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TEILDOKUMENT:
Ignatz Bubis:
Ich werde mich nicht auf das Thema "Antisemitismus in Deutschland" beschränken, weil es sehr schnell abgehandelt werden kann. Wir haben jahrzehntelang geglaubt, daß es Antisemitismus gar nicht mehr gibt, daß er eigentlich nach den Erfahrungen der Vergangenheit ein für allemal aus der Welt sei. Wir wissen aber anhand von Umfragen, daß es einen latenten, unterschwelligen Antisemitismus seit Anfang der 50er Jahre - so lange werden diese Umfragen durchgeführt - gibt, und daß er ziemlich konstant bei etwa 30 % der Bevölkerung vorhanden ist. Die Zahl mag Sie erschrecken, aber sie trifft leider zu und es ist auch nicht so, daß Antisemitismus plötzlich entstanden ist oder erheblich zugenommen hätte. Diesen latenten Antisemitismus - ich unterscheide sehr wohl zwischen einem aggressiven und einem latenten, unterschwelligen Antisemitismus, oder wie jemand dies kürzlich bezeichnete, einem "Sekundär-Antisemitismus" - hat es unverändert die ganze Zeit gegeben. Es war aber ein Tabu, sich offen dazu zu bekennen. Wenn jemand antisemitisch dachte, meinte er, daß könne man nicht offen aussprechen, weil die Zahl der Gleichgesinnten nicht so groß sei, wie sie in Wirklichkeit immer war. Ich will hier nicht auf alle Ursachen des Antisemitismus eingehen. Es gibt 2.000 Jahre alte Ursachen. Sie haben im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte ständig gewechselt. Es gab z.B. den christlichen Anti-Judaismus, der weitgehend überwunden ist. Wenn ich sage "weitgehend", dann meine ich, daß er bis heute in Teilen der Bevölkerung weiter existiert. Ich merke das sehr oft, wenn ich Vorträge halte und mit dem Publikum diskutiere. Man braucht gar nicht das Beispiel des Paters Streithofen anzuführen, der heute bei öffentlichen Veranstaltungen - und er wird von mancher demokratischen Partei dazu eingeladen - offen verkündet, die Juden und die Polen seien die Ausbeuter des deutschen Volkes. Das sind sicher vereinzelte Fälle, in denen dies so offen von christlicher Seite geäußert wird, aber es gibt sie nach wie vor. Was zur Zeit nicht behauptet wird, ist, daß die Juden an der Pest Schuld seien. Aber das mag damit zusammenhängen, daß wir im Moment die Pest nicht nachweisen können, aber ansonsten gibt es keine alten Überlieferungen, von denen nicht immer wieder Gebrauch gemacht wird. Wie ich bereits sagte, hat sich heute lediglich die Haltung verändert, das Bekenntnis zum Antisemitismus ist offener geworden. Es ist kein Tabu mehr, und es gehört bei manchen fast schon wieder zum guten Ton zu sagen, ja, die Juden sind an diesem und jenem Schuld und sie haben sich den Antisemitismus selbst zuzuschreiben. Ich will den heutigen Antisemitismus nicht vergleichen mit dem Antisemitismus der 30er und 40er Jahre, wo er sozusagen staatlich verordnet war und gepflegt und gehegt wurde bis zur Vernichtung. Diese Form des Antisemitismus gibt es nur noch vereinzelt, aber es gibt auch diesen wieder. Ich bekomme sehr oft Briefe, in denen gedroht wird, das, was damals Hitler nicht gelungen ist, 'das werden wir versuchen, nachzuholen'. Solche Briefe sind heute mit Absendern versehen, die sogar stimmen. Überhaupt ist die Mehrzahl von antisemitischen Briefen, die mich oder jüdische Bürger erreichen, sehr oft mit einer Angabe der Adresse. Ich beantworte solche Briefe grundsätzlich nicht. Dies führte dazu, daß ein Schreiber den nächsten Brief per Einschreiben geschickt hat und mich erinnerte, daß ich noch nicht geantwortet hatte. Nicht die Zahl der Antisemiten hat sich verändert, sondern die Art ihres Auftretens. Dabei muß man wissen - und hier liegt wahrscheinlich eine Ursache -, daß fast die Hälfte der Deutschen keine Juden kennt, nie mit einem Juden zu tun hatte, und auch nicht weiß, was Judentum eigentlich ist. Für den einen mag der Jude deshalb