Prozentbasis errechneten Zahlungen aus der Arbeitslosenversicherung oft so niedrig, daß die Frauen einen Anspruch auf Sozialhilfe hätten - wenn ihnen nicht das Einkommen des Ehemannes angerechnet würde. In Nordrhein-Westfalen erhielten 1993 38,2 Prozent der arbeitslos gemeldeten Frauen keine Unterstützung, während der Anteil bei den Männern nur bei 23,9 Prozent lag. Die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung, die für Männer eher eine existenzsichernde Erwerbsarbeit vorsieht, führt wiederum dazu, daß Frauen bei Erwerbslosigkeit vermehrt auf den Ehemann und sein Einkommen verwiesen werden.

Frauen, insbesondere im Osten, sind darüber hinaus länger erwerbslos als Männer, ihr Anteil an den Langzeitarbeitslosen im Osten beträgt 72,7 Prozent, im Westen nur 40 Prozent. Sie haben also weniger Chancen, nach einer Erwerbslosigkeit wieder einen Erwerbsarbeitsplatz zu erhalten. Daraus folgt, daß sie auch häufiger Arbeitslosenhilfe beziehen müssen. Auf diese haben sie aber nur Anspruch, wenn sie keine Unterhaltsan

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sprüche an einen Ernährer oder Verwandten besitzen. Ist dies der Fall, erhalten sie weder Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung noch aus der Sozialhilfe, und sie sind wiederum in die Abhängigkeit von Bezugspersonen gedrängt. Das ist aber relativ häufig der Fall: Von den insgesamt 557.679 Arbeitslosenhilfeempfängern im Februar 1995 waren nur 26,8 Prozent Frauen.

Wenn ihnen die Leistungen aus der Arbeitslosenhilfe nicht mehr zusteht, verlieren sie damit nicht nur materielle Mittel, sondern auch den Anspruch auf Umschulung, Fort- und Weiterbildung, also auf Hilfen, die dazu dienen, perspektivisch wieder selbständig für den eigenen Lebensunterhalt sorgen zu können. Hier beginnt eine Armutsspirale, die geschlechtsspezifische Züge trägt: Durch die Berücksichtigung des Unterhaltsanspruchs, den eher Frauen an Männer realisieren als Männer an Frauen, werden den Frauen auch die wenigen Perspektiven zur Verbesserung ihrer Erwerbsarbeitschancen genommen, Hausarbeit und ungeschützte Arbeit verbleiben als einzige Möglichkeit, bieten jedoch nur eine kurzfristige Möglichkeit, Armut zu vermeiden.

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4.2 Armutsrisiko für Frauen durch Erwerbsarbeitsverbote

Vielen ausländischen Frauen ist der Zugang zum Erwerbsarbeitsmarkt nur unter bestimmten Umständen erlaubt. Diejenigen, die eine Arbeitsgenehmigung benötigen und sie nur bekommen, wenn sie eine Aufenthaltsgenehmigung vorweisen können, gehen häufig eine Ehe ein, um die Aufenthaltsgenehmigung zu erwerben. Es liegt auf der Hand, daß diese Frauen besonders abhängig von ihrem Ehepartner sind. Aber auch ihre Absicherung über die Ehe ist sehr labil: Nach der Trennung oder Scheidung vom Ehemann wird ihr Aufenthaltsrecht beschränkt, es sei denn, sie leben länger als drei Jahre im Bundesgebiet. Viele sind auf Schwarzarbeit und/oder Prostitution verwiesen, um existieren zu können. Diejenigen, die im Erwerbsarbeitssystem einen legalen Platz erhalten, gehören in besonderem Ausmaß zu den „working poor", weil ihnen trotz oft vorhandener Qualifikation keine anderen Arbeitsplätze offen stehen als in den Branchen, in denen sehr wenig verdient wird. Ihre Chancen auf einen existenzsichernden Erwerbsarbeitsplatz werden durch betriebliche Personalpolitik noch einmal verschlechtert, denn in der Regel erhalten sie trotz guter Qualifikation nur Arbeitsplätze am unteren Rand des Beschäftigungssystems. Der Zwang zur Rückkehr wird dadurch verstärkt und die persönlichen Gründe und gesellschaftlichen Ursachen, die zur Migration geführt haben, spielen keine Rolle.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 1999

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