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TEILDOKUMENT:




Karl-Ulrich Mayer
Erklärung und Folgen der Bevölkerungsentwicklung.
Anmerkungen zu dem Buch von Meinhard Miegel und
Stefanie Wahl: Das Ende des Individualismus


In dieser Republik gibt es nun bereits eine fast überwältigende Übereinstimmung darüber, daß die überkommenen Leitideen des so erfolgreichen „Modells Deutschland" – Exportwirtschaft plus Wohlfahrtsstaat unter amerikanischer Sicherheitshegemonie – nicht mehr greifen. Wir befinden uns in einer Situation wie der in der Mitte der sechziger Jahre, als Intellektuelle und praktische Politiker von links bis rechts über eine alternative Republik nachdachten und die Verkrustungen der Adenauer-Republik zum Abbruch freigaben.

Die gegenwärtige Situation ist – was die Einsicht in notwendige Veränderungen betrifft – ähnlich, aber sie unterscheidet sich auch grundsätzlich dadurch, daß weder alternative Analysen noch alternative Zukunftsszenarien, noch alternative politische Eliten in den Regierungsparteien noch eine regierungsfähige Opposition zur Verfügung stehen.

Die einzige Ausnahme in diesem trostlosen Bild ist eine doppelte, sich aber wechselseitig stützende Ideologieplanung, die schon seit über zehn Jahren propagiert wird, aber langsam das Selbstverständnis dieser Gesellschaft fast ausschließlich zu bestimmen scheint. Ich meine damit zum einen die unter anderem von Giersch erfundene Debatte zu den sich verschlechternden Bedingungen des Wirtschaftsstandorts Deutschland, die mit der geballten Kraft eines mit öffentlichen Mitteln geförderten Wirtschaftsforschungsinstituts vertreten wird und inzwischen ja zur Regierungsphilosophie geworden ist, zum anderen meine ich damit die Analysen und Politikvorschläge Meinhard Miegels zur Beschäftigungsentwicklung, zur Vermögensentwicklung und zu den Folgen der Bevölkerungsentwicklung für die Finanzierung der Systeme der sozialen Sicherung. Es scheint mir auch bemerkenswert, daß Giersch und Miegel sich an einem Punkt überlappen, nämlich bei den steigenden Arbeits-Nebenkosten und deren als katastrophal für die Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung unterstellten Folgen. Es ist gleichfalls bemerkenswert, daß der Miegel-Biedenkopf-Vorschlag des Übergangs zu einer Grundrente und zusätzlichen privat finanzierten Formen der Alterssicherung zunehmend an Unterstützung gewinnt und Blüm mit der Reparatur des Status quo zunehmend in die Defensive gerät.

Wenn auch die Analyse unterschiedliche Akzente setzt, so besteht doch Konsens über die Theorie: mehr Mündigkeit und Eigenverantwortung, weniger Staat, mehr neoklassischer Wirtschaftsliberalismus, weniger Besitzstände in der öffentlichen Verwaltung und in der Industriebürokratie, mehr Gemeinschaftswerte und gleichzeitig weniger Solidarität mit den Einkommensschwachen und sozial Ausgegrenzten.

Soviel zum aktuellen Kontext. In den folgenden Ausführungen halte ich mich an das Buch von Meinhard Miegel und Stefanie Wahl über das Ende des Individualismus. Ich werde mich dabei besonders auf die Aussagen zur demographischen Entwicklung, zu den unterstellten Folgen und den empfohlenen politischen Maßnahmen konzentrieren.

Gleich zu Beginn möchte ich festhalten, wo ich mit Meinhard Miegel übereinstimme.

1. Die deutsche Gesellschaftsentwicklung war in den vergangenen 100 Jahren und wird in Zukunft durch relativ extreme demographische Diskontinuitäten bestimmt, die sich vor allem in raschen Veränderungen der Alterszusammensetzung darstellen. Die deutsche Wiedervereinigung hat diese Diskontinuitäten verstärkt und, trotz des günstigeren Altersaufbaus in Ostdeutschland, wegen der einigungsbedingten Geburtenentwicklung und wegen Binnenwanderungen nicht abgeschwächt. Diese Diskontinuitäten erfordern einen besonders hohen Grad gesellschaftlicher Anpassungselastizität und politischer Steuerung.

2. Es ist nicht zu erwarten, daß sich die Richtung der Geburtenentwicklung und des Prozesses der Zunahme älterer Menschen grundlegend umkehrt.

3. Es ist nicht zu erwarten, daß ein größerer Teil der Soziallasten in die Verantwortung der Familien zurückverlagert werden kann.

4. Das gegenwärtige Niveau der sozialen Daseinsfürsorge durch den Sozialstaat entspricht weder den ökonomischen Möglichkeiten noch den selbstbestimmten Akteurfähigkeiten eines Großteils der Bevölkerung. Das gilt für die Gesundheitsfürsorge ebenso wie für die Wohnungsversorgung, die Altersversicherung und die Hochschulfinanzierung. Ein Teil der staatlichen Daseinsfürsorge ist fehlgeleitet und hilft nicht den wichtigsten Problemgruppen.

5. Eine Reihe gesellschaftlicher Probleme, zum Beispiel strukturelle Arbeitslosigkeit, Entwicklung der Gesundheitskosten, die Reintegration Ostdeutschlands, werden durch demographische Prozesse tendenziell eher zusätzlich belastet als entlastet.

6. Die Zuwanderung von Ausländern hat nicht nur unbestrittene ökonomische Vorteile, sie ist auch mit hohen Kosten, insbesondere Integrationskosten, verbunden. In der Vergangenheit hat die duale berufliche Ausbildung einen hohen Anteil an diesen Kosten erfolgreich getragen: Sie war eine der wichtigsten Integrationsmechanismen. Deren Krise (Mayer 1995) schlägt voll auf den Anstieg unqualifizierter ausländischer Jugendlicher durch und erhöht diese Kosten voraussichtlich erheblich.

Das Miegel-Wahl-Buch ist in vier Teile gegliedert, die ich getrennt kommentieren möchte.

  • Der Prozeß der Individualisierung als säkulare Werteentwicklung.
  • Die demographischen Wirkungen der Individualisierung, insbesondere für die Geburtenentwicklung.
  • Die Folgen des Rückganges der deutschen Bevölkerung.
  • Optionen einer Bevölkerungspolitik.

Grundthese ist: Individualistische Kulturen führten zu einem so großen Schwund der einheimischen Bevölkerung, daß ohne massive Gegensteuerung ein Verlust ihrer kulturellen Identität unausweichlich sei.

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1. Der Prozeß der Individualisierung als säkulare Werteentwicklung

Die geschichtsphilosophische Konstruktion eines säkularen Prozesses zunehmender Individualisierung und abnehmender Gemeinschaftsorientierungen und kollektiver Bindungen kann offensichtlich einen hohen Grad an Plausibilität für sich in Anspruch nehmen.

Ich möchte aber darauf aufmerksam machen,

  • a) daß eine solche Konstruktion auf einem höchst vagen allgemeinen und unpräzisen Individualisierungsbegriff beruht, der eine historische Rekonstruktion eher behindert als erleichtert;
  • b) daß die verfügbare empirische Evidenz über langfristige Werteentwicklungen die Hypothese einer einsinnigen Entwicklung von Kollektiv- zu Individualnormen eindeutig widerlegt hat und eher die Annahme zyklischer Werteentwicklungen stützt;
  • c) daß diese Theorie außer acht läßt, daß gesellschaftliche Differenzierungs- und Individualisierungstendenzen immer auch gleichzeitig von Integrations- und Vergemeinschaftungstendenzen begleitet waren;
  • d) daß die entscheidenden Ableitungen aus dieser Konstruktion, beispielsweise im Hinblick auf den Zusammenhang von Bildungsentwicklung, Bildungsunterschieden und Geburtenneigung, einer empirischen Überprüfung nicht standhalten.

Zu a):
Zum Individualisierungsbegriff

Die Erklärung aktueller Entwicklungen aus mehr als zweieinhalbtausendjährigen kulturellen Entwicklungen fällt mit Sicherheit in Wissenschaftsstile zurück, die spätestens seit Popper überwunden sein sollten, nämlich in relativ diffuse Behauptungssysteme, die sich grundsätzlich empirischer Falsifikation entziehen und daher beliebig sind. Minimal müßte aber der Individualisierungsbegriff präzisiert und historisch differenziert werden. Zum Beispiel hat Junge (1996) im Anschluß an van de Loo/van Reijen (1992) vorgeschlagen, in einer historischen Sequenz zwischen Zivilisierung (Elias 1976), Differenzierung (Durkheim 1977), Rationalisierung (Weber 1920) und Individualisierung (Beck 1986) zu unterscheiden.

Zivilisierung betrifft den Prozeß der Kontrolle der äußeren, aber vor allem der inneren Natur des Menschen im Kontext staatlicher Gewaltmonopolisierung. Rationalisierung zielt auf die Pluralisierung verschiedener Wertauffassungen und deren subjektive Verarbeitung. Differenzierung bezieht sich auf die Unterscheidung unterschiedlicher Handlungssphären und deren individuelle Teilhabe an mehreren Handlungsfeldern. Und erst der in der späten Nachkriegszeit der siebziger Jahre anzusetzende Prozeß der Individualisierung postuliert den individuellen Akteur als Gestalter seines je eigenen, nicht-kollektiven Lebensentwurfs. Erst in dieser Phase kann möglicherweise davon gesprochen werden, daß je individuelle Einzelinteressen, nicht nur der Männer, sondern auch der Frauen und Kinder, nicht nur gegenüber Staat und Kirche, lokaler Gemeinschaft und Verwandtschaft definiert und durchgesetzt werden, sondern auch gegenüber der eigenen Familie.

Zu b):
Zur empirischen Evidenz säkularer Werteentwicklung

Wenn ich der Argumentation von Miegel im ersten Teil richtig folge, so wird eine relativ einsinnige Entwicklung zu mehr Individualnormen unterstellt, mit gewissen Ausnahmen, zum Beispiel im Mittelalter, im Faschismus und Sozialismus. Es ist aber nicht nur deutlich zu unterscheiden zwischen Normen allgemeiner Individualität einerseits, beispielsweise der Herausbildung des Individuums als Rechtssubjekt oder die individuelle Heilsverantwortlichkeit vor Gott, und andererseits Normen besonderer Individualität, die unter anderem in Moden, differenzierten Lebensstilen u.ä. zum Ausdruck kommen (Simmel 1922, Kohli 1988). Die ersteren sind – wie zum Beispiel im Calvinismus – mit unerbittlich durchgesetzten kollektiven Normen vereinbar.

Empirisch stringente Untersuchungen zur langfristigen Kulturentwicklung sind äußerst rar. Die von Namenwirth und Weber (1987) vorgelegten Analysen, die den Zeitraum ab 1689 umfassen, belegen allerdings eindeutig, daß die Vorstellung linearer und kontinuierlicher kultureller Entwicklung nicht haltbar ist, sondern daß die verfügbare Evidenz für zyklische Entwicklungen spricht, die auch wechselnde Normierungen von Kollektiv- und Individualitätsnormen einschließen.

Zu c):
Zum Verhältnis von Individualisierung, Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung

Der Individualisierungsthese, wie Miegel/Wahl sie vorgetragen haben, liegt die Vorstellung zugrunde, normative Bindungen, kollektive Orientierung und Verpflichtungen gegenüber Gemeinschaften würden sich zunehmend auflösen, bis hin zur Ausbildung einer autistischen Gesellschaft (Hoffmann-Nowotny 1991). Dies ist seit Riehl (1861) ein uralter Topos der konservativen Kulturkritik. Mindestens seit Emile Durkheims Theorie des Übergangs von mechanischer zu organischer Solidarität ist es ein konstanter Topos der soziologischen Theorie, daß Differenzierung immer auch mit Integration und der Verlust traditionaler zugeschriebener Bindungen durch die Ausbildung neuer selbstgewählter Bindungen kompensiert wurde. Die alte Kulturkritik des wurzellosen Großstädters – die auch in diesem Buch wieder auftritt – hat keiner empirischen Überprüfung je standgehalten. Eine ganze Reihe von Langzeittrends weisen eher in die umgekehrte Richtung: beispielsweise zunehmende Heiratsquoten, abnehmende und geringe räumliche Mobilität, stärkere informelle Einbettungen in Freundeskreise und Nachbarschaft.

Zu d):
Zum Zusammenhang von Bildungsexpansion, Bildungsunterschieden und Geburtenentwicklung (Huinink 1995)

Miegel und Wahl finden in ihrer säkularen Betrachtungsweise vor allem zwei Sündenböcke für die abnehmende Geburtenneigung, die näher an die Gegenwart heranführen: die Bildungsexpansion und die Erwerbstätigkeit von Frauen.

Auch hier muß man bei einer weniger großflächigen Betrachtung erhebliche Zweifel anmelden. So ist es zum Beispiel nicht richtig, daß die Kinderzahl in einem jüngeren Kohortenvergleich mit dem Bildungsniveau der Eltern abnimmt. Das Gegenteil ist der Fall (Huinink 1995). Zum zweiten wäre nach der Argumentation von Miegel und Wahl zu erwarten, daß eine enge Korrelation zwischen der Erwerbsquote von Frauen und Geburtenindikatoren bestehen müßte. Ein solcher Zusammenhang läßt sich weder im historischen noch im internationalen Vergleich feststellen. Schweden, Frankreich und die USA haben höhere Geburtenraten und höhere Frauenerwerbsquoten als die Bundesrepublik.

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2. Demographische Wirkungen der Individualisierung

Ich komme damit zum zweiten Teil des Buches, zu den demographischen Wirkungen der Individualisierung. Im großen und ganzen habe ich keine Einwände gegen die deskriptive Darstellung der Bevölkerungsentwicklung der Vergangenheit in diesem Teil.

Freilich sind folgende Punkte festzuhalten:

  • Die Zurechnung der beschriebenen demographischen Daten zur Theorie der Kulturentwicklung ist völlig fiktiv. So kann diese Theorie eben weder die Umkehr des Geburtenrückgangs nach 1930 noch den Geburtenanstieg in den frühen sechziger Jahren erklären.
  • Wie Miegel und Wahl dazu kommen, Japan zu den individualistischen Kulturen zu zählen, ist mir unerfindlich. Es scheint hier eher so, daß diese Gruppenzuordnung vom Ergebnis her – also von den Geburtenraten – vorgenommen worden ist. Seriöse Wissenschaft ist das nicht.
  • Im Hinblick auf die berichteten Bevölkerungsprognosen muß man wissen, daß sie sich in der Vergangenheit durchweg als fehlerhaft erwiesen haben. Prognosefähig ist im Groben die Lebenserwartung und die Zahl der zu erwartenden Frauen im gebärfähigen Alter.
  • Ich weiß nicht, woher irgend jemand wissen kann, wie groß die deutsche Bevölkerung in den Jahren 2050 und 2100 sein wird (wie z.B. in Schaubild 12, S. 94). Dies muß auf beliebig gegriffenen Annahmen beruhen.
  • Es ist für den zentralen Kern der Argumentation von Miegel/Wahl höchst folgenreich, wenn die Netto-Reproduktionsrate seit 1920 unter dem Bestandserhaltungsniveau liegt, ein Bevölkerungsrückgang tatsächlich aber nicht stattgefunden, sondern die absolute Bevölkerungsgröße vielmehr um fast ein Drittel zugenommen hat.
  • Wenn man sich die Mikroprozesse genauer betrachtet, so zeigt es sich, daß Familiennormen in jeder Generation neu entwickelt und Entscheidungen für oder gegen Kinder in jeder Generation neu getroffen werden müssen. Dabei muß man bedenken, daß der weitaus überwiegende Anteil von Kindern unverändert in Familien mit Geschwistern aufwächst, also mit einem „normalen" Familienmodell, was die Kinderzahl anbelangt. Die Kinderlosen reproduzieren keine Normen für die Kinder der nächsten Generation. Von daher verbieten sich lineare Prognosen der zukünftigen Geburtenentwicklung.

Was bedeutet das? Dies bedeutet unter anderem,

  • daß die Entwicklung der Größe der Gesamtbevölkerung sehr unsicher ist (es gibt riesige Schwankungen in den verfügbaren Prognosen zwischen Stabilität, Zuwachs und drastischem Rückgang), daß aber sehr viel dafür spricht, daß Deutschland in einem erweiterten Europa mit Freizügigkeit eher ein Zuwanderungs- als ein Abwanderungsland sein wird, selbst dann, wenn die Schotten um die Festung Europa dicht gemacht werden.
  • Es ist theoretisch nicht gut begründet, aber plausibel, daß die Anteile Kinderloser eher steigen oder stabil bleiben als abnehmen – bei konstanten familienpolitischen Randbedingungen –, und es ist sicher, daß die Anzahl und der Anteil älterer Menschen zunimmt. Absolut sicher ist also eine Verschiebung der Altersstruktur in den kommenden 35 Jahren zu Lasten der Kinder und der aktiven Bevölkerung.
  • Es wird noch erhebliche Zugewinne in der Lebenserwartung geben, und zwar ausschließlich aufgrund sinkender Mortalitätsraten der über 70- und 80jährigen. Fast alle Bevölkerungsvorausschätzungen überschätzen gegenwärtig die Mortalitätsraten älterer Menschen. Das wird die ausgeführten Tendenzen der Veränderung der Altersstruktur zu Lasten Jüngerer und zugunsten Älterer noch verstärken.
  • Die Theorie der Kulturentwicklung von Miegel und Wahl trägt zur Erklärung der Bevölkerungsentwicklung nichts bei. Daher wird sie auch für eine Therapie oder Interventionsstrategie nicht tauglich sein. Eine kulturelle Makrotheorie, zumal eine säkularen Zuschnitts, kann das Ergebnis des Aggregats individueller Entscheidungen nicht erklären. Eine Theorie der Geburtenentwicklung muß die Makroebenen der Kultur mit den institutionellen Vorgaben und der Mesoebene kollektiver Verbände und der Ebene individueller Biographien und Entscheidungen verknüpfen. Erst auf einer solchen Grundlage wäre eine erklärende Rekonstruktion und eine tragfähige Prognose möglich. Es ist freilich nicht die Schuld der Autoren, daß sie auf eine solche ausgearbeitete Theorie nicht zurückgreifen konnten. Formale Aggregatdemographie, Geschichtswissenschaft, Soziologie und Ökonomik haben ihre theoretischen und empirischen Potentiale nie hinreichend integriert: Dies ist eine offene Anforderung an die wissenschaftliche Forschung. Es gibt dazu aber im Hinblick auf die Geburtenentwicklung bereits sehr viel weiter entwickelte Untersuchungen (Huinink 1995; Huinink/ Mayer 1995).


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3. Die Bevölkerungsentwicklung und ihre Folgen

Das Kapitel über die Folgen des zahlenmäßigen Bevölkerungsrückganges ist für die Argumentation offensichtlich zentral. Dennoch nimmt es nicht nur mit 18 von über 200 Seiten einen kleinen Raum ein. Die Thesen werden auch nur suggestiv vorgetragen und kaum begründet. Wie die Fußnoten ausweisen, ist die wissenschaftliche Basis äußerst mager. Viel Arbeit wurde hier offenbar nicht investiert.

Um die Folgen der vermutlichen Bevölkerungsentwicklung abzuschätzen, hat es vor allem wenig Sinn, von einer in jeder Hinsicht problematischen Konstruktion einer deutschen Bevölkerung auszugehen, sondern man muß m.E. die Probleme der Veränderungen der Bevölkerungsgröße und der Bevölkerungszusammensetzung und die Folgen davon von den Vor- und Nachteilen weiterer oder zusätzlicher Zuwanderungen getrennt behandeln.

Ein sinnvollerer, aber auch keineswegs gut gesicherter Ausgangspunkt sind die folgenden Bevölkerungsprojektionen aus dem Zwischenbericht der Enquête-Kommission Demographischer Wandel (1994) des Bundestages:

  • bei unveränderter Geburten- und Sterbeentwicklung und ohne Zuwanderungen würde die Bevölkerung bis zum Jahr 2030 auf 62 Millionen schrumpfen (Nullvariante nach Steinmann);
  • bei einer konstanten Geburtenrate, geringen Steigerungen der Lebenserwartung und geringen Zuwanderungen wäre ein Rückgang auf ca. 73 Millionen Menschen zu erwarten;
  • bei der Annahme höherer Zuwanderungen könnte die Bevölkerung in den nächsten 30 Jahren noch um einige Millionen wachsen, würde aber auch dann bis zum Jahr 2040 auf 73 bis 77 Millionen absinken.

Die von Miegel/Wahl vertretene These des Aussterbens der Bevölkerung ist mithin blanker Unsinn.

Gemeinsam ist aber allen Bevölkerungsprojektionen die Annahme einer drastischen Veränderung der Altersstruktur:

  • über 65jährige von 14 auf 24%; unter 20jährige von 22 auf 16%; Anstieg des Durchschnittsalters von 37 auf 48 Jahre;
  • über 65jährige von 16 auf 27%;
  • der Altenquotient, d.h. der Anteil der über 65jährigen bezogen auf die 15- bis 65jährigen würde von 23 auf 46% ansteigen;
  • besonders stark würde der Anteil und die absolute Anzahl der Hochbetagten zunehmen:
  • die Anzahl der 70- bis 85jährigen würde auf 10,5 Millionen steigen und die Anzahl der über 85jährigen würde sich fast verdoppeln von 1,2 auf 2,3 Millionen;
  • besonders massiv erscheinen diese Veränderungen, wenn man die sogenannten Soziallastquoten anschaut, d.h. das Verhältnis der potentiell aktiven Bevölkerung zu den als Kinder oder alte Menschen ökonomisch Abhängigen: auf 100 20- bis 60jährige kämen im Jahr 2020 ca. 40 Kinder und 80 alte Menschen;
  • neben der Sozial- und Altenlast erscheint für manche Beobachter, zu denen neben Miegel und Wahl sicher auch die gegenwärtige Bundesregierung zählt, die relative Zunahme der nicht-einheimischen Bevölkerung als besonders gravierend: von 7 auf 12 Millionen bei einem Absinken der Bevölkerung auf ca. 73 Millionen.

Umgekehrt kann man berechnen, welche Zuwanderungen erforderlich wären, um die gegenwärtige in ihren Auswirkungen bereits als schwierig empfundene Altersquote von ca. 35% aufrechtzuerhalten. Bis zum Jahr 2000 müßten 15,5 Millionen zuwandern, d.h. jährlich bis zu 3.3 Millionen. Bis zum Jahr 2010 müßte die Bevölkerung dann bis auf 114 Millionen, also um 34 Millionen wachsen.

Um auch nur die Erwerbsbevölkerung stabil zu halten, wäre eine Zuwanderung von ca. 700.000 pro Jahr erforderlich.

Daraus kann man die Schlußfolgerung ziehen, daß die Alterung der Bevölkerung auf jeden Fall unausweichlich ist. Weniger unausweichlich ist aber das Schrumpfen der Bevölkerung insgesamt. Auf einen Punkt muß man mit den Autoren allerdings besonders hinweisen. Die massiven Verschiebungen der Altersstruktur und noch mehr das mögliche Schrumpfen der Bevölkerung sind rein quantitativ kein Problem des unmittelbar bevorstehenden Jahrzehnts, sondern vor allem der Jahre 2015 bis 2030.

Die Wiedervereinigung hat im übrigen die genannten Prozesse einerseits abgemildert, weil die Lebenserwartung der Ostdeutschen geringer war, die Kinderzahlen höher und der Generationszyklus schneller, weil Frauen in der DDR ihre Kinder sehr viel früher bekamen als in Westdeutschland und, schließlich, weil die Zahl der Ausländer in den neuen Bundesländern sehr gering ist (nur 3% der Ausländer wohnen dort). Anderseits wurden die demographischen Diskontinuitäten durch den Geburtenabfall und die Binnenwanderungen in und aus Ostdeutschland verschärft.

Miegel/Wahl erwarten folgende Konsequenzen der demographischen Veränderungen. Schwergewichtig handelte es sich um Folgen der Veränderung der Altersstruktur:

  • Ausdehnung der Altersphase,
  • Erhöhung der Soziallast und eine Krise der sozialen Sicherungssysteme,
  • Zunahme der Gesundheitskosten,
  • Zunahme der Hochbetagten und Pflegebedürftigen,
  • Abnahme der Zahl Auszubildender,
  • Abnahme der Erwerbspopulation,
  • Rückgang des Wirtschaftswachstums,
  • Verfall von Vermögenswerten,
  • Verschiebung des internationalen Wettbewerbs,
  • konservativere Bevölkerung,
  • Rückgang der Innovationsfähigkeit,
  • mehr Abhängigkeit vom Staat.

Ausdehnung der Altersphase, Erhöhung der Ausgaben für die Alterssicherung, höhere Beitragsbelastung der Aktiven oder strukturelle Eingriffe, höhere Gesundheitskosten: Die erste offensichtliche Folge der Veränderung der Altersstruktur ist die Ausdehnung des Lebens im Alter als einer eigenständigen und relativ langen Lebensphase von 15 bis 25 Jahren, wenn man von dem faktischen mittleren Verrentungsalter von etwa 60 Jahren ausgeht. Dies ist nicht mehr der Lebensabend der Vergangenheit, sondern ist eine Phase, die selbst sinnvoll und aktiv gestaltet werden muß. Damit steigen bei konstanten Ansprüchen die Ausgaben für die Alterssicherung und die Beitragsbelastungen der aktiven Bevölkerung. Darüber gibt es sicher keinen Dissens.

Einen berechtigten Dissens oder – besser gesagt – ein Noch-Nicht-Wissen der Wissenschaft gibt es aber darüber, ob mit der verlängerten Altersphase nicht nur die Jahre im Ruhestand und die Anzahl älterer Menschen zunehmen, sondern auch die Gesundheitskosten. Hier geht es im wesentlichen um die Frage, ob die Dauer chronischer Krankheit, von Pflege- und Hilfsbedürftigkeit mit der Ausweitung der Lebensspanne zunimmt, konstant bleibt oder abnimmt. Insbesondere geht es um die Frage, wie sich die Altersdemenz, Herzkrankheiten und Krankheiten des Knochenbaus und Bewegungsapparates entwickeln.

Die Gesundheitskosten älterer Menschen betragen das 4- bis 7fache der Gesundheitsausgaben für Kinder und Erwachsene im mittleren Alter (Dudek 1995). Die Befunde unserer Berliner Altersstudie (Mayer/Baltes 1996) belegen im Querschnitt die sehr viel höhere Gebrechlichkeit über 80- und 85jähriger hochaltriger Frauen, aber sie sagen nichts darüber aus, wie sich dieses Bild im Zeitverlauf verändert. Die besten verfügbaren amerikanischen und international vergleichbaren Studien gehen von einer Abnahme der relativen Dauer chronischer Krankheit aus (Committee on National Statistics 1994). Was für eine Schlußfolgerung muß die Politik aus einem solchen Befund ziehen? Eine vorsichtige Politik wird sich darauf einstellen, daß Zunahmen der über 80jährigen weiblichen Bevölkerung mit einer überproportionalen Zunahme chronischer Krankheit und Pflegebedürftigkeit verbunden sein werden. Andererseits muß man beachten, daß es sich doch um begrenzte Zahlen handelt, wenn man etwa von einem Anstieg der über 80jährigen von 3 auf 4,5 Millionen ausgehen muß. Billiger wäre auf jeden Fall die bescheidene Investition in eine Kohorten-Sequenz-Längsschnittstudie.

Abnahme der Zahl Auszubildender. Die Folgen der demographischen Veränderungen für die Bildungsbeteiligung machen zwei Dinge besonders anschaulich. Zum einen sind rein trenddemographische Prognosen völlig ungeeignet, die tatsächliche Entwicklung vorauszusagen. Gesellschaftliche Entwicklungen werden durch den demographischen Wandel verstärkt oder abgeschwächt, aber nur selten zentral bestimmt. Zum andern sind für die Bildungspolitik demographische Diskontinuität und regionale Disparitäten in der absoluten Anzahl der Schüler und Auszubildenden von sehr viel größerer Bedeutung als der nationale Großtrend. Zweifellos führt die wellenförmige Bewegung der Altersgruppen zu einer ungleichen und sich rasch ändernden Belastung der Infrastruktur. Wir haben allerdings alle erlebt, wie wenig hilfreich die rein demographisch basierten Prognosen für die benötigten Lehrstellen und für die Studentenzahlen waren und sind.

Bei den Schulkindern erleben wir gegenwärtig wiederum die Folgen dieses naiven demographischen Trenddeterminismus. Die Schülerzahlen nehmen wegen des Geburtenanstiegs ihrer Elterngeneration bis 1964 wieder zu, aber Kultur- und Finanzminister sind zurückhaltend, genügend Schulraum und vor allem Lehrer bereitzustellen, weil sie wissen, daß danach die Schülerzahlen stark rückläufig werden. Damit wächst die Gefahr zu geringer Investitionen in Kinder.

Im übrigen sind z.B. die Studentenzahlen sehr viel stärker von der Studiendauer abhängig als von der absoluten Anzahl der Studienanfänger. Dies zeigen die Studenten der Verwaltungsfachhochschulen sehr eindringlich: Sie stellen 3% aller Studierenden, aber 7% aller Studienabsolventen. Das Beispiel dualer Studiengänge zeigt auch, daß eine erfolgreiche Interventionspolitik in bestimmten Grenzen durchaus möglich sein könnte (Wissenschaftsrat 1996).

Wenn das Durchschnittsalter der Erwerbstätigen steigt, ist allerdings zu befürchten, daß Qualifikationen stärker veralten und die Innovationsrate durch neue, junge und auf dem neuesten Stand Qualifizierte gefährdet wird. Wir wissen, daß die Weiterbildungsneigung sehr stark auf das Alter unter 35 Jahren beschränkt ist, so daß bei einer Konstanz dieser Bedingungen das Qualifikationspotential bedroht wäre.

Reaktionen des Arbeitsmarktes und Sinken der Wirtschaftskraft. Miegel/ Wahl zeigen in ihren wirtschaftspolitischen Überlegungen, daß sie die komplexen Beziehungen zwischen Bevölkerungsentwicklung, Arbeitslosigkeit, Produktivität und Wachstum zu gut kennen, um zu eindeutigen Aussagen zu gelangen.

Makroökonomen kommen bei ihren Modellrechnungen zumeist zu dem Ergebnis, daß alternde und schrumpfende Bevölkerungen die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen und damit das Wirtschaftswachstum dämpfen. Dies ist letzten Endes schwer zu kalkulieren, da qualitative Nachfrageniveaus, Arbeitsproduktivität, Konsum und Sparneigung sich gegenläufig ändern könnten. Ziemlich sicher dürfte aber sein, daß die Ausstattung mit langlebigen Konsumgütern, wie Möbeln und Haushaltsgeräten, im Volumen zurückgeht und die Nachfrage nach Wohnungen für neue junge Haushalte ebenfalls zurückgeht. Es scheint aber auch offensichtlich, daß eine Entlastung des Arbeitsmarktes nur wünschenswert sein kann.

Verfall traditioneller Vermögenswerte. Miegel hat sich m.E. große Verdienste dadurch erworben, daß er sehr früh auf die enormen Vermögensübertragungen der heute 60- bis 80jährigen an ihre Kinder hingewiesen hat. Hinzu kommen die laufenden Einkommensübertragungen älterer Menschen an ihre Kinder und Enkel, die nach Befunden der Berliner Altersstudie durchschnittlich ca. 10.000,– DM pro Jahr betragen. Da diese Übertragungen die Einkommens- und Vermögensverteilung noch ungleicher machen und diese Ungleichheit durch die Ost-West-Unterschiede noch verstärkt wird, ist allerdings nicht leicht vorstellbar, wie diese Mittel ohne drastische Erhöhung der Erbschaftssteuern zur Entlastung der Alterssicherung eingesetzt werden können. Da es sich bei der Vererbung von Vermögenswerten vor allem um Wohneigentum handelt, hat das Bundesverfassungsgericht in seinem jüngsten Urteil einer solchen Wertabschöpfung enge Grenzen gesetzt. Leider hat das Bundesverfassungsgesetz dabei übersehen, daß ca. 2/3 derjenigen, die Immobilien erben, bereits selbst über Wohneigentum verfügen (Lauterbach/Lüscher 1996).

Sehr plausibel erscheint zunächst auch, daß der Zuwachs an Vermögen und laufenden Vermögenserträgen die Erwerbsneigung und ökonomische Leistungsbereitschaft schwächen könnte. Dabei muß freilich bedacht werden, daß die meisten Vererbungen heutzutage an 50- bis 60jährige Kinder erfolgen (Lauterbach/Lüscher 1996) und damit eher die Bereitschaft zum vorzeitigen Übergang in den Ruhestand erhöhen dürften. Ziemlich fraglich erscheinen mir hingegen die Überlegungen von Miegel/Wahl, nach denen die Vermögensbestände dadurch ihren Wert verlieren werden, weil alte Menschen sie für überhöhte Preise in der Pflege einsetzen werden. Die Pflegeversicherung hat dem wenigstens zum Teil einen Riegel vorgeschoben.

Bedeutungsverfall der Familie. Ich teile die Diagnose von Miegel/Wahl, daß die Veränderung der Kinderzahlen und Haushaltsstrukturen die relative Bedeutung der Familie als gesellschaftliche Institution schwächen wird. Allerdings gilt dies eben nicht aus der Perspektive der Kinder, die immer noch überwiegend in vollständigen Familien mit Geschwistern aufwachsen.

Wie neuere Analysen zur Familienentwicklung (Huinink 1995) zeigen, ist vor allem eine Polarisierung des Familienverhaltens festzustellen, und zwar zum Beispiel relativ unabhängig vom Bildungs- und Einkommensniveau: Kinderlosigkeit auf der einen Seite und Zwei-Kinder-Familien auf der anderen Seite.

Mehr Abhängigkeit vom Staat. Wenn die Leistungen für alte Menschen nicht oder in geringerem Maße durch Familien der Kinder erbracht werden können, weil in der Regel – wenn überhaupt – die Töchter oder Stieftöchter die Pflege übernehmen, dann steigen die Anforderungen an das Gemeinwesen, Dienstleistungen für alte Menschen bereitzustellen und zu finanzieren. Die Einführung der Pflegeversicherung ist dafür eine erste Reaktion. Hinzu kommt, daß die Vergütungen und die Qualifikation der Pflegekräfte mit Sicherheit ansteigen müssen. Soweit teile ich die Analyse von Miegel/Wahl. Allerdings ist es bereits heute – nach den Befunden der Berliner Altersstudie – so, daß Hilfs- und Pflegebedürftige auch mit Kindern am selben Ort weit überwiegend nicht von diesen betreut und gepflegt werden.

Folgen des Schrumpfens der deutschen Bevölkerung: Verlust kultureller und nationaler Identität, Zerfall der Familie, Sozialisationsdefizite, zunehmender Egoismus.

Sowohl durch die Alterung als auch durch die mögliche Schrumpfung der Bevölkerung, aber auch möglicherweise sogar unabhängig davon wird der Druck auf eine Zuwanderung zunehmen. Das Krisenszenario von Miegel und Wahl schreibt das Menetekel einer Gesellschaft an die Wand, die ihre kulturelle Identität verliert.

Ferner wird eine Werteverschiebung erwartet, wenn die altruistische Orientierung und Fürsorge für Kinder erodiert. Oder umgekehrt, Konsumorientierung, individualistische Orientierung und rationales Kalkül werden als die wesentliche Ursache für eine Gesellschaft mit immer weniger Kindern gewertet.

Ich finde diesen Aspekt der Diagnose von Miegel und Wahl besonders wenig überzeugend und in sich widersprüchlich. Zum einen weiß ich nicht, was die kulturelle Identität der Deutschen heutzutage sein soll. Jeder weiß aber, wie verheerend in der Vergangenheit eine Bevölkerungspolitik war, die sich an diesem Konstrukt festgemacht hat. Schon heute dürften die übernationalen Aspekte unserer Identität weit überwiegen. Unsere Kulturproduktion geschieht primär in Hollywood und New York.

Zum andern sind es gerade die Zuwanderer – aber auch die Ostdeutschen –, die stärkere Familienwerte und Familienbindungen mitbringen und – zum Teil durch gemischte Heiraten – vermitteln. Dies braucht kein problematischerer Prozeß zu sein als derjenige, der sich aus der geringeren Geburtenneigung der Großstädte und dem ständigen Zuzug aus der Landbevölkerung während des vergangenen Jahrhunderts ergab.

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4. Bevölkerungspolitische Optionen

Ich teile im großen und ganzen die abgewogenen und reflektierten Zukunftsszenarien, die Miegel und Wahl entwickeln:

  • die geringe Wahrscheinlichkeit so massiver Veränderungen der Geburtenneigung, daß die Veränderung der Altersstruktur ausgeglichen werden könnte;
  • die Notwendigkeit geregelter Zuwanderung und verstärkter Integrations- und Assimilationsbemühungen;
  • die zunehmende Bedeutung lebenslangen Lernens unter den Bedingungen schrumpfender nachwachsender Neuqualifikationen sowie
  • ; die Erhöhung der Produktivität.

Ich möchte aber in einigen Punkten etwas andere Akzente setzen:

1. Wenn man sich vor Augen hält, welche großen Integrations- und Assimilationsleistungen unsere Gesellschaft im Hinblick auf Zuwanderer in einem sehr viel geschlosseneren kulturellen Binnenmilieu in der Vergangenheit geleistet hat, braucht man sich um Gefahren des Verlusts kultureller und ethnischer Identitäten weniger Sorgen zu machen. Ich räume allerdings ein, daß ein hochentwickelter Wohlfahrtsstaat besