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Friedrich Heckmann: Ethnische Kolonien: Schonraum für Integration oder Verstärker der Ausgrenzung?



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Einführung

Ich beginne mit einigen historischen Anmerkungen. Die ersten beziehen sich auf die Geschichte des Ruhrgebiets.

Um „den alltäglichen Lebensbereich zu stabilisieren" und Anpassungsprobleme zu lösen, die sich in sprachlichen, sozialen, arbeitsbezogenen und rechtlichen Unsicherheiten äußerten, gründeten die nach 1870 ins Ruhrgebiet einwandernden Polen zunächst kirchliche Vereine. „Pflege des gemeinsamen Glaubens, heimatlicher Sitten und der Geselligkeit" waren die satzungsgemäßen Ziele dieser Vereine (vgl. Wehler 1966, S. 444f.). Später entwickelte sich eine Vielzahl weiterer interessen- und bedürfnisspezifischer polnischer Vereine: die Sokol (Turn-), Wahl-, Bildungs-, Jugend-, Frauen-, Mäßigkeits-, Schützen-, Lotterie-, Gesangs-, Theater-, Konsum-, Handwerker-, Volkslese- und andere Vereine; seit 1900 schlossen sie sich zu einzelnen Verbänden zusammen (vgl. Kaczmarek 1922, S. 41). Die nach dem Historiker Wehler bedeutendste organisatorische Leistung des westlichen Polentums war die 1902 begründete ZZP, die polnische Berufsvereinigung und Gewerkschaft der Bergleute und Hüttenarbeiter. Die ZZP begründete eine gemeinsame Kranken- und Sterbekasse und richtete Rechtshilfe- sowie Arbeitsplatzvermittlungsstellen ein. Ein entwickeltes polnisches Pressewesen versuchte die nationalkulturelle Identität der polnischen Migranten zu bewahren und zu stärken.

Jetzt zu einem anderen Fall: Über deutsche Nachbarschaften in Chicago gegen Ende des 19. Jahrhunderts schreibt Keil (1984, 404): „Hier fanden die Immigranten ein praktisch alle Ansprüche abdeckendes institutionelles Netz vor, das von lokalen Versicherungsgesellschaften bis zu Banken, von auf ethnische Produkte spezialisierten Lebensmittelläden bis zu Kneipen, von Kirchen bis zu Konfessionsschulen, von Turnvereinen bis zu Karnevalsgesellschaften, von Geheimlogen bis zu sozialistischen Klubs reichte. Für den neu ankommenden Einwanderer waren sie eine notwendige und willkommene,

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ihm in einer sonst fremden Umgebung Sicherheit gebende Auffangstation."

Diese Beispiele berichten von Formen ökonomischer, sozialer, kultureller, religiöser und politischer Selbstorganisation von Migranten in bestimmten räumlich-territorialen Einheiten.

Diese formellen und informellen Strukturen ethnischer Selbstorganisation von Migranten wollen wir als ethnische Kolonien bezeichnen.

Das Konzept der „Kolonie" knüpft an begrifflichen Traditionen der frühen Einwanderungsforschung an: Sozial-kulturelle, religiöse und politische Organisationen, gemeinsame Wohnbezirke wie auch die Einwanderergruppe selbst wurden in klassischen Einwanderungsländern als Einwandererkolonie bezeichnet. Das Wort „Kolonie" hat eine längere Begriffsgeschichte: Kolonie war in der Antike eine Gruppe von Menschen, die aus dem Mutterland auswanderte, um in anderen Territorien zu siedeln wie auch die Bezeichnung der Ansiedlung selbst, die über Handel und kulturelle Beziehungen locker mit dem Herkunftsland verbunden blieb. Im Römischen Reich wurden damit Veteranensiedlungen und Garnisonen zumeist in erobertem Gebiet benannt. Die gleichzeitige Bezeichnung der Ansiedlung, des eroberten Territoriums und der unterworfenen Bevölkerung wie auch der Gruppe der Auswanderer, Eroberer und Siedler und ihre sozialpolitische Organisation taucht auch im Koloniebegriff zur Zeit des Kolonialismus und Imperialismus wieder auf.

In der Gegenwart meint Kolonie auch die Bürger einer bestimmten Nationalität, die in einem fremden Land arbeiten und wohnen, aber ihre nationale Identität und einen bestimmten sozialkulturellen Zusammenhang bewahren. Der räumliche Aspekt hat sich in einem Begriff erhalten, der zur Zeit der schnellen Industrialisierung und Urbanisierung vor allem im westlichen Deutschland geprägt wurde: Kolonie war die „geschlossene Siedlung von Angehörigen eines Werks, die in der Regel außerhalb einer Ortschaft oder an ihrem Rand erbaut wurde" (Heinrichsbauer 1936, S. 25).

Im historischen Koloniebegriff sind also drei zusammengehörige Elemente enthalten: eine ausgewanderte Menschengruppe, die auf zunächst fremdem Territorium ihre nationale Identität erhält, die Formen ihrer ökonomischen und sozialkulturellen Organisation sowie ein Gebiet, in dem „gesiedelt" wird, ohne daß dies ein geschlossenes Siedlungsgebiet sein muß. Für die Ar

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beitsmigranten im 19. und 20. Jahrhundert heißt „siedeln" das Finden eines Arbeitsplatzes und einer Wohnung; auch sind ihrer ökonomischen Organisation enge Grenzen gesetzt; sie müssen sich weitgehend in bestehende ökonomische Verhältnisse und Organisationsformen einfügen. Ethnische Kolonie kann in Analysen von Prozessen der Arbeitsimmigration eine zusammenfassende Konzeption sein, welche verschiedene, auf der Basis von Selbstorganisation entstandene Beziehungsstrukturen unter Einwanderern in einer bestimmten räumlich-territorialen Einheit bezeichnet; „räumlich-territoriale Einheit" kann heißen sowohl Nachbarschaft, Stadtviertel, Stadtgebiet wie metropolitaner Raum; entscheidend ist, daß es möglich ist, in dem jeweiligen Raum soziale Beziehungen aufzubauen und zu erhalten.

Koloniebildung ist die freiwillige Aufnahme oder Weiterführung innerethnischer Beziehungen. Anders als beim Ghetto ist die Entwicklung eines sozial-kulturellen Eigensystems der Minderheit nicht notwendig mit der Existenz segregierter und/oder zusammenhängender Wohnbezirke verbunden, wenn auch diese der sozial-kulturellen Organisation der Minderheit förderlich sind. Die Freiwilligkeit ethnischer Koloniebildung zu betonen heißt nicht, bestimmte Zwangsmomente zu übersehen, die durch Probleme sozialer Akzeptanz oder Mechanismen des Wohnungsmarktes gegeben sein können.

Ghetto, der zweite zentrale Begriff unserer Diskussion, steht allerdings eindeutig für Zwangssegregation, für erzwungenen Ausschluß, ist aus moderner Sicht ein Begriff für einen zu kritisierenden Tatbestand. Wenn Elvis singt „In the Ghetto", sind damit kritikwürdige Verhältnisse gemeint, speziell der gesellschaftlichen Ausgrenzung der Schwarzen. Ghettos sind historisch Judenquartiere, wie sie im späten Mittelalter zur räumlichen und sozialen Trennung von Juden und Christen eingeführt wurden. Der Name Ghetto, der italienischen Ursprungs zu sein scheint, wurde zuerst im 16. Jahrhundert für entsprechende Quartiere von Juden in Venedig nachgewiesen (vgl. dtv Lexikon, Stichwort Ghetto). Ghettos waren der sichtbare Ausdruck für die gesellschaftliche und räumliche Ausgrenzung der Juden, die erst mit der Judenemanzipation seit dem 18. Jahrhundert nachließ.

Im folgenden möchte ich einige Anmerkungen machen zur Entstehung und Struktur ethnischer Kolonien. Ethnische Kolonien entstehen zum einen als institutionelle Antwort auf die Bedürfnisse der Migranten in der Migrations- und Minderheitensituation, zum andern als „Verpflanzung" und Fortsetzung sozialer Beziehungen, die bereits in der Herkunftsgesellschaft existier

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ten. Migration ist mit großen Unsicherheitsmomenten verbunden, mit der Destabilisierung von Verhaltensweisen und Selbstverständnissen; zugleich müssen für neuartige materielle und soziale Problemlagen neue Problemlösungen gefunden werden. Bei der „Verpflanzung" und Fortsetzung sozialer Beziehungen kommt der Verwandtschaft, die wir als ein erstes Strukturelement der ethnischen Kolonie diskutieren, eine überragende Bedeutung zu. Neben der Verwandtschaft unterscheiden wir als weitere Strukturelemente ethnischer Kolonien das Vereinswesen, religiöse Gemeinden, politische Organisationen, informelle soziale Verkehrskreise und Treffpunkte, spezifisch ethnische Medien, schließlich eine ethnische Ökonomie. Im folgenden gehe

ich auf verschiedene Institutionen der ethnischen Kolonie ein.

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Verwandtschaftssystem und Kettenmigration

Kettenwanderung ist ein wichtiges Begründungsmoment ethnischer Kolonien. Kettenwanderung ist eine Form der Wanderung, in welcher Migranten soziale Beziehungen zu bereits Ausgewanderten, die im Herkunftskontext begründet sind, vor allem Verwandtschaft und (frühere) Nachbarschaft, für ihren Migrationsprozeß nutzen: von den Ausgewanderten erfahren sie über Chancen, erhalten Hilfe für ihre Reise, für das Finden von Arbeitsplätzen und Wohnungen, auch für die Anpassung an die neue Umgebung. Beziehungen aus dem Herkunftskontext werden in die Einwanderungsgesellschaft „verpflanzt" bzw. am neuen Ort wiedererrichtet.

Kettenwanderung ist eine universelle und wahrscheinlich auch die quantitativ bedeutendste Form der Migration. Kamphoefner (1984) zeigt sie detailliert und eindrucksvoll für die deutsche Amerika-Auswanderung im 19. Jahrhundert. Das „verpflanzte Dorf" war ein weit verbreitetes Siedlungsmuster. Deutsche, die nach Amerika kamen, ohne irgend jemanden zu kennen, waren insgesamt nur eine kleine Minderheit (vgl. ebd., S. 337). Auffällig war auch die Stabilität lokaler und regionaler Konzentrationen über längere Zeiträume.

Für alle Einwanderungsländer gibt es zahlreiche Studien zur Bedeutung von Kettenwanderung und Netzwerken. Insgesamt läßt sich festhalten, daß Verwandtschaft und – in geringerem Maß – (frühere) Nachbarschaft die ersten Strukturelemente im Entstehungsprozeß von ethnischen Kolonien bei Arbeitsmigranten darstellen; hier liegen „Verpflanzungen" sozialer Bezie

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hungen aus dem Herkunftskontext in den Immigrationskontext vor; das bedeutet jedoch keineswegs, daß diese sozialen Beziehungen nach Art und Intensität nicht einem Wandel in der neuen Umgebung unterworfen sind.

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Vereine, politische Organisationen, religiöse Vereinigungen

Wird das Verwandtschaftssystem bei der Gründung der ethnischen Kolonie „verpflanzt" und neu strukturiert, entstehen dagegen Vereine, politische Organisationen und religiöse Vereinigungen als weitere Strukturelemente ethnischer Kolonien aus spezifischen Bedürfnissen in der Migrationssituation. Grundlegenden Orientierungs- und Existenzsicherungsbedürfnissen entsprach in der bundesdeutschen Immigrationssituation z.B. der Typus des Arbeitervereins, der die früheste Form von Vereinsgründungen von Migranten darstellte und eine Solidarfunktion für die neu Eingewanderten erfüllte.

Weitere wichtige Vereinstypen der ethnischen Kolonie sind der Elternverein, Regionalvereine, ethnische Sportvereine und „das Zentrum" als organisatorische und lokale Zusammenfassung vielfältiger Bedürfnisse, Interessen und Tätigkeiten auf ethnischer Grundlage (Kultur, Sport, gesellige Freizeitgestaltung). Zur Organisationsstruktur der ethnischen Kolonie gehören auch religiöse Vereinigungen und politische Gruppen, über die ich hier im einzelnen nichts sagen will. In jüngerer Zeit finden Prozesse einer weiteren Ausdifferenzierung des Vereinswesens entlang sozialstruktureller und generationsmäßiger Linien statt. So gibt es z.B. türkische Studenten- oder Architektenvereinigungen oder Organisationen von Selbständigen. Hierzu müßte näher geforscht werden.

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Ethnische Ökonomie als Strukturelement der Kolonie

Wenn man heute als Zypriot in London lebt, kann man fast alle wirtschaftlichen Dienstleistungen in Betrieben und Geschäften erhalten, die von anderen Zyprioten besessen und geführt werden. Das jedenfalls fand ein von der European Science Foundation gefördertes Projekt von Rex u.a. (1987) heraus.

Dieses Bild einer (fast) vollständigen ethnischen (Dienstleistungs-)Ökonomie, das wir auch aus der Arbeitsmigration in die Vereinigten Staaten kennen, läßt sich so in der Bundesrepublik nicht finden. Jedoch gibt es eine „Ergänzungsökonomie" bzw. ethnisch differenzierte Ergänzungsökonomien, die

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sich auf eine spezielle Nachfrage einstellen, die aus der Migrationssituation resultiert und die von einheimischen Anbietern nicht abgedeckt wird. Zu den wichtigsten Betrieben dieser Ergänzungsökonomie gehören Lebensmittelgeschäfte, Export-Import-Geschäfte, Videogeschäfte, Buchläden, Übersetzungsbüros, Banken, Reisebüros und Speditionen.

Von der auf eine jeweilige ethnische Gruppe ausgerichteten Ergänzungsökonomie läßt sich eine „Nischenökonomie" unterscheiden; ihr Angebot zielt primär auf die Nachfrage der Mehrheitsgesellschaft und umfaßt z.B. Restaurants, Schnellimbisse, Änderungsschneidereien, Autoreparaturwerkstätten oder Marktstände. Allerdings sind die Trennlinien zwischen Ergänzungs- und Nischenökonomie nicht immer sehr scharf.

Zur Struktur der ethnischen Kolonie abschließend noch zwei Bemerkungen:

  1. Als ethnische Institution zeigt sie zwar eine bestimmte ethnische Gemeinsamkeit, ist aber in sich stark, z.T. konflikthaft differenziert. Die häufig behauptete Homogenität der ethnischen Kolonie ist vor allem Resultat einer uniformierten Außensicht.
  2. Bedeutsam sind auch unterschiedliche Koloniestrukturen, die vom eher großstädtisch metropolitanen oder eher klein- bzw. mittelstädtischen Charakter des Umfeldes abhängen (Berlin-Bamberg).


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Funktionen ethnischer Kolonien

Ich komme jetzt zu bestimmten Funktionen oder Wirkungen ethnischer Koloniebildung. Ich unterscheide dabei Funktionen und Wirkungen ethnischer Koloniebildung, die sich auf die Persönlichkeit der Migranten, auf die ethnische Migrantengruppe wie auf das Verhältnis von Migranten und Mehrheit beziehen. Ich nenne Funktionen der „Neueinwandererhilfe", der Persönlichkeitsstabilisierung der Migranten, Selbsthilfefunktion und die Funktion der sozialen Kontrolle der ethnischen Kolonie; schließlich, auf das Verhältnis von Minderheit und Mehrheit bezogen, Funktionen der Interessenvertretung und Repräsentation.

Zur „Neueinwandererhilfe": Die Existenz einer ethnischen Kolonie bedeutet für Neuankommende, daß sie nicht in eine völlig unbekannte Umgebung kommen, sondern bestimmte Elemente des Vertrautens aus ihrem Herkunftskontext wiederfinden, wenn auch in modifizierter Form. Etwas zugespitzt

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formuliert: Es ist nicht die Einwanderungsgesellschaft, in welche Zuwanderer kommen, sondern die Einwanderergesellschaft im Einwanderungsland. Die ethnische Kolonie als Einwanderergesellschaft reduziert somit den „Kulturschock" und kann Neuankommenden zugleich bestimmte „praktische", kognitive und emotive Anpassungshilfen geben.

„Stabilisierung der Persönlichkeit" als Funktion ethnischer Kolonien für den einzelnen Minderheitenangehörigen gewinnt ihre Bedeutung vor dem Hintergrund vielfältiger Verunsicherungen, die mit Migration verbunden sind. Geht man von einem Bedürfnis von Menschen nach primärgruppenhaften Beziehungen, von dem Wunsch, nicht in Isolation zu leben, aus, stellen die verschiedenen Strukturen der ethnischen Kolonie ein „Angebot" bzw. die Möglichkeit dar, dieses Bedürfnis zu befriedigen. Ethnische Kolonien können zur Identitätssicherung der Migranten der ersten Generation beitragen.

Wo der Sozialstaat nicht ausreicht, um die mit der Migration und ihren Folgen verbundenen Problemlagen zu bewältigen, kann Selbsthilfe in Form kollektiver Solidarität der ethnischen Kolonie „einspringen".

Zur Funktion der sozialen Kontrolle: Die Mitgliedschaft in ethnischen Gemeinschaften bedeutet eine Form der sozialen Einbindung, die zur Vermeidung eines in der Migrantengruppe und/oder der Mehrheitsgesellschaft unerwünschten oder normverletzenden und abweichenden Verhaltens beitragen kann.

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Ethnische Kolonie oder Ghetto?

Ich komme nun zu politischen Implikationen und Bewertungen ethnischer Koloniebildung, die uns ja in dieser Tagung speziell interessiert.

Entscheidend für die zukünftige gesellschaftliche Stellung der Einwanderer wie für die Sozialstruktur des aufnehmenden Landes ist die Frage, ob die ethnische Kolonie eine Übergangsinstitution auf dem Weg zur Akkulturation ist oder ein Schritt zur Herausbildung und Befestigung ethnischer Minderheitenlagen und damit über Generationen zu einer ethnischen Heterogenisierung der Aufnahmegesellschaft führt. Vieles spricht dafür, die ethnische Kolonie als relativ stabile „Zwischenwelt" oder Übergangsform im Integrationsprozeß zu betrachten: Selbst bei relativer institutioneller Vollständigkeit ist die ethnische Kolonie keine selbstgenügsame oder gar autonome „Ge-

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sellschaft". Neben den Beziehungen zur Mehrheitsgesellschaft gibt es traditionelle Beziehungen (z.B. verwandtschaftliche Bindungen, finanzielle Transaktionen) oder neue Beziehungen zur Herkunftsgesellschaft (z.B. Eheschließungen mit Partnern aus dem Herkunftsland). Auch der Staat des Herkunftslandes, dessen Staatsbürgerschaft die Migranten zumeist behalten, nimmt über konsularische Aktivitäten Einfluß auf die ethnische Kolonie. Bei der zwar steigenden, aber nach wie vor sehr geringen Einbürgerungsrate in Deutschland behält der Herkunftsstaat ja auch rein rechtlich Zuständigkeiten für seine Staatsbürger, auch wenn dieses rechtliche Verhältnis und der Status als Ausländer zur erreichten Integration der Migranten häufig im Widerspruch stehen. Verstärkte Einbürgerung würde diese rechtliche Seite der Kolonie an Bedeutung verlieren lassen. In mittelfristiger Perspektive ist also die ethnische Kolonie in der Tat eine Art „Zwischenwelt".

Da diese „Zwischenwelt" ein Produkt von Bemühungen der Migranten ist, mit der Einwanderung verbundene Probleme in der neuen Umgebung zu lösen, wird die ethnische Kolonie mit deren Lösung oder auch nur Teillösung zu einer Übergangsinstitution. Nur wo kontinuierliche Neueinwanderung stattfindet, die die sich integrierenden Gruppen der Einwanderer ersetzt, erhält sich die Kolonie in ihrer überkommenen Struktur und Funktion. Schwächen sich die Bedürfnislagen ab, auf welche die ethnischen Institutionen eine „funktionale" Antwort darstellen, verliert die ethnische Kolonie an Bindewirkung, Organisierungskraft und Bedeutung.

Es können jedoch neue Motive und Lagen entstehen, die auch ohne stärkere Neueinwanderung zu einer Kontinuität bzw. zu einem Wiedererstarken ethnischer Selbstorganisation führen. Das hängt vor allem von grundlegenden Merkmalen des Verhältnisses von Mehrheitsgesellschaft und Migranten ab: Bei Geschlossenheit der Mehrheitsgesellschaft, bei ethnischen Vorurteilen und der Exklusion der Migranten von gesellschaftlichen Chancen und Positionen ist mit stabilen Strukturen von ethnischer Selbstorganisation zu rechnen, weil andere Organisationsformen den Migranten nicht oder zu wenig zugänglich sind und Selbstorganisation als Chance erscheint, durch ethnische Mobilisierung unerwünschte Verhältnisse und Kräftekonstellationen zu ändern. In Resultat beider Entwicklungen, kontinuierlicher Neuzuwanderung und mangelnder Offenheit der Aufnahmegesellschaft, kommt es zur Stabilisierung der Segmentationen, zu neuer ethnischer Minderheitenbildung im Nationalstaat.

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Handlungsalternativen in Deutschland

Staat und Gesellschaft in Deutschland stehen vor folgenden Fragen: Soll die entstandene ethnische Vielfalt und weitgehende ethnische Segmentierung beibehalten, ihrer spontanen Entwicklung überlassen, gefördert oder abgebaut werden? Was bedeutet ethnische Heterogenität als Quelle oder Bedingung möglicher gesellschaftlicher Konflikte? Was bedeutet sie für die Integration und Kohäsion von großen Bevölkerungen und gesamtgesellschaftlichen Strukturen? Auch der Inhalt des Nationskonzepts wird durch die Migration hinterfragt. Kann und soll es eine deutsche Nation von Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft geben?

Die Migranten stehen vor ähnlichen Fragen: Ist Minderheitenbildung auch für zukünftige Generationen ein erstrebenswertes Ziel? Oder ist Akkulturation und Bedeutungsrückgang der ethnischen Gruppen der bessere Weg?

Aus der Sicht der Aufnahmegesellschaft gibt es drei mögliche politische Handlungsstrategien gegenüber ethnischer Heterogenität:

  1. eine Politik der Befestigung und Förderung ethnischer Heterogenität und ethnischer Minderheiten;
  2. Akkulturations- und Integrationsstrategien zur Einebnung ethnischer Unterschiede;
  3. eine Ad-hoc-Politik, die durch eine Kontinuität von Ad-hoc-Reaktionen strukturelle Entscheidungsfragen „in der Schwebe" beläßt.

Die deutsche Politik gegenüber den Migranten kommt schon seit langem der „Ad-hoc-Politik" nahe: Es fehlt eine klare Analyse und Haltung gegenüber der entstandenen Einwanderungssituation; hinzukommen die spezifisch historisch begründeten Schwierigkeiten des Umgangs mit Nation und der Minderheitenthematik in Deutschland und widersprüchliche Politiken und Signale zwischen Integration und Ausgrenzung.

Eine Politik der Förderung ethnischer Heterogenität und Minderheitenbildung würde auf einen ethnischen Pluralismus bzw. „ethnischen Korporatismus" (Walzer 1983) abzielen: Staatliche Stellen und gesellschaftliche Institutionen ermutigen die ethnischen Gruppen, sich als solche zu organisieren, einen formell-rechtlichen Minderheitenstatus zu erreichen und ihr Gewicht damit in der Politik geltend zu machen. Eine Politik der Gruppen

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rechte und der auf Gruppen bezogenen Maßnahmen (affirmative action, Quoten) liegt auf der Linie einer solchen Politik. Ethnische Grenzen und kulturelle Differenzen werden dadurch intensiviert und institutionalisiert; ethnische Mitgliedschaften gewinnen an Bedeutung, denn die genannten Politiken benötigen die bestehenden ethnischen Gruppen als Definitions- und Zuweisungskriterien für ihre Maßnahmekataloge, d.h. sie bestätigen und bestärken die überkommene ethnische Gruppenstruktur: „Bei Vorliegen von Chancen auf individueller Ebene verlieren ethnische Differenzierungen immer mehr an Bedeutung; bei – nach ethnischer Zugehörigkeit – systematisch verteilten Chancen bleiben bzw. verstärken sich die Segmentationen" (Esser 1990, S. 75).

Die dritte Handlungsform gegenüber ethnischer Heterogenität in Einwanderungsgesellschaften hat Akkulturation und Integration mit der schrittweisen Reduzierung der spezifisch ethnischen Gruppenidentitäten zum Ziel. Akkulturation meint durch interethnische Kontakte und interkulturelles Lernen hervorgerufene Veränderungen von Verhaltensweisen, Werten, Normen, Einstellungen, Präferenzen, Denk- und Wahrnehmungsweisen. Akkulturation hat das Lernen bestimmter kultureller Qualifikationen, z.B. Sprache, zur Voraussetzung.

Bei interethnischen Beziehungen und Kulturkontakten verändern sich nicht nur Einzelpersonen, sondern auch Gruppen. Akkulturation auf der Ebene der Gruppe bedeutet eine Veränderung kollektiver Werte, Normen, Institutionen und Praktiken. Die Art kultureller Veränderungen verläuft bei interethnischen Beziehungen aufgrund der Macht- und Ressourcenverteilung zwischen den Gruppen generell in Richtung der Mehrheitsgesellschaft, aber keineswegs ausschließlich. Auch die Mehrheitskultur verändert sich durch den Kulturkontakt. Akkulturation heißt also wechselseitige, wenn auch nicht gleichgewichtige Beeinflussung und Veränderung, bedeutet Annäherungen der Minderheit an die Mehrheit, die aber auch Elemente der Minderheitenkultur aufnimmt.

Von diesem Modell einer Akkulturation aufgrund interethnischer Beziehungen und von Kulturkontakt sind Formen der Zwangsassimilierung strikt zu unterscheiden. Diese widerspricht nicht nur demokratischen Grundrechten, sondern erreicht auch häufig das Gegenteil dessen, was sie anstrebt. Aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft kann Akkulturation dagegen als Einladung, Austausch, Werbung um Übernahme und Herausbildung neuer kultureller

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Muster praktiziert werden. Sie beläßt ethnische Praktiken im Privatraum und im Raum privater Organisierung. In den öffentlich-staatlichen Institutionen, bei der Arbeit, im Erziehungs- und Bildungssystem werden Akkulturationsstrategien verfolgt. Die bestehende ethnische Heterogenität wird als eine gesellschaftliche Übergangsform in einem – Generationen übergreifenden – Integrationsprozeß verstanden, in dem sich unterschiedliche ethnische Identitäten schließlich in private Herkunftsorientierungen verwandeln.

Der Erfolg von Akkulturationsstrategien ist entscheidend gebunden an die Offenheit der Mehrheitsgesellschaft. Der Erfolg von Akkulturationsstrategie ist aber auch gebunden an die rechtliche und politische „Freigabe" der Migranten durch das Herkunftsland. Das Herkunftsland muß die soziale Tatsache von Auswanderung und neuer Zugehörigkeit anerkennen; zu engen Beziehungen zwischen Migranten und Herkunftsland ist dies kein Widerspruch, sondern bedeutet sogar eine Chance für das Einwanderungsland und die Beziehungen zwischen Herkunftsland und Einwanderungsland.

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Politische Empfehlungen

Grundlegend ist zunächst eine wichtige Unterscheidung: Es gibt multi-ethnische Gesellschaften, in denen unterschiedliche Ethnizität mit historisch begründeter Territorialität verbunden ist, Gesellschaften, in denen ethnisch unterschiedliche Siedlungsräume (neben ethnisch vermischten) existieren. Und es gibt multi-ethnische Gesellschaften, in denen zusätzlich oder allein ethnische Vielfalt ein Resultat jüngerer Migrationsprozesse ist und klare Beziehungen zwischen Territorialität und Ethnizität nicht existieren. Im ersteren Fall würden Assimilierungsversuche durch eine vorherrschende Gruppe als ethnische Unterdrückung und „kulturelle Vertreibung" begriffen werden, gegen die den betroffenen Gruppen Widerstand (häufig unter Einschluß von Gewalt) geboten erscheint. Nationale Gemeinsamkeit in Staaten mit ethnisch heterogenen Territorialgruppen kann über gemeinsame wirtschaftliche, politische Institutionen und Erfahrungen hergestellt werden oder bewahrt bleiben auf der Basis eines politischen Nationskonzepts, das ethnische Vielfalt als gegeben anerkennt. Nation ist dabei ein Bündnis verschiedener ethnischer Gruppen.

Multiethnizität aufgrund von Zuwanderung ist eine andere Struktur. Es fehlt die geschichtliche, territoriale, politische und rechtliche Basis autochthoner

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Minderheiten oder ethnischer „Teilnationen". Auch sind die Motive der Zuwanderer primär auf eine Verbesserung ihrer sozial-ökonomischen Lage gerichtet, nicht auf das Erreichen ethnopolitischer Ziele. Für multi-ethnische Einwanderungsgesellschaften bieten sich andere Optionen an. Die wichtigste Folgerung aus unseren vorhergehenden Analysen mündet ein in die politische Empfehlung, in multiethnischen Einwanderungsgesellschaften Akkulturationsstrategien statt Minderheitenförderung zu betreiben. Das Ethnische sollte im Privatbereich bleiben und hat in einer freien Gesellschaft dort seine Entfaltungsmöglichkeiten. Ethnische Koloniebildung kann aus dieser Sicht nur als Übergangsinstitution sinnvoll sein.

Auch im Hinblick auf eine Verbesserung der sozialökonomischen Lage der Migranten und auf die Einleitung von Mobilitätsprozessen ergibt sich eine kritische Haltung gegenüber einer Verfestigung von ethnischer Heterogenität. Besonders bei relativer Vollständigkeit der ethnischen Organisierung besteht die Gefahr einer ethnischen Selbstgenügsamkeit, die ein für das Aufbrechen ethnischer Schichtung und für soziale Mobilität notwendiges Aufnehmen außerethnischer Kontakte und die Qualifizierung für einen universalistischen Wettbewerb behindert. Das Vorhandensein ethnischer Strukturen entbindet von der Notwendigkeit, Kontakte außerhalb der eigenen Gruppe zu suchen, erschwert die Bildung der für Aktivitäten in der Gesamtgesellschaft notwendigen kommunikativen Qualifikationen, behindert Eheschließungen über ethnische Grenzen hinweg, verstärkt mithin Faktoren, die das bestehende System ethnischer Ungleichheit und Schichtung reproduzieren. Akkulturation empfiehlt sich darum für die Erhöhung gesellschaftlicher Chancen der Migranten, besonders in bezug auf die zweite und dritte Generation.

Ein letzter Punkt betrifft das gesellschaftliche Konfliktpotential ethnischer Heterogenität. Die Möglichkeit ethnischer Konflikte beruht zunächst einmal auf der Existenz ethnischer Gruppen innerhalb staatlich verfaßter Gesellschaften. Die bloße Existenz ethnischer Gruppen allein ist zwar keineswegs gleichbedeutend mit Konflikt; aber sie beinhaltet die permanente Möglichkeit ethnischer Konflikte, die zu den leidenschaftlichsten und gewaltsamsten Konflikten gehören. Gesellschaftliche Probleme unterschiedlichster Art können ethnisiert werden, d.h. entlang ethnischer Linien definiert und ausgetragen werden.

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Ein abschließendes Wort: Integration durch Binnenintegration (Elwert) gilt nur für die erste Migrantengeneration. Ethnische Kolonien drohen zu Ghettos zu werden, wenn sie sich über Genrationen verfestigen, die sozialen Chancen der den Migranten nachfolgenden Generationen bedrohen und ein gesamtgesellschaftliches Konfliktpotential darstellen.

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Literatur

Esser, H. (1990): Nur eine Frage der Zeit? Zur Frage der Eingliederung von Migranten im Generationenzyklus und zu einer Möglichkeit, Unterschiede hierin theoretisch zu erklären, in: ders. und J. Friedrichs (Hrsg.), Generation und Identität, Opladen, S. 3–100.

Heinrichsbauer, A. (1936): Industrielle Siedlung im Ruhrgebiet in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Essen.

Kaczmarek, J. (1922): Die polnischen Arbeiter im Rheinisch-Westfälischen Industriegebiet. Eine Studie zum Problem der sozialen Anpassung. Dissertation, Universität Köln.

Kamphoefner, W.D. (1984): „Entwurzelt" oder „verpflanzt"? Zur Bedeutung der Kettenmigration für Einwandererakkulturation in Amerika, in: K.J. Bade (Hrsg.), Auswanderer, Wanderarbeiter, Gastarbeiter. Bevölkerung, Arbeitsmarkt und Wanderung in Deutschland seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Ostfildern, Band I, S. 321–349.

Keil, H. (1984): Die deutsche Amerikaeinwanderung im städtisch-industriellen Kontext: das Beispiel Chicago 1880–1940, in: K.J. Bade (Hrsg.), Auswanderer, Wanderarbeiter, Gastarbeiter. Bevölkerung, Arbeitsmarkt und Wanderung in Deutschland seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Ostfildern, Band I, S. 378–405.

Rex, J. u.a. (1987): Immigrant Associations in Europe, Aldershot/Brookfield/Hongkong/Sidney.

Wehler, H.U. (1966): Die Polen im Ruhrgebiet bis 1918, in ders. (Hrsg.), Moderne deutsche Sozialgeschichte, Köln/Berlin.


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