indifferent werden und für den anderen wirkt es sich eben negativ aus. Wir haben ja eigentlich ein Deutschland ohne Juden. Von 80 Mio. Menschen in Gesamtdeutschland waren bis vor drei Jahren etwa 29.000 Juden. Dies ist zumindest die Zahl der Mitglieder der Jüdischen Gemeinden. Mag sein, daß es außerdem noch einige tausend Juden gab, die nicht Gemeindemitglieder waren. In der früheren DDR lebten insgesamt, einschließlich Ostberlin, nur 400 Menschen, die sich zum Judentum bekannten und Mitglieder einer Gemeinde waren. Nach der Zuwanderung von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion ist jetzt die Zahl auf ca. 40.000 gestiegen, was aber bei einer Bevölkerung von 80 Mio. immer noch eine sehr kleine Gruppe ist. Ein Überbleibsel der 12jährigen Geschichte von 1933 bis 1945 ist, daß auch heute für mehr als die Hälfte der Bundesbürger der Jude ein Fremder geblieben ist. Grundsätzlich ist nicht jeder in Deutschland lebende Jude auch deutschen Ursprungs oder deutscher Staatsbürger, obwohl es inzwischen zwei Generationen hier geborener Menschen gibt, die jüdischen Glaubens sind und sich als solche bekennen. Aber es gibt eben auch eine Anzahl von Zuwanderern, die - sei es aus der früheren Sowjetunion oder aus anderen Staaten Osteuropas - nach Deutschland gekommen sind. Die Gleichsetzung Jude gleich Fremder erlaubt keine Unterscheidung. Dies kommt manchmal in Äußerungen sehr deutlich zum Ausdruck, z.B. auch in Gesprächen mit Parteifreunden, die ich seit 20 Jahren kenne. So sagte etwa mein Parteifreund, nachdem der hessische Innenminister eine Ausweisungsverfügung eines Ausländers aufgehoben hatte, der wegen Drogenmißbrauchs verurteilt worden war, zu mir: "Siehst Du, das schätze ich an Euch, in Deiner Heimat kann das nicht passieren." Ich sagte ihm dann: "In Frankfurt passiert das genauso." Er hat noch nicht einmal begriffen, was ich ihm gesagt habe. Ich kann Ihnen viele solcher alltäglichen Beispiele erzählen. So hatte sich etwa mein Freund, der Präsident von Eintracht Frankfurt, den ich seit über 20 Jahren kenne, entschlossen, zusammen mit dem Deutschen Fußballbund am 12. Dezember 1992 an einem Spieltag der Bundesliga, Veranstaltungen gegen Fremdenfeindlichkeit und Ausländerhaß durchzuführen. Der Präsident schrieb daraufhin an die Jüdische Gemeinde einen sehr lieben Brief, daß auch Eintracht Frankfurt im Spiel gegen den Hamburger Sportverein das Gleiche veranstalten wird und er sich freut, mir mitteilen zu können, daß er uns 150 Karten zur Verfügung stellt. Er würde sich riesig darüber freuen, "wenn Sie und Ihre Landsleute davon regen Gebrauch machen würden". Und als seine Sekretärin drei Tage vor dem Spiel anrief und darauf hinwies, daß "meine Landsleute" noch immer keine Karten abgeholt hätten, habe ich geantwortet: "Das kann nicht sein, ich habe gerade in der Zeitung gelesen, daß 30.000 Karten von meinen Landsleuten schon im Vorverkauf erworben wurden." Ich bin mir aber nicht sicher, ob verstanden wurde, was meine Antwort bedeutete. Diese Beispiele zeigen, daß für die Mehrheit der Bevölkerung - das belegen eindeutig die Umfragen - der Jude ein Fremder ist. Ein weiteres Phänomen habe ich bei einer Diskussion mit jungen Leuten vom Eintracht-Fanclub kennengelernt. Einer hatte während des Spiels dem Schiedsrichter zugerufen: "Jude nach Auschwitz." Ich habe mich mit diesem Mann unterhalten und wollte von ihm wissen, was ihn zu dieser Provokation bewogen hat, ob er Juden kennt, oder mit ihnen zu tun hat. Antisemitismus war für ihn ein Fremdwort, Juden kennt er keine, was Judentum ist, weiß er nicht, aber was er weiß, ist, daß Jude ein Schimpfwort ist. Und das war der Grund, warum er dem Schiedsrichter dies zugerufen hat. Und wenn wir heute danach fragen, ob wir aus der Geschichte nichts gelernt haben, dann kann ich nur sagen: in mancher Beziehung haben wir tatsächlich nichts gelernt. Ich will aber betonen, daß der Antisemitismus, über den wir heute sprechen, nicht auf die Vernichtung des Judentums zielt. Viele dieser Leute, sogar die Aggressiven, sagen nun nicht: man muß Euch umbringen. Sie fordern aber: verschwindet doch aus Deutschland, was habt Ihr eigentlich hier zu suchen und was mischt Ihr Euch bei uns ein. Daneben gibt es die scheinbar "neutralen" Äußerungen, die lauten dann: Sei doch froh, daß man Dich in Ruhe läßt, was mußt Du Dich auch noch für die Asylbewerber einsetzen. Der Begriff von Menschlichkeit ist ihnen offensichtlich fremd. Wir erleben, daß nicht jeder, der antisemitisch denkt, unbedingt fremdenfeindlich sein muß. Aber wer fremdenfeindlich denkt, der ist in jedem Falle auch antisemitisch. Das ist die Erfahrung, die ich aus dem täglichen Umgang mit Menschen gewonnen habe. Ich will noch auf etwas anderes hinweisen. Gerade heute wird sehr viel von jungen, gewalttätigen Menschen gesprochen. Man übersieht, daß das nur eine relativ kleine Zahl ist. Die überwältigende Mehrheit der jungen Leute, besonders der 18- bis 30jährigen denken weniger fremdenfeindlich und antisemitisch als die ältere Bevölkerung. Wir haben ein weiteres Phänomen: In der Bevölkerung entstand der Eindruck, als ob sich die ausländerfeindlichen, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Übergriffe hauptsächlich im Osten abspielen würden. Wir wissen inzwischen, daß auch Gewalttäter aus dem Westen fleißig im Osten mitgemischt haben. Tatsächlich war Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus in den neuen Bundesländern zu Beginn der Wende weit weniger verbreitet als im Westen. Ich hatte manchmal das Gefühl, daß manche Politiker Wert darauf legten, das Ganze mit den Problemen der deutschen Einheit zu verbinden und den Osten dafür verantwortlich zu machen. Leider haben wir auch die Erfahrung gemacht, daß das Böse sehr schnell übernommen wird. Es ist zwar nach wie vor in den neuen Bundesländern die Fremdenfeindlichkeit und der Rassismus weit weniger verbreitet als in den alten Bundesländern, nur diese Schere hat sich langsam geschlossen. Offensichtlich ist die Bereitschaft zur Übernahme von solchen Lehren sehr groß und man hat sich sehr schnell angepaßt. Es kann vielleicht auch damit zusammenhängen, daß bei Umfragen in den neuen Bundesländern, die Bereitschaft, das zu sagen, was man denkt, zu Beginn der deutschen Einheit geringer war, weil man früher Angst hatte, seine Meinung offen zu sagen. Ich will noch auf etwas anderes eingehen. Ich sehe keinen Unterschied zwischen den Gewalttaten von Hoyerswerda und Rostock auf der einen, und Mölln und Solingen auf der anderen Seite. Man muß wissen, daß "Mölln" und "Solingen" keine Einzeltaten waren. An dem Tag, als das Haus in Solingen in Flammen stand, gab es gleichzeitig Übergriffe auf Asylbewerberheime, auch auf eine jüdische Wohnung. Das gehört alles in den gleichen Topf, es gibt keine Unterschiede bei den Gewalttätern. Die Hoffnung, daß sie sich durch eine Änderung des Artikels 16 Grundgesetz beruhigen ließen, war ein Irrtum. Ich habe, seit ich im Amt bin, davor gewarnt, eine Verknüpfung oder Verquickung zwischen der Gewalt und der Asyldiskussion herzustellen. Das waren zwei völlig getrennte Probleme. Ich hätte mir gewünscht, der Staat hätte gegen die Gewalttäter so agiert, wie es eigentlich dem staatlichen Gewaltmonopol zusteht, angefangen bei Hoyerswerda und Rostock, dann wäre uns vielleicht Mölln und Solingen erspart geblieben. Für mich war es kein Zufall, daß 48 Stunden nach der Annahme des Asylkompromisses gleichzeitig Gewalttaten in Solingen, Berlin, München, Cuxhaven, Hannover und Magdeburg passiert sind, weil die Gewalttäter schon deutlich machen wollten, daß es für sie diesen Unterschied nicht gibt. Wer die Geschehnisse seit Hoyerswerda verfolgt hat, konnte davon ausgehen, daß es so passieren wird. Wir können uns alle noch erinnern, daß nach Hoyerswerda und nach Rostock immer wieder gesagt wurde: das hat mit Antisemitismus nichts zu tun, das hat mit den seit langem bei uns lebenden Ausländern nichts zu tun, das hat lediglich mit der großen Zahl zu uns kommender Armutsflüchtlinge zu tun. Und dann kam eben die Antwort, und diese Antwort lautete: Sachsenhausen; die Antwort lautete: das Denkmal in Berlin, wo die Transporte nach Auschwitz weggegangen sind; und die Antwort lautete: die Gedenkstätte in Ravensbrück; und die Antwort lautete: Mölln. Das alles war sehr deutlich bezogen auf die allgemeine Fremdenfeindlichkeit. Und ich glaube nicht, daß die Regierenden das anders gesehen haben, allenfalls vielleicht gehofft haben, daß es diese Zusammenhänge nicht gibt. Der Staat ist der eigentlich Inhaber des Gewaltmonopols und nur er kann agieren. Aber er hat sich geweigert, und ich habe den Eindruck, er weigert sich immer noch, Zusammenhänge herzustellen zwischen diesen Gewalttaten und zu erkennen, daß das keine armen Irren oder jungen Nachahmungstäter oder irgendwelche Trunkenbolde sind. Es stimmt schon, sie betrinken sich vorher, bevor sie zu der Tat schreiten, weil sie es noch für nötig halten, sich Mut anzutrinken. Wenn es so weitergeht, werden sie allerdings auch darauf verzichten können, weil der Mut schon vorher da sein wird. Daß der Staat das nicht als eine einheitliche kriminelle Handlung ansieht, als einen Angriff gegen die Demokratie, gegen den Staat, begreife ich nicht. Ich kann mich nicht des Eindrucks erwehren, daß es nur damit zusammenhängt, daß die Gewalt der RAF gegen den Staat unmittelbar und gegen Persönlichkeiten des Staates und der Gesellschaft gerichtet war, während es heute die Armen der Gesellschaft trifft und deshalb unterschiedliche Maßstäbe angelegt werden. Natürlich sagt der Staat nicht, wir legen unterschiedliche Maßstäbe an, sondern man sagt: Im Gegensatz zur RAF ist das kein organisiertes Verbrechen, sondern es sind einzelne Gruppen, Taten Einzelner. Wenn man sich die Reihenfolge der Übergriffe anschaut, ist es aber offensichtlich falsch, noch von Einzeltätern zu sprechen. Im Februar versammelten sich z.B. 80 Rechtsradikale in aller Öffentlichkeit in Cottbus und es gab fünf Tage später in einer Nacht acht Überfälle und drei Schändungen jüdischer Friedhöfe in der gesamten Bundesrepublik. Und auch in Solingen hatte ich den Eindruck, daß viele versucht haben, sich daran zu klammem, daß es ein Einzeltäter, ein Asozialer, ein Betrunkener, ein nicht ganz Zurechnungsfähiger war. Das waren Strohhalme, nach denen die Politik griff, ohne zu sehen, was sich wirklich abspielt. Und ich will bei der Gelegenheit noch auf einen anderen Punkt hinweisen. Ich zähle zu den Erstunterzeichnern des Aufrufs für eine erleichterte Einbürgerung unter Inkaufnahme einer vorübergehenden oder längeren doppelten Staatsbürgerschaft. Ich plädiere dafür seit Jahren, ich habe dazu auf dem Bundesparteitag der SPD im November vergangenen Jahres gesprochen. Nur, darüber jetzt die Diskussion zu führen, um den Eindruck zu erwecken, als ob das ein Heilmittel gegen die Gewalt wäre, ist genau das Verkehrte, was man tun kann. Das sind zwei völlig unterschiedliche Probleme. Die Einbürgerung muß erleichtert werden. Es muß für hier Geborene ein Recht darauf geben. Nur, darüber zu diskutieren, um den Eindruck zu erwecken, als ob man damit bestehende Probleme lösen würde, das ist eine Illusion. Sie glauben doch nicht, daß für einen Rechtsradikalen ein Türke, der morgen deutscher Staatsbürger wird, kein Türke mehr ist und er ihn als seinen deutschen Bruder ansieht. Wenn manche meinen, weil es fünf türkische Todesopfer in Solingen gab, müssen wir nun - quasi als "ein Bonbon" - die Einbürgerung erleichtern, ist dies eine Verblendung. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 1999 |