FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:




Wolfgang Thierse:
Ausländerfeindlichkeit im vereinten Deutschland


Wir haben janusgesichtige Jahre hinter uns: Aufbruch und Euphorie der Befreiung, der Einigung und infolge Enttäuschung, Resignation, Wut, Aggression, Gewalt. Die beiden vergangenen Jahre und die letzten Tage zumal erinnern uns Deutsche an unsere schrecklichsten Möglichkeiten. Für mich gehört es zu den bestürzendsten Erfahrungen, daß es so aussieht, daß die deutsche Einigung eine kollektive Erfahrung wiederholbar zu machen scheint, von der wir doch fest überzeugt waren, daß wir sie nie wieder machen würden. Niemals wieder könnten wir in Nationalismus, Chauvinismus, Gewalt zurückverfallen. Aber wir sehen, daß es solche Anfänge längst wieder gibt. Ausländische Mitbürger werden beschimpft und bedroht, geschlagen und getötet. Der Bundesinnenminister hat vor ein paar Wochen mitteilen lassen, daß im vergangenen Jahr 2.285 Gewalttaten mit erwiesener oder zu vermutender rechtsextremistischer Motivation registriert wurden. 54% mehr als 1991. 22 Menschen fielen diesen Anschlägen zum Opfer. In Rostock erreichten die Attacken gegen Asylbewerber eine neue Qualität. Bei Hoyerswerda erregten wir uns noch über die schweigende, fast noch verschämte Zustimmung. Aus Rostock hörten wir schon lautstarken, sehr vernehmbaren Beifall. Ich werde nie das Bild vergessen, das Sie vielleicht auch am Fernseher gesehen haben: ein junges hübsches Mädchen aus Rostock teilt geradezu strahlenden Gesichts seine Zustimmung zu Gewalttaten in die Fernsehkameras mit. Schließlich verhalfen die Morde von Mölln, diesem bis dato eher beschaulich unauffälligen Städtchen zu trauriger Berühmtheit und bildeten zugleich den vorletzten Höhepunkt einer besinnungslosen Raserei. Und jetzt Solingen: fünf verbrannte türkische Mitbürgerinnen. Und es geht weiter, jede Nacht. Als wäre Gewalt gegen ausländische Mitbürger eine ansteckende Krankheit. Aber so zu reden ist wohl schon wieder falsch, denn ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß da vielmehr organisiert ist als staatliche Stellen bisher sehen oder wahrhaben wollen.

Angesichts solcher Ausbrüche von Gewalt und Unmenschlichkeit will mir alles Reden darüber unangemessen erscheinen. Das Ritual von Betroffenheit und von Abscheu ist unangemessen, aber vielleicht auch unausweichlich. Es ist mir jedenfalls wichtig, zunächst zu sagen, daß das Elementarste unser Mitgefühl mit den Opfern und die Solidarität mit den Bürgern ausländischer Herkunft ist. Und eigentlich müßte man, müßte ich über die Ängste der Bedrohten, unserer Mitbürger reden, über deren Gefühle und Hoffnungen, ihre Wünsche und Bedürfnisse und Interessen, das wäre ganz wichtig. Aber dazu sollte man dann wirklich jemanden von diesen Betroffenen einladen, der das authentisch tun kann. Aber es ist wichtig, daß ich dies vorneweg sage, denn meine Aufgabe ist heute, Ursachenanalyse zu betreiben, um Aufgaben für uns zu beschreiben. Und das ist etwas, was jenseits des Mitgefühls ist, aber dieses Mitgefühl nicht verneint, sondern es voraussetzt und versucht, in die Sprache einer nüchternen, vielleicht auch schmerzlichen, jedenfalls - ich bitte um Entschuldigung - manchmal umständlichen Analyse zu übersetzen.

Was ist mit uns geschehen in diesen drei Jahren eines staatlich vereinten Deutschlands und was geschieht mit uns, den Deutschen, daß so etwas geschieht, daß wir hier so etwas geschehen lassen: nicht nur rechtsextremistische Attacken und Gewaltausbrüche einer Minderheit, sondern Zustimmung, schweigende, nur leise dahin gemurmelte, aber eben auch lautstarke Zustimmung zu menschenverachtender und menschenvernichtender Gewalt. Und inzwischen ja auch Gewalt gegen Minderheiten schlechthin, auch gegen Behinderte. Erinnern Sie sich an jenes skandalöse Urteil, das einem Deutschen einen Schadensersatz zusprach, weil er im Urlaub im selben Speisesaal wie Behinderte essen mußte. Ich nenne dies juristische Aggression gegen Behinderte.

Inzwischen beobachten wir eben auch Gewalt gegen unsere jüdischen Mitbürger, auch gegen das Gedächtnis von Toten - sie erinnern sich an den Brandanschlag in der Gedenkstätte Sachsenhausen - und vor allem an die alltägliche Gewalt, nicht zuletzt unter Jugendlichen in den Schulen. Aber ich will ausdrücklich sagen: es gab 1992 und in den letzten Monaten nicht nur Anlaß zur Sorge, gar zur Verzweiflung, es gab und gibt auch Zeichen der Hoffnung. Die Lichterketten, an denen sich hunderttausende Menschen beteiligten, die zahlreichen Veranstaltungen und Aktionen, Kundgebungen, Demonstrationen der zurückliegenden Wochen und Tage machen Mut. Sie signalisieren - denke ich -, daß die große Mehrheit der Deutschen nicht gewillt ist, die Einkehr der Barbarei zu dulden.

Wenn man den Demoskopen glauben darf, dann verliert die äußerste politische Rechte an Zustimmung in der Bevölkerung. Gleichzeitig steigt die Angst der Menschen vor dem Rechtsterrorismus. Das genau ist es, was mich davon abhält, die politische Wirkung der Lichtersymbole mit kleiner Elle zu bemessen. Die Furcht vor dem Faschismus im Glatzenlook überwiegt augenscheinlich die oft genug eingeredete Furcht vor einer ungeregelten Zuwanderung von Ausländern nach Deutschland, die den Blick für die wahren Ursachen ohnehin nur verstellt. Das sei, so bilanziert ein Kommentator der Süddeutschen Zeitung, der kleinste gemeinsame Nenner, der den von Existenzängsten geplagten Kleinbürger mit dem Großbürger im Villenviertel verbindet. Jenen Kritikern der Lichterketten, die unlängst meinten, den SA- Triumphzügen und den Bürgermärschen anno 1992/93 eine ähnlich gerichtete deutschtypische Gefühlsbesoffenheit attestieren zu müssen, hält er entgegen, daß deutsche Ergriffenheit im Kerzenschein allemal besser sei als deutsches Triumphgeheul im Fackelschein. Und er hat recht. Fragt man aber, ob dem mörderischen Spuk durch die sanften Signale brennender Kerzen ein Ende bereitet werden kann, so muß ich selbstverständlich mit einem deutlichen "Nein" antworten. Die Lichterketten sind ein Anfang, dem Zivilcourage im Alltag folgen muß. Die Ursachen des Rechtsextremismus und der ekelhaften Gewaltorgien bleiben aber oft genug unerkannt bzw. mißdeutet bestehen, und das Handeln derer, die in diesem Lande Verantwortung tragen, ist nach wie vor manchmal dazu angetan, die Gewaltexzesse - sicherlich meistens ungewollt - zu begünstigen, statt sie wirkungsvoll zu bekämpfen. Damit will ich nicht suggerieren, die politischen Akteure hielten den Schlüssel des Problems in ihren Händen; auch die Möglichkeiten der Politik unterliegen Begrenzungen, größeren sogar als die Bürger in unserem Lande gewöhnlich wahrhaben wollen. Darin liegt eine besondere Erschwernis. Die hiesige Struktur der Öffentlichkeit funktioniert nach einfachem Bildmuster: hier das Problem, dort die Lösung. So einfach ist die soziale und politische Wirklichkeit aber nicht gestrickt, sie ist entschieden komplexer, verwirrender, für Politiker mitunter nicht weniger als für die Bürger. Diese Öffentlichkeitsstruktur läßt kaum noch Zeit zum nachdenklichen Abwägen, sie fordert unablässig und fördert Ungeduld und Unduldsamkeit, und in der Folge verstärkt sich die Neigung zum Nachgeben gegenüber Populismen wider besseres Wissens.

Dennoch bleibt wichtig: Die Politik ist aufgerufen, Probleme zu lösen und sie nicht durch eigenes Zutun noch zu verschärfen. Mein Eindruck aber ist, daß genau das während der verkorksten Debatte um das Asylrecht geschah. Ich will keinen Zweifel aufkommen lassen. Ich meine schon, die neue Regelung des Asylrechts war notwendig, aber ich will eine persönliche Anmerkung hinzufügen: keine Entscheidung ist mir in meiner kurzen politischen Biographie so schwergefallen wie diese. Und ich will offen bekennen, daß ich meine, daß die Voraussetzung für diese Entscheidung eine doppelte Niederlage war. Erinnern wir uns: seit zehn Jahren ungefähr wird in Deutschland, zunächst natürlich nur in Westdeutschland, über das Thema Zuwanderung, Asyl diskutiert. Ich habe die Zitate inzwischen kennengelernt, aus dem Jahre 1982. Und in diesen zehn Jahren ist es den politisch verantwortlichen Kräften, den Parteien, aber auch anderen nicht gelungen, eine politisch-moralisch überzeugende und eine rechtlich-verwaltungstechnisch praktikable Lösung dieses Problems zu vereinbaren. In derselben Zeit aber hat sich das Problem objektiv wie subjektiv verändert. Objektiv, weil ein Problem anders ist, wenn es sich quantitativ verändert. Es macht einen Unterschied für ein gesellschaftliches Problem aus, ob man über eine Zuwanderung von 30.000 oder 50.000 spricht oder über eine Zuwanderung von 500.000 bis 1.000.000. Aber das ist nur die eine Seite.

Für viel gewichtiger halte ich, daß das Problem subjektiv sich verändert hat, denn - ich will das wiederholen - das Ausländer-Problem ist nach meiner Überzeugung ein Inländer-Problem. Im Zusammenhang mit dem Prozeß der deutschen Einigung, einem dramatischen Umwälzungsprozeß, hat das Ausmaß von Verunsicherung, von Ängsten, von Überforderungsängsten, von sozialen Deklassierungsängsten unter der deutschen Bevölkerung zugenommen. Das heißt, die subjektive Bereitschaft, sich einem wirklichen Problem, der Integration ausländischer Bürger, der Aufnahme ausländischer Bürger, von Flüchtlingen zu stellen, hat eher ab- als zugenommen, verstärkt durch demagogische Instrumentalisierung dieser Ängste zu Wahlkampfzwecken. Muß ich zitieren, in wievielen Wahlkämpfen die CDU die Angst vor Zuwanderung, vor Ausländern zu Wahlkampfzwecken gebraucht hat, Ängste in eine bestimmte Richtung gelenkt hat?

Dieses beides, die Paralyse von Politik angesichts eines immer dramatischer empfundenen Problems und die Abnahme der subjektiven Bereitschaft eines Gutteils der deutschen Bevölkerung, diesem Problem sich wirklich positiv zu stellen, dieses beides empfinde ich als eine doppelte Niederlage. Und es war am Schluß die Frage, ob wir diese Niederlage fortsetzen oder wie wir sie beenden. Durch die Fortsetzung der Paralyse von Politik, also der wechselseitigen Lähmung der Parteien, oder durch den Versuch eines Kompromisses, der natürlich in seinem Inhalt mehr die Mehrheitsverhältnisse widerspiegelt, nicht mehr und nicht weniger. Jetzt nach diesem bitteren Kompromiß, der politische Schritte wieder ermöglichen sollte, müssen diese Schritte auch getan werden. Wir brauchen ein anderes Staatsbürgerschaftsrecht, wir brauchen das Wahlrecht für die Mitbürger ausländischer Herkunft, wir brauchen eine rechtliche Regelung von Einwanderung, all das bleibt nach wie vor notwendig, auch wenn es wegen der Mehrheitsverhältnisse, also durch die Ablehnung der CDU/CSU in diesem Asylkompromiß nicht aufgenommen werden konnte. Es bleibt nach wie vor notwendig.

Der für mich schale Geschmack einer persönlichen und politischen Niederlage ergibt sich aber auch daraus, daß wir die Verbreitung der falschen assoziativen Identifikation von Ausländerfeindlichkeit und Rechtsextremismus auf der einen und Asylrecht auf der anderen Seite zugelassen haben. Wir haben über die Asylrechtsänderung gestritten, während auf die Asylbewerberheime Molotow-Cocktails flogen. Ich habe damals ein Moratorium vorgeschlagen. Der Gedanke hat keine Mehrheit gefunden, und ich kenne die Gründe dafür. Aber da ist ein fataler Eindruck entstanden. Die Politik hat sicher von den allermeisten ungewollt, aber vielleicht von einigen Politstrategen auch beabsichtigt, dem randalierenden Mob scheinbar Legitimation verschafft. Wir haben unsere deutende, ja aufklärerische Pflicht versäumt. Ich frage mich, ob es uns allen, nicht allein der Politik, noch gelingen wird, dieses aufklärerische Defizit wieder zu überwinden. Die Voraussetzung dafür kann nur Ehrlichkeit vor uns selbst und Ehrlichkeit vor den Bürgern des Landes sein. Und Ehrlichkeit heißt: wir werden und wir müssen und wir wollen auch in Zukunft mit Ausländern leben. Kein Gesetz dieser Welt wird globale elendsgetriebene Migrationswellen aufhalten können. So sehr eine konfliktfreie multikulturelle Gesellschaft ideologische Kopfgeburt bleibt, so sehr ist die Vorstellung von einer ethnisch homogenen Kultur absurd. Eine solche nämlich wäre keine Kultur. Es ist Fiktion, sie zu fordern, zeugt von geistiger Enge und Provinzialität, zeugt noch mehr von Kulturunfähigkeit. Auch Politik muß sich wieder auf ihre auflklärerische Funktion besinnen. Sie muß eine Arbeit leisten, die Sozialwissenschaftler Komplexitätsreduktion nennen, ohne dadurch die Wirklichkeit zu verstellen oder sie mit euphemistischen Begriffen zu vernebeln oder gar in demagogischen Verkürzungen zu enden. Sie muß Intransparenz überwinden, Zusammenhänge deuten und Antworten geben, politisch-demokratische, westlich-praktische, erzieherische und auch - ja - moralisch-weltanschauliche Antworten.

Bevor man über eine Sache redet, sollte man sich zunächst genauer des Gegenstands vergewissern. Denn so eindeutig wie er in der Regel dargestellt wird, ist er nämlich nicht. Es stimmt, daß neue und alte Nazis den stärksten Zulauf seit dem Ende des Dritten Reiches verzeichnen, es stimmt, daß die Gewaltbereitschaft unter Rechtsextremisten zunimmt, und es stimmt, daß die rechtsextreme Szene mit der organisatorischen Vernetzung einer Vielzahl loser Gruppen und Grüppchen schon vor langer Zeit begonnen hat. Allein die fortdauernde regionale und politisch anarchische Vielfalt rechtsextremistischer Zirkel hat bislang verhindert, daß deren politische Wirksamkeit größer ausfällt als sie potentiell sein könnte. Denn rechtsextremistisches Gedankengut ist nicht nur an den sozialen und politischen Rändern beheimatet, man kann es überall antreffen. Es wirkt bis in das Zentrum dieser immer noch zweigeteilten Gesellschaft hinein. Dieses der Vernunft entglittene, irrationale Denken und Handeln wird immer mehr zum Spiegel und Abbild unseres sozialen Umgangs, unserer gesellschaftlichen Beziehungen und unseres Politikverständnisses, mehr als wir es im Moment wahrhaben wollen. Der Rechtsextremismus ist nicht nur ein abartig-bösartiges, der gesellschaftlichen Entwicklung anscheinend zuwiderlaufendes Phänomen. Er spült die geistigen Ablagerungen und Zerfallsprodukte unserer zeitungleichen Gesellschaft an die Oberfläche, er kennt keine Programme, er bietet griffige Botschaften, die den mühevollen Gebrauch des Verstandes, das kritisch selbständige Denken nicht herausfordern, Botschaften, die man nachträllern kann. Er ist der gefährliche Gassenhauer des Politischen.

Ist aber tatsächlich alles rechtsextremistisch, was wir in den zurückliegenden Monaten als rechtsextremistisch erkannt zu haben glauben? Die Sinnhaftigkeit dieser nur scheinbar rhetorischen Frage ergibt sich vielleicht aus dem folgenden fiktiven Dialog: "Das sind keine Nazis," sagt der eine, "das sind unsere Kinder." Der andere aber meint, "das sind nicht unsere Kinder, das sind Nazis." Beide Aussagen sind wahr und falsch zugleich. Umsicht im Urteil und Behutsamkeit im Umgang scheinen mir deshalb geboten, weil es sich bei den Tätern nicht immer um ideologisch ganz eindeutig festgelegte junge Leute handelt, häufig sind es orientierungslose und verängstigte Kinder, die zu stigmatisieren einer Zugangssperre für Dialoge gleichkommt. Ich plädiere deshalb nachhaltig bei der Analyse für den mikroskopischen Blick, für die Unterscheidung.

Der Kölner Sozialwissenschaftler Erwin Scheuch erklärte uns neulich, Gewaltakte mit politischer Sprache seien keine deutsche Spezialität, zwar erklärungsbedürftig, aber kein Objekt großer öffentlicher Besorgnis. Untersuchungen über die politischen Grundeinstellungen ließen in der Bundesrepublik keinerlei Besonderheiten erkennen, die sich von den Einstellungen in anderen westeuropäischen Ländern unterscheiden würden. Von den Fakten her ist das vielleicht richtig. Wer freilich meint, Sozialwissenschaft nur noch mit Hilfe von computeranalysierten Daten betreiben zu müssen, begeht notwendig einen kardinalen Fehler. Er übersieht die in jeder Gesellschaft ablaufenden strukturellen Veränderungsprozesse, er verfügt über kein sensibles Sensorium zum Aufspüren eines tiefgehenden sozialen und kulturellen Wandels, beraubt sich seiner antizipierenden Möglichkeiten und verliert das gebotene Gleichgewicht zwischen Spürsinn und Feinsinn. Und am schlimmsten ist, daß er als Berater in gutem Glauben den Politikern mitteilen wird: kein wirklicher Grund zur Besorgnis, es bewegt sich ja alles noch im Rahmen des Normalen.

Ich will bei der Beurteilung des Rechtsextremismus bestimmt keinem Germanozentrismus das Wort reden. Das Phänomen rechtsextremer Renaissance oder - wenn man das Problemfeld politisch, ethnisch und kulturell weiter faßt - des Irrationalismus und des Fundamentalismus, wachsen sich zu einem globalen Problem aus, und in Deutschland vor einem durchaus erstaunlichen Hintergrund. Im großen und ganzen nämlich haben sich die Demokratie und ihre Institutionen in Deutschland besser bewährt als man nach 1945 hätte vermuten dürfen, denn erkämpft waren sie ja nicht. Gewiß, auch ich habe gelernt, daß der Rechtsextremismus eine der zahlreichen Pathologien moderner Industriegesellschaften darstellt. Das macht es auch so schwierig, den heutigen Rechtsextremismus als Verlängerung der Vergangenheit zu interpretieren. Er ist es nämlich nicht, er ist kein NS-Relikt. Mag er sich auch der NS-Symbole bedienen, mag er Rituale kopieren und alle bestimmenden Merkmale der nationalsozialistischen Ideologie kaum gebrochen aufweisen: vom aggressiven Nationalismus über das Führerprinzip bis hin zu einem rassistisch-sozialdarwinistischen und elitär unduldsamen Sendungsbewußtsein; er ist trotzdem ein Produkt veränderter politischer und sozialer Umstände, er bedient sich anderer kultureller Ausdrucksformen. Nicht das Horst-Wessel-Lied ist die Erkennungsmelodie der kahlköpfigen Jungnazis, es sind vielmehr harte Punkrhythmen, die sich nur durch die Widerwärtigkeit ihrer Texte von der Musik einer anderen politisch und kulturell bei weitem sympathischeren Jugendszene unterscheiden. Die neuen Nazis akzeptieren die alten greisen Männer, die ehedem den äußersten rechten Rand des politischen Spektrums repräsentierten, vielleicht noch in bestimmten Grenzen als Mentoren. Der Rechtsextremismus unserer Tage ist, denke ich, ein Ergebnis der Gegenwart und kein Appendix des Tausendjährigen Reiches.

Diese Erkenntnis enthebt uns freilich nicht der Pflicht, zu versuchen, das so erschreckend deutlich gebrochene NS-Tabu zu erneuern. Die Politik wie auch andere Instanzen der Gesellschaft haben die Aufgabe, die Erinnerung an die zwölf Jahre Barbarei wachzuhalten, indem sie zu ihrer Verantwortung für die ganze deutsche Geschichte stehen. Die deutsche Geschichte begründet auch, weshalb wir den Rechtsextremismus mit besonderer Aufmerksamkeit behandeln müssen, da kann er so modern sein wie er will. Die Politik selbst hat zur Enttabuisierung des Nationalsozialismuses beigetragen. Da wurde in leutseliger Unreflektiertheit über eine Gnade der späten Geburt gesprochen, da wurde der unselige Historikerstreit über die Singularität von Auschwitz in der Menschheitsgeschichte kommentarlos hingenommen, von manchen gar begrüßt, weil man selbstentlastend den Stalinismus als Vorbild für die deutschen Gaskammern angeboten bekam. Der Hannoveraner Soziologe Oskar Negt nannte diese Debatte vor kurzem den Versuch, dem politischen Zentrum Legitimationen für die Begradigung der deutschen Geschichte zu liefern. Es sei dies ein kleiner Anfang gewesen, der aber Riesenbrände verursachen könnte. Darüber hinaus sollte man nicht verschweigen, daß zwischen 1933 und 1945 begonnene NS-Karrieren danach auf demokratischen Sesseln fortgesetzt werden konnten, im übrigen ein durchaus gesamtdeutsches Phänomen. Wie wirkungslos der staatsverordnete Anti-Faschismus der DDR gewesen war, wird von der Wirklichkeit unterstrichen. Auch in der DDR trieben alte und neue Nazis ihr Unwesen. Es stand nur nicht im "Neuen Deutschland". Das Eingeständnis hätte die hohle Fassade scheinbarer Immunität zum Einsturz gebracht. Und - auch daran erinnern wir uns - da war in schlimmster Nazi-Sprache vor noch nicht so langer Zeit von den Gefahren einer durchrassten und durchmischten Gesellschaft die Rede.

Ich will fragen, worin die Wurzeln des Rechtsextremismus gründen und wie man ihn wirkungsvoll bekämpfen kann. Wir laufen ja Gefahr, uns zu gewöhnen an die grauenhaften Bilder aus Rostock, Mölln, Solingen und Hoyerswerda; wir laufen Gefahr, uns in unserem Empfinden abzustumpfen. Gleichzeitig beobachte ich die hilflos gefährliche Neigung bei manchen Politikern, dem Rechtsextremismus dadurch zu begegnen, daß man glaubt, als harmlos eingestufte Bruchstücke seines Gedankengutes übernehmen zu können. Ich bin dafür, daß die Gesellschaft nichts unversucht läßt, ihr entrückte Kinder und Jugendliche zurückzuholen, schon allein deswegen, weil die 14- bis 20jährigen Produkte dieser Gesellschaft sind. Ich warne aber eindringlich vor der irrigen Annahme, der Rechtsextremismus ließe sich durch eine Art Teilnormalisierung überwinden. "Alles", so Wilhelm Heitmeyer, "was als normal gilt, läßt sich kaum mehr kritisch hinterfragen." Je höher der Normalisierungsgrad, desto geringer die Chance, diese Einstellungen und Verhaltensweisen zu problematisieren. Gewalt, die auf kein Gegenüber trifft, befriedigt nicht, sie verallgemeinert sich, sie ufert aus. Wenn wir uns an Gewalt und Unrecht gewöhnen, dagegen abstumpfen und unsere Ethik, unsere Moral geschmeidig dem eigenen Wohlbefinden anpassen, dann ja, dann droht unserer Zivilisation der Kältetod. Die Scheidelinien müssen also klar sein. Das ist nicht immer einfach, denn aggressive, gewaltbereite und autoritäre Denk- und Handlungsweisen Jugendlicher vermischen sich mit Versatzstücken der faschistisch-rassistischen Ideologie. Die anarchische, angstgetriebene, ja letzten Endes hilflose Gewalt hat dadurch nach und nach einen zweifelhaften subjektiven Sinngehalt erfahren, der eine weitere Eskalation begründen könnte.

Reden wir von DDR-Spezifika, die ich immer noch besser kenne: von fortwirkenden realsozialistischen Wirklichkeiten, von Ausländerfeindlichkeit und subtilem Rassismus, von großen und kleinen Gemeinheiten, aber auch von Zynismen, die für das Überleben notwendig waren. Es hat in der DDR immer Ausländerfeindlichkeit gegeben, gewiß in sehr unterschiedlicher Intensität. Angst vor Fremden, Unsicherheit gegenüber dem Unvertrauten, kleinliche oder überhebliche Ablehnung des Andersartigen gehörten und gehören zum schlechten Typus des DDR-Bürgers. DDR-typische Ausländerfeindlichkeit war zunächst und vor allem unreflektierte Tradierung von Ressentiments gegenüber den Nachbarvölkern, insbesondere gegenüber Polen. In dieser Hinsicht gab es eine schlimme und ungebrochene Tradition aus unaufgearbeiteter, unverwandelter deutscher Mentalitätsgeschichte. Es ist vielfach festgestellt worden: die DDR war eine kleinbürgerlich geprägte Gesellschaft. Die DDR-typische Ausländerfeindlichkeit ist stets unter den Teppich gekehrt worden, aber manchmal, von Zeit zu Zeit ist sie auch von der ehemaligen SED-Führung instrumentalisiert worden. Ich erinnere an das Aufbieten der anti-polnischen Gefühle als Mittel gegen den Solidarnosc-Bazillus Anfang der 80er Jahre. DDR-typische Ausländerfeindlichkeit war und ist Ausdruck eines Hospitalismus. Wir haben schlicht nicht gelernt, wie man mit den Fremden, mit dem Ausland umgehen soll, wir waren eingeschlossen und reagieren deshalb, wenn der Vergleich erlaubt ist, wie hospitalisierte Kinder, autistisch, verschreckt, verunsichert, abwehrend, aggressiv. Das kapitalistische Ausland - wie es damals hieß -, Ziel heimlicher Wünsche, lag außerhalb realisierbarer Möglichkeiten, jedenfalls für die meisten von uns. Aus Gründen der psychischen Hygiene versagte man es sich, seinen Träumen allzu oft nachzuhängen. Eine alltägliche, ja selbstverständliche Übung. Aber dort, wo die Träume amputiert wurden, gab es Phantomschmerzen.

Wir haben ja nicht nur nicht sonderlich viel reisen können, auch mit den Ausländern, die in der DDR lebten, hatten wir nicht viel Kontakt. Die Vietnamesen, die Polen, die Afghanen, die Angolaner, die bei uns als Gastarbeiter - wie sie nicht heißen durften - lebten und arbeiteten, lebten und arbeiteten ja meist getrennt von uns. In abgetrennten Abteilungen in den Betrieben, in kasernierten Unterkünften. Wahrhaftig, der reale Sozialismus in der DDR hat so etwas ähnliches entwickelt wie eine eigene Form der Apartheid. Die errichtete Barriere zwischen den Deutschen und den Ausländern im eigenen Land ist nur von wenigen DDR-Deutschen übersprungen worden. Es fehlt uns eine wichtige Erfahrung, die uns jetzt widerstandsfähiger gegen neuen Fremdenhaß machen könnte. Obwohl es spezifisch ostdeutsche Ursachen für die Gewalttaten gibt, ist der Rechtsextremismus gewiß kein ostdeutsches Phänomen. Aber die Vehemenz, mit der sich rechtsextreme bzw. rechtsextrem motivierte Gewalt gerade in Ostdeutschland bahnbrach, legt dennoch die Frage nach den besonderen Voraussetzungen und Mechanismen nahe, die das Eruptive, Direkte, Spontane der Gewalt in Ostdeutschland erklären. Denn rechte, nationalistische Grundeinstellungen sind im Osten nicht verbreiteter als in Westdeutschland, im Gegenteil, wie alle diesbezüglichen Untersuchungen belegen.

Gewalt wie wir sie heute erleben, ist ganz wesentlich Jugendgewalt. Die gewalttätigen Kinder, die gewalttätigen Jugendlichen sind nicht nur randständige Schmuddelkinder, die chancenlosen Outlaws einer von nicht wenigen Ostdeutschen als gnadenlos empfundenen neuen gesellschaftlichen Ordnung, Kinder, die in ihrer Verzweiflung nach Aufmerksamkeit und Zuwendung schreien. Unbedachte ausländerfeindliche Sonntagsgespräche in den guten Stuben der braven Bürger bilden einen Hintergrund und schlimmer noch: Was die Väter und Mütter an wütender Resignation zuhause artikulieren, aber nicht in die öffentliche Sprache übersetzen können, das drücken deren Kinder öffentlich in der Sprache der Gewalt aus. Der Sozialwissenschaftler Detlev Claussen spricht schon von einer konformistischen Rebellion der Jugendlichen, will sagen, die Werte und Orientierungen der Jugendlichen sind durchaus konformistisch, sie zeigen Merkmale einer generationsübergreifenden Kontinuität. Ihre Ausdrucksformen freilich sind jugendspezifisch. Bei den betroffenen Eltern fehlt häufig eine explizite, uneingeschränkte Distanzierung. Umgekehrt fühlen sich die gewaltanwendenden Jugendlichen bisweilen als Vollstrecker eines zornigen Volkswillens, sie meinen, es geht ihnen um ein gerechtes Anliegen, dessen Legitimität sich auch auf die angewandten Methoden beziehe. Wir dürfen gewiß nicht den Fehler begehen, den heutigen Rechtsextremismus nahtlos in Kontinuität zum Nationalsozialismus zu betrachten, dürfen Kontinuitäten aber auch dort nicht unterschlagen, wo es sie vielleicht gibt.

Der Psychoanalytiker Tilmann Moser hat erst vor kurzem darauf verwiesen, wie tief unterirdisch und weit außerhalb der bewußtseinsbildenden Sprache seelische Gewaltsamkeit und unverarbeitete Traumata weitergegeben würden. Vergessen wir nicht: die Täter zwischen 14 und 25 Jahren sind Söhne und Enkel von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die noch in der Hitler-Jugend waren und nichts anderes kennengelernt hatten als ein Aufwachsen in Diktatur, Krieg, Flucht, schwieriger Integration oder realem Stalinismus. "Nehmen wir Notiz", wie Tilmann Moser sich ausdrückte, "von intergenerativ fortlebenden Fragmenten, nicht nur von NS-Ideologie, sondern auch von unverdautem Leid, von inneren Spaltungen, von schwelenden Seelenfragmenten und eingemotteten Teilen der Biographien der Eltern und Großeltern." Eugen Drewermann, der Theologe, hat vielleicht nicht ganz unrecht, wenn er sagt, daß wer Gewalt und Krieg verhindern wolle, beim Studium der Gesellschaft nicht stehenbleiben dürfte, sondern den Menschen studieren müsse.

Eine festgefügte weltabgeschiedene, ja eingemauerte und scheinbar auch weithin sozial autarke DDR-Gesellschaft verlor über Nacht ihren bis dato mit allerhand Zwang und Druck stabilisierten Zusammenhalt. Der Vereinigungsprozeß hat einen umfassenden Umbruch eingeübter Verhaltensweisen eingeleitet. Die im real existierenden Sozialismus ausgegebenen Leitideen von Staat, Gesellschaft und Individuen sind in sich zusammengebrochen und stellen bei jedem einzelnen die tradierten, ja konservierten Erfahrungen infrage. Die hinterlassenen Werte und Normen erodieren, Verbindliches und Bindendes löst sich auf, bisher Richtiges stellt sich als Falsches heraus oder wird dazu erklärt. Die Furcht vor ungebrochenem sozialem Abstieg, die Angst, dem Dasein im sozialen Schatten des geeinten Deutschlands auf absehbare Zeit nicht entrinnen zu können, ist das tiefliegende Motiv, das die Gewalt gegen die Schwächsten der Schwachen erklärt, aber beileibe nicht zum Verständnis aufruft. Wir müssen wissen, daß der Systemwechsel massenhaft als biographischer Bruch erlebt wird, weil in seiner Folge vielfach Verunsicherung, Verängstigung, ja Entwurzelung eintritt. Mit dem Tempo und der Totalität des Wechsels der Gesellschaftssysteme können Denken und Fühlen nicht Schritt halten. Die offene Konkurrenzgesellschaft verlangt ein solch hohes Maß an Individualität, Selbstdarstellung und Durchsetzungsvermögen, das den just aus der staatlichen Vormundschaft entlassenen normalen DDR- Bürger überfordern muß. Weder Raum noch Zeit, um sich des Eigenen zu vergewissern, das so ungewiß geworden ist, sind geblieben. Was zählt noch von den angeeigneten Kenntnissen, den erworbenen Erfahrungen, den erzwungenen Verhaltenskodizes. Ein Seelenvakuum ist entstanden, das der Rechtsextremismus mit seiner banal-brutalen Wirklichkeitsdeutung allmählich schleichend bei nicht wenigen zu füllen beginnt.

Die katastrophenartige wirtschaftliche und soziale Situation begründet, verschärft und bestätigt den Zustand der Orientierungslosigkeit. Das Verschwinden der Arbeitsplätze, der Rückgang der industriellen Produktion seit 1989 machen Ostdeutschland zu einer sterbenden Industrieregion. Existentielle Ängste und die Auszehrung all dessen, worauf man sich jahrelang hat verlassen können, nagen an der Identität und ruinieren schrittweise das Selbstwertgefühl der Menschen. Die wirtschaftlichen und sozialen Determinanten erfordern einen reichhaltigen Fundus individueller Kompetenzen zur Problemverarbeitung, von Formen des Umgangs mit bisher völlig unbekannten Ängsten und aufkeimenden Aggressionen. Bewältigungsformen, die eine Wandlung ins Destruktive vermeiden helfen und verhindern, daß Menschen verführbar werden für die schlichten Antworten ideologischer Bauernfänger.

Einen solchen Umgang zu erlernen, hatten die Deutschen in der DDR keine oder nur unzureichende Gelegenheit. Der Versuch der SED, eine einheitliche Gesellschaft zu erzeugen, eine eigene staatliche Identität zu stiften, erfolgte nicht zuletzt auf dem Weg der Abgrenzung nach außen durch eine Feindlichkeit gegen das Fremde, das Andersartige. Ein simplifizierendes Weltbild, das die Komplexität ökonomischer, sozialer und kultureller Prozesse zweckgerichtet und demagogisch-formelhaft verkürzte, hat folgerichtig einfache, monokausale Erklärungen von Welt und Ich, gut und böse, richtig und falsch produziert. Die DDR-Bürger hatten wenig Chancen, die eigene Toleranzgrenze zu testen und interkulturelle, horizonterweiternde Erfahrungen zu machen. Der auf Entkrampfung gerichtete Umgang mit schwierigen Interessenauseinandersetzungen gehörte nicht zum Repertoire realsozialistischer Lehrpläne. Gesellschaftliche Krisen, die es im eigenen marxistisch-leninistischen Verständnis ohnehin nicht gab, hatten stets äußere Ursachen oder waren Privileg der anderen. Zum Verursacher grimmiger Umstände wurde das kapitalistische, imperialistische Ausland auserkoren, mit Vorliebe natürlich die BRD. Schuld wurde delegiert.

Muß man sich wundern, wenn in der gegenwärtigen, äußerst problematischen sozio-ökonomischen Situation Fremde, Ausländer und Asylbewerber als Gefahr erscheinen, gegen die man sich zu wehren müssen glaubt? Die eigene Identität wird beinahe wie früher erzeugt oder stabilisiert durch Abgrenzung, durch Feindlichkeit gegen das Fremde und Andersartige. Der eigene Lebensentwurf, gleichsam Ersatz für den gescheiterten Gesellschaftsentwurf, wird abgesichert und legitimiert durch eine rigorose Ablehnung der Lebensgewohnheiten anderer. Dieses Muster ist ein weit verbreitetes, nicht nur in diesem Zusammenhang und weiß Gott nicht nur in Ostdeutschland. Jedem, der dieses Muster übernimmt, bleibt notgedrungen verborgen, daß auf diese Weise alles, bloß keine positive, aus sich heraus stabile Sicherheit erwächst. Das Eigene wird nicht dadurch besser, daß man das Andere als noch schlechter und minderwertiger deklariert, und vor allem die durch Abgrenzung erzeugte Stabilität bleibt äußerst fragil und wird deshalb auch umso aggressiver verteidigt. Mit diesem Deutungsversuch - und um einen solchen handelt es sich - ist aber die Frage noch nicht beantwortet, warum der offensichtliche Frustrationsstau und die verbreitete Orientierungslosigkeit sich im Osten Deutschlands ausgerechnet in rechtsextremen, hauptsächlich von Jugendlichen inszenierten Gewaltorgien manifestiert.

Darauf gibt es mindestens zwei Antworten. Der bereits erwähnte Wilhelm Heitmeyer nennt davon eine: Dort, wo sich soziale Verankerungen auflösen, müssen die Folgen des eigenen Handelns für andere nicht mehr berücksichtigt werden. Instrumentalistisches Verhalten setzt sich durch und die Gewaltschwelle sinkt. Wenn dann - wie jetzt vor allem unter Jugendlichen - nur noch die Einschätzung übrigbleibe, Deutscher zu sein, bekomme Gewalt eine Richtung. Die andere Antwort lautet: Antifaschismus und Internationalismus der Marke SED waren autoritär verabreichte Staatsdoktrine. Die Nutzung faschistischer Symbole und Übernahme eingängig primitiver Elemente der faschistischen Ideologie erschienen als die schärfste Form der Ablehnung, sowohl der Vergangenheit als auch der entstehenden neuen gesellschaftlichen Ordnung. Da auf die Belange Jugendlicher weder vom "realen Sozialismus" noch vom Kapitalismus in erwünschter Weise eingegangen wurde, bzw. eingegangen wird, scheinen gewaltsam herbeigeführte Lösungen plötzlich als plausible Alternative.

DDR-typische Ausländerfeindlichkeit war auch Ausdruck einer Ablehnung, einer Abwehr des übermächtigen politisch ideologischen Zwangssystems. Ein geheimer, latenter, unausgesprochener Nationalismus, der um so widerständiger, haltbarer war, je mehr er tabuisiert wurde, grundierte die DDR- Gesellschaft. Ein mehr oder minder aufgeklärter Nationalismus war die zähe, fatale, falsche wie fast unausweichliche Antwort von unten auf einen diktierten Internationalismus von oben. Ein deklamatorischer Internationalismus, der das Gegenteil von dem erzeugte, was er vorgeblich und anfänglich wohl auch tatsächlich wollte, die immer byzantinischer werdenden staatlichen Veranstaltungen, die Völkerfreundschaften, Städtepartnerschaften und Delegationen stießen schon allein deshalb auf Ablehnung, weil sie zu Weihespielen der großen internationalistischen Idee instrumentalisiert wurden, die nur zur Tarnung folkloristisch drapiert wurden; sie blieben leer, weil ihnen keine eigene alltägliche Erfahrung entsprechen konnte.

Und nun, nach einer durch erhebliche Verheißungen und Versprechungen geschürten Hoffnungsphase ist die Enttäuschung angesichts zunehmender wirtschaftlicher und sozialer Depression, Tag für Tag aufs Neue erlebter individueller Machtlosigkeit um so größer. Jugendliche erleben sich einmal mehr als Objekte eines intransparenten, aber wirkmächtigen Prozesses, in dem sie als aktive Subjekte nicht eingreifen können. Das allerorten anzutreffende Gefühl der Benachteiligung und die drohende Bedeutungslosigkeit des eigenen Lebens suchen sich ein Forum, eine Klagform der Mitteilung. Stellen Politik und Gesellschaft ein solches Forum, auf dem sich die Unzufriedenheit nach oben artikulieren kann und Folgen auslöst, nicht zur Verfügung, dann wendet sich die Unzufriedenheit nach unten, gegen die Schwächeren und Schwächsten, gegen die Minderheiten in der Gesellschaft. Reagieren Staat und Gesellschaft erst jetzt und kommen den gewaltausübenden Jugendlichen sogar argumentativ entgegen, dann verschaffen sie den Gewalttätern im Nachhinein Legitimation, signalisieren: erst Gewalt zeigt Wirkung. Es verfestigt sich bei den Tätern der Eindruck, man habe den ersten Schritt vom ohnmächtigen Subjekt zum mächtigen Subjekt getan. Für die Ausbildung von Toleranz im Denken und Handeln des Einzelnen ist es entscheidend, inwieweit die Ablösung von Vertrautem und die Hinwendung zu Fremdem gelingt, inwieweit das Eigene so gefestigt ist, daß das Fremde nicht als bedrohlich definiert und deswegen abgewehrt werden muß, sondern sogar als bereichernde Ergänzung erfahren werden kann. Gelingt dies nicht, wird das Andersartige, werden Ausländer, Juden, Behinderte, Homosexuelle, das andere Geschlecht oder die andere politische Gesinnung oder gar der andere ästhetische Lebensstil, als die eigene Identität gefährdende Abweichung bzw. Abweichler gebrandmarkt. Intoleranz ist die unmittelbare Konsequenz einer negativ verfaßten Identität, die ständig nach außen schauen muß, um anderes herabzusetzen und sich so der Qualität des eigenen Lebensentwurfs zu vergewissern.

Grundvoraussetzung für moralische und zivilisatorische Festigkeit ist, denke ich, ein gesichertes soziales und kulturelles Fundament. Sie bleibt so lange außer Reichweite, solange der soziale Kontext des Einzelnen als beängstigendes Chaos erscheint. Für eine gesellschaftspolitische Strategie scheint mir deshalb wichtig zu sein, daß wir nicht so sehr den einzelnen Täter ins Blickfeld rücken, sondern begutachten, welches die sozialen Prozesse sind, die für Vereinzelung und Entwurzelung des Einzelnen verantwortlich zeichnen, denn soziale Desintegrationsprozesse sind die gesamtdeutsche Gemeinsamkeit, die den Ausbruch von Gewalt begünstigen. Der Verlust sozialintegrativer Strukturen in beiden deutschen Teilgesellschaften ist eines der wenigen Beispiele für die gelungene Angleichung der Lebensverhältnisse. Beiderseits der Elbe gäbe es eine Dämmerungsstimmung von Kultur, wie Oskar Negt das formuliert hat, in der auch die sozial sinnvollen Ziele zerbröckelten, in der es keine Gemeinschaftsprojekte mehr gebe. Die Gesellschaft sei an kollektiver Phantasie verarmt. Ich füge hinzu: wir können uns nicht mehr darauf verlassen, daß die Verhaltensnormen einer überlieferten Rationalität auch künftig funktionieren werden. Was bleibt uns zu tun?

Ich habe eingangs angedeutet, daß die Wirkungskräfte der Politik zu dürftig sind, um gesellschaftliche Deformationen vermeiden bzw. überwinden zu können. Der Frankfurter Sozialphilosoph Jürgen Habermas hat vor nicht allzu langer Zeit darauf verwiesen, daß das Medium Macht, womit natürlich auch die Politik gemeint ist, mit der Hervorbringung von Lebensformen überfordert sei. Und doch setzt Politik fortwährend objektive Daten, die in die Lebensgestaltung und -Planung der Menschen zumindest mittelbar eingreifen. Politik wirkt an der Richtunggebung für die gesellschaftliche Entwicklung mit, obschon sie sie nicht völlig zu bestimmen vermag. Innerhalb dieses relativ engen Handlungsrahmens müssen praktische Konzepte für eine Gesellschaft nach menschlichem Maße entworfen werden, die weiterreichen als die bisherigen Interventionsmaßnahmen.

Was ist zu tun? Sicherlich und zuerst und selbstverständlich: der Staat hat die Aufgabe, die Angegriffenen zu schützen. Er muß die Täter mit den Mitteln des Gesetzes verfolgen und dingfest machen. Er muß Stärke zeigen und deutlich machen, daß Rechtsextremismus in diesem Land nicht nur nicht geduldet, sondern konsequent bekämpft wird. Das Verbot neo- nazistischer Organisationen ist deshalb wichtig und richtig. Ich bin auch dafür, daß die Nazi- Szene durch regelmäßige Razzien in ganz Deutschland erschüttert wird, daß man sie nicht zur Ruhe kommen läßt. Ich wundere mich gelegentlich über die allzu schnellen Entlassungen von Tätern. Sie sind zwar Jugendliche, aber inzwischen merken wir doch, daß wir einer kollektiven Gefahr gegenüberstehen, auf die man anders reagieren muß. Ich bin auch überzeugt davon, daß Polizisten vielleicht doch zu wenige sind in diesem Lande, nicht genug verdienen, besser ausgebildet und besser motiviert werden müssen. All das ist richtig. Zugleich weiß ich, daß staatliche Politik, die nur auf Repression setzt, auf mittlere Sicht keinen Erfolg haben wird. Trotzdem sind die repressiven Mittel in dieser Stunde der Gefahr notwendig.

Hinzu scheint mir aber eine andere Notwendigkeit zu kommen. Ich nenne sie die Eindeutigkeit des Verhaltens und des Sprechens von Politikern. Es war falsch, daß Helmut Kohl nicht nach Solingen oder zur Trauerfeier gegangen ist. Es war falsch und es ist schlimm, daß erst nachdem weitere fünf MitbürgerInnen ermordet worden sind, sich jetzt auch in der CDU Politiker bereitfinden, über eine doppelte Staatsbürgerschaft nachzudenken. Dies war vorher schon wichtig. Wenn wir weiter so Politik machen und immer erst nach Gewalt einer vorher schon als vernünftig erkannten Einsicht endlich gefolgt wird, dann bestätigen wir Gewalt. Also Eindeutigkeit des Verhaltens und Sprechens von Politikern scheint mir notwendig.

Aber, wie gesagt, so notwendig Repression, die repressiven Mittel des Staates sind, die Verteidigung seines Gewaltmonopols, das Einhalten seiner Verpflichtung, die Schwachen zu schützen, es wird dies nicht ausreichen. Gleiche Bedeutung hat ein kompensatorisches, sozialpädagogisches Vorgehen. Ich bin sicher, daß ohne den manchmal hart an der Grenze des Zumutbaren stattfindenden Einsatz vieler Sozialarbeiter und Streetworker die Verhältnisse noch schlimmer wären als sie sowieso schon sind. Es ist doch aberwitzig, einerseits den Verlust an Kommunikation, Bindung und Gemeinschaft zu beklagen und andererseits die Gemeinschaftseinrichtungen, die es für Jugendliche z.B. in den neuen Ländern als durchaus bewahrenswertes Erbe der DDR gegeben hat, vor die Hunde gehen zu lassen. Solche Jugendeinrichtungen mit sozialer Betreuung werden heute mehr denn je gebraucht. Auch das ist alles richtig und notwendig, und dennoch: Auch dem sozialarbeiterischen Herangehen wohnt unausweichlich ein Defizit inne. Es greift auf die Dauer zu kurz, es muß sich notgedrungen mit Symptomen und Wirkungen beschäftigen, denn die Ursachen für die Gewalt produziert die Gesellschaft selbst und dort sind die Entscheidungsträger eben andere.

Ich will keinen Zweifel aufkommen lassen. Alle gesellschaftlichen Gruppen müssen die Herausforderung annehmen. Das gilt für den Staat, die Parteien, die Kirchen, die Wohlfahrtsverbände, die Gewerkschaften, die Wirtschaftsführer, die Vereine und Zusammenschlüsse jeder Art, gilt für Schulen, Kindergärten, Hochschulen und auch für die Medien. Zu den Medien will ich doch ein paar Sätze sagen. Es kann niemand mehr ernsthaft bestreiten, daß es einen Zusammenhang zwischen Gewaltdarstellungen und dem gibt, was ein nicht ganz unbekanntes Nachrichtenmagazin vor kurzem die Verrohung unserer Gesellschaft genannt hat. Das Fernsehen, auch darauf hat Heitmeyer dankenswerterweise hingewiesen, sei aus Gründen der Vermarktung an Gewalt interessiert. Andererseits wolle es unter Ausbeutung von Moral an einem Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit und Gewalt mitwirken. Ich teile den Eindruck, daß mancher Journalist von seinem eigenen Medium überwältigt ist. Erinnern Sie sich an die bestürzende Berichterstattung aus Rostock? Als würde man von Sportereignissen berichten. Fassungslos saß ich am Fernseher, als ein Reporter, auf einem Dach stehend, mit großer Enttäuschung mitteilte: "Es ist gar nichts mehr los." Faszination von dem eigenen Medium. Die Darlegung des unspektakulären Hintergrunds, des sozialen Kontextes, des Ursachenzusammenhangs kommt zu kurz. Stattdessen begibt man sich in eine grotesk gefährliche Abhängigkeit von Aktionen kahler Köpfe, die sich selbst inszenieren und dann mit dem Medium bei seiner Selbstinszenierung behilflich sind.

Auch aus Solingen berichtete eine Journalistin, daß Kollegen von ihr türkische Jugendliche aufgefordert hätten, Gewaltlosungen auszurufen. Es muß ja "Action" im Fernsehen stattfinden. Sonst hat man ja nichts zu berichten. Ich will keiner Zensur das Wort reden, wahrhaftig nicht. Als Ex-DDR-Bürger erst recht nicht. Aber wir brauchen die inzwischen auch öffentlich notwendige, selbstkritische Debatte von Journalisten über die Medien und die Wirkung der Darstellung von Gewalt, über die aufklärerische Verpflichtung der Medien, über die Sprache der Ermutigung und der Klärung. Ich habe den Eindruck, daß die Verantwortung der Medien hinter den Anforderungen zurückgeblieben ist. Aber ich weiß auch: Journalistenschelte reicht nicht. Wir müssen über die Strukturen reden, über die Kommerzialisierung der Medien und ihre unausweichlichen Wirkungen.

Ich habe von einer Gesellschaft nach menschlichem Maß gesprochen. Eine solche mitzugestalten, für mich die eigentliche Aufgabe von Politik. Es gibt darauf sicherlich viele Antworten, aber keine fertigen. Aber ein paar orientierende Fragen will ich zum Schluß formulieren. Auf welche Weise gelingt es uns und wird es uns überhaupt gelingen, den Menschen in unserem Land eine sozial-integrative Idee gesellschaftlichen, vergemeinschafteten Lebens zu vermitteln? Eine Idee als Kontrapunkt zu einer um sich greifenden Beliebigkeit, Gleichgültigkeit, Kurzlebigkeit, Leere oder - ich muß besser formulieren - Ideen, Visionen, die den gegenwärtigen sozialen, kulturellen, moralischen Zustand transzendieren. Ich spüre einen wahren Hunger nach solchen Ideen und Visionen über den gegenwärtigen quälenden Zustand hinaus.

Die tradierten sozial- und milieuspezifischen Bindungen und Orientierungen lösen sich auf, Vereinzelung und die Ausrichtung auf Konsum und Erlebnis, auf ein kurzes, aber reichhaltiges Glück nimmt zu. Was ist der - um mich drastisch auszudrücken - soziale und kulturelle Kitt, der das Gemeinwesen als gemeinschaftliche Veranstaltung erfahrbar werden lassen könnte? Der die Gesellschaft als Versammlung einzelner zu überwinden hilft? Wie organisieren wir eine Ökonomie, die ausreichend autonome Zeit einräumt, die Platz schafft für die Pflege des geschundenen Soziallebens, die Eltern die Chance läßt, mit ihren Kindern Werte vermittelnd und Normen setzend zu kommunizieren, und schließlich: Wie bekämpfen wir Arbeitslosigkeit und ihre schlimmen psycho-sozialen Folgen?

Manche Antworten auf diese Fragen gibt es bereits. Zum Teil gedacht, zum Teil schon auf Papier gebracht. Ich will meine Ratlosigkeit trotzdem nicht verhehlen. Dennoch befinden wir uns auf der Spur des Erkennens. Erkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung, und ich bitte um Entschuldigung, daß ich über das Thema in vielleicht unangemessener Grundsätzlichkeit geredet habe. Ich glaube nämlich, nur wenn wir uns diesen sehr grundsätzlichen Zusammenhängen widmen, werden wir langfristig eine Antwort auf die Gefährdung dieser Gesellschaft geben können, die sich zunächst als Gefahr für unsere ausländischen Mitbürger äußert. Dieser Aufgabe müssen wir uns widmen und zugleich das Kurzfristige tun. Wir brauchen die Erleichterung der doppelten Staatsbürgerschaft. Wir brauchen das Wahlrecht für Mitbürger ausländischer Herkunft. Wir brauchen vielleicht ganz unmittelbar ein erstes Zeichen, weil ich weiß: Gesetze dauern ein wenig. Wir brauchen das Rede- und Antragsrecht für Ausländerbeiräte im Kommunalparlament. All das ist unmittelbar zu tun, aber langfristig, glaube ich, haben wir uns den schwierigen Fragen und Zusammenhängen zu widmen, über die ich heute vormittag zu Ihnen sprechen wollte.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 1999

Previous Page TOC Next Page