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5. Strategien der Armutsbekämpfung, die den Geschlechtervertrag verändern

[Seite der Druckausgabe: 24]

In der neueren Armutsforschung und in der sozialpolitischen Diskussion zur Armutsbekämpfung werden die Ursachen der Armut, die aus dem Geschlechtervertrag entstehen, in der Regel als „Erosion der Kernfamilie", „Pluralisierung der Lebensformen" oder schlicht als „familiäre Problematik" gekennzeichnet. Gleichzeitig werden oft, bezogen auf den Erwerbsarbeitsmarkt und die Sozialsysteme, Frauen als besondere Problemgruppe gekennzeichnet. Demgegenüber, so zeigt die hier vorgelegte Betrachtungsweise, hängen die Bereiche, nämlich der private, der erwerbswirtschaftliche und der sozialstaatlich abgesicherte eng miteinander zusammen und sind durch den traditionellen Geschlechtervertrag geprägt.

Die Privatisierung und Feminisierung der Haus- und Sorgearbeit für Kinder und Bedürftige und die selbstverständliche Mitversorgung von Ehemännern durch die Frauen bei gleichzeitiger gesellschaftlicher Unterbewertung dieser Arbeit, bilden die Quelle des spezifischen Armutsrisikos, das vorwiegend Frauen trifft.

Unter dieser Perspektive, die den herrschenden Geschlechtervertrag mit einbezieht, lassen sich folgende Aspekte in den gängigen Diskurs einbringen:

  • Wenn Massenarbeitslosigkeit als Hauptursache der Armut angesehen wird, so ist unter der Geschlechterperspektive diese Massenarbeitslosigkeit kein neues Phänomen. Die Erwerbsarbeitsplätze im Verhältnis zum Arbeitskräfteangebot sind nicht erst in den letzten Jahren zu knapp geworden, bereits die in den siebziger Jahren sogenannte Vollbeschäftigung basierte auf einer Verschleierung der Tatsache, daß die Nichterwerbsarbeit von Ehefrauen und Müttern als unhinterfragbare Konstante in die Betrachtung eingegangen war. Wenn heute von einer sogenannten erhöhten Erwerbsneigung der Frauen oder von einem Normalmaß weiblicher Erwerbsarbeit gesprochen wird, so liegt darin offenbar ein Staunen über die real festzustellende Tendenz, daß immer mehr Frauen, trotz der Privatisierung und Feminisierung der Sorgearbeit, ihren Anspruch auf Erwerbsarbeit und die damit verbundenen Möglichkeiten der eigenständigen materiellen Existenzsicherung einfordern und ihn vermehrt realisieren wollen. Das führt allerdings zu einer tiefen Krise des Erwerbsarbeitsmarktes, die nur durch Umverteilung von Lohn zugunsten der Frauen und Arbeitszeit zu Lasten der Männer zu bewältigen ist. Anderenfalls wächst das spezifische Armutsrisiko der Frauen noch weiter.
  • Wenn die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses als eine Ursache der Armut bezeichnet wird, so wird damit verschleiert, daß prekäre Beschäftigungsformen schon immer charakteristisch für Frauenbeschäftigung waren. Erst in den letzten Jahren hat die Deregulierungen auch die männlichen Beschäftigungsfelder getroffen. Prekäre Beschäftigungsformen von Frauen waren weniger als Problem denn als Normalität angesehen, denn Frauen galten immer noch pauschal als durch den Ehevertrag abgesichert. Daß diese Absicherung eine Scheinsicherheit darstellt, wird erst dann deutlich, wenn vermehrt Männer in diese Beschäftigungsformen fallen. Für Männer stellen sie nämlich eine doppelte Bedrohung dar: Einerseits wird ihre Rolle als Familienernährer in Frage gestellt, andererseits gelten sie nicht als selbstverständlich durch ihre Ehe als sozial gesichert. Nun wird an den Männern sichtbar, was für Frauen immer schon galt: das Armutsrisiko durch Prekärisierung der Erwerbsarbeitsverhältnisse.
  • Wenn die Pluralisierung der Lebensformen und damit die Tatsache, daß Kinder nicht nur in einer Ehe geboren werden oder daß sich Partner trennen, als Ursachen von Armut bezeichnet werden, so werden individuelle Lebensumstände anstelle des gesellschaftspolitischen Kontextes genannt. Eines der wichtigsten Strukturmerkmale dieser Gesellschaft ist nämlich die mangelhafte finanzielle Absicherung der privaten Betreuungsarbeit, die immer noch als Teil des Geschlechtervertrages von den in Abhängigkeit vom Hauptverdiener verbleibenden Frauen erwartet wird. Weder Kindergeld noch Erziehungsgeld, weder Unterhaltsansprüche noch die angebotene Infrastruktur zur Betreuung von Kindern und Bedürftigen reichen aus, um die Risikoarmut derjenigen, die die notwendige Betreuungsarbeit in dieser Gesellschaft leisten, zu beseitigen. Wer aus der traditionellen Kleinfamilienstruktur ausbricht, wird durch Armutsgefährdung bestraft. Der Hinweis auf die Pluralisierung der Lebensformen verschleiert aber auch die Tatsache, daß selbst diejenigen, die in der traditionellen Alleinverdienerfamilie leben, armutsgefährdet sind, wenn dieser Alleinverdiener zu den Niedrigverdienern gehört und zur Familie mehrere Kinder gehören.
  • Wenn Strukturmängel des sozialen Sicherungssystem als Ursache von Armut angenommen werden, so liegt aus der Geschlechterperspektive der Hauptmangel sozialer Sicherungssysteme in deren Orientierung am traditionellen Geschlechtervertrag, der nur für den Ehemann die lebenslange Vollerwerbstätigkeit mit einem ausreichenden Ernährerlohn vorsieht und nur die dementsprechenden Risiken mehr oder weniger ausreichend absichert. Frauen werden aufgrund ihrer anderen Erwerbsverläufe, ihrer unbezahlten Betreuungsarbeit und ihres niedrigeren Lohnniveaus dadurch systematisch zu den Benachteiligten, denen teilweise sogar nur abgeleitete Ansprüche zustehen. Wenn der Sozialstaat den Frauen, die Kinder alleine aufziehen wollen oder müssen, nur über das Sozialhilfesystem eine materielle Absicherung zum Existieren bietet, so wälzt er das Armutsrisiko, das aus der Privatisierung und Feminisierung der Betreuungsarbeit erwächst, auf die Frauen alleine ab. Nur durch einen Umbau der Sozialversicherungssysteme und bedarfsdeckende Infrastrukturangebote zu Kinderbetreuung kann dieses Armutsrisiko abgemildert werden. Die Privatisierung der Betreuungsarbeit muß bis zu einem bestimmten Punkt aufgehoben werden und die Väter und Männer in die zeitliche Zuständigkeit und Verantwortung dieser noch privat zu leistenden Betreuungsarbeit einbezogen werden. Anderenfalls verbleibt dieses Armutsrisiko allein bei den Frauen.
  • Wenn die Umverteilung durch Steuergesetzgebung zugunsten der Spitzeneinkommen als Ursache von Armut bezeichnet wird, so wird damit verschleiert, daß nicht nur die Armut, sondern auch der Reichtum geschlechtsspezifische Züge trägt. Der Frauenanteil an den Reichen liegt bei weniger als 20%, auch hierin ist eine Folge des Geschlechtervertrages zu sehen. Wenn konservative Steuergesetzgebung den Prozeß der Umverteilung von unten nach oben immer weiter befördert statt ihn zu stoppen, so ist dies auch ein Prozeß, der vor allem Männern immer mehr ökonomische Ressourcen zukommen läßt. Umgekehrt heißt das, daß jede Form der Trendwende in diesem Prozeß, also die gezielte Umverteilung von den Spitzenverdienern und den Reichen zu den Niedrigverdienern und Armen, immer auch gleichzeitig eine geschlechterpolitische Komponente besitzt: Es ist immer eine Umverteilung der materiellen Güter zugunsten von Frauen.

Die Bekämpfung von Armut erfordert eine Politik, die nicht etwa nur besondere Lebenslagen einzelner absichert und individuelle Notlagen bekämpft, so wie es das Sozialhilfesystem im engeren Sinne leisten soll, sondern eine integrierte Gesellschaftspolitik, die an

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den Ursachen der ungerechten materiellen und sozialen Lebenschancen auch zwischen den Geschlechtem ansetzt. Die unter dem Stichwort Sozialabbau gerade in den letzten Jahren von konservativen Kräften betriebene Politik hat die Lebenschancen gerade von Frauen weiter verschlechtert: Im System der Alterssicherung sind die Abhängigkeiten vom Ehevertrag nicht etwa gelockert worden, vielmehr sind die Ansprüche durch Erwerbsarbeit reduziert worden:

  • Die Erhöhung der Altersgrenze für den Rentenbezug ist nur vordergründig eine Gleichstellung der Geschlechter. Praktisch wirkt sie so, daß die Reduktion von Rentenansprüchen insbesondere Frauen trifft. Bei dem bereits heute schon so niedrigen Rentenniveau der Frauen erhöht ein 10-prozentiger Abbau, wie er vorgesehen ist, für viele Frauen das Armutsrisiko im Alter. Die Anerkennung und teilweise Bewertung der unbezahlten Arbeit wird gleichzeitig weiter zurückgestellt.
  • Die Reduzierung der Anerkennung von Ausbildungszeiten in der Rentenversicherung trifft jetzt, wo Frauen in dieser Hinsicht langsam mit den Männern gleichgestellt sind, gerade sie in ihren neu erworbenen Ansprüchen und bereitet die Altersarmut jüngerer Frauen vor.
  • Wenn Zeiten der Arbeitslosigkeit nicht mehr als Leistungsbezug in der Rente anerkannt werden, trifft auch dies verstärkt Frauen, da sie gerade begonnen haben, sich verstärkt als Arbeitslose zu melden. Im System der Arbeitsförderung werden die geschlechtsspezifischen Erwerbsarbeitschancen der Frauen weiter verschlechtert und damit die Verwiesenheit auf die Absicherung durch die Ehe verfestigt.
  • Der insbesondere für Frauen notwendige Einarbeitungszuschuß bei Wiedereingliederung wurde gestrichen, damit verschlechtern sich die Wiedereingliederungschancen von Frauen.
  • Die Aufweichung des Kündigungsschutzes in Kleinbetrieben trifft besonders Arbeitsverhältnisse von Frauen, weil sie überproportional in solchen Betrieben arbeiten.
  • Die Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall um 20 Prozent trifft vor allem Frauen, weil sie deutlich weniger verdienen als Männer, insbesondere wenn sie nicht Vollzeit arbeiten können.
  • Das Recht auf einen Kindergartenplatz, das sich nicht einmal auf eine ganztägige Kinderbetreuung der 3- bis 6jährigen bezieht, wird durch die Verschlechterung bzw. durch die Beibehaltung des viel zu geringen Angebotes zur Betreuung von Kleinst- und Schulkindern erkauft.

Demgegenüber zielen politische Schritte, die den Geschlechtervertrag verändern, auch auf die Armutsbekämpfung, insbesondere der Frauen:

  • Die Anhebung der unteren Einkommen durch einen gesetzlichen oder tariflichen Existenz- oder Mindestlohn steuert gegen das Ernährermodell.
  • Die Beschränkung der Familiensubsidiarität in den Sozialversicherungs- und Sozialhilfesystemen befreit Frauen aus der materiellen und sozialen Abhängigkeit von Ehemännern.
  • Die Einführung einer bedarfsorientierten Mindestsicherung für die privat geleistete Betreuungsarbeit an Kindern und Alten vermindert die Abhängigkeit derer, die sie tun, von persönlichen Beziehungen und verschiedenen staatlichen Stellen. In dieselbe Richtung wirkt die Veränderung der Unterhaltsansprüche, wenn sie nicht mehr auf
  • dem Tatbestand der Ehe gründen sondern auf dem der Erziehungs- oder Betreuungs- und Pflegearbeit.
  • Die ausreichende Sicherung von Infrastrukturangeboten für Betreuungsarbeit.
  • Die Einführung der Individualbesteuerung (Abschaffung des Ehegattensplittings sowie der Steuerklasse V) verstärkt die Möglichkeiten der eigenständigen Existenzsicherung, insbesondere der Frauen.
  • Der Aufbau einer eigenständigen Alterssicherung, die die gesellschaftlich notwendige Sorgearbeit berücksichtigt und angemessen bewertet, bewahrt insbesondere Frauen vor der Altersarmut.

Bei der Armutsbekämpfung geht es also nicht nur um die Umverteilung zwischen oben und unten, zwischen arm und reich, sondern auch um die Umverteilung materieller Ressourcen zwischen den Geschlechtern. Dazu muß sich das kulturelle Muster ihres Zusammenlebens verändern. Um das spezifische Armutsrisiko der Frauen zu vermeiden, muß das Problem der Versorgung und Betreuung der nachwachsenden Generation und der Alten und Pflegebedürftigen im Sinne der Gleichstellung der Geschlechter politisch gelöst werden, und die Arbeit, die Bezahlung und die Verantwortung zwischen den Geschlechtern gleich verteilt werden. Die Ehe nach dem Ernährermodell leistet dazu keinen Beitrag.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 1999

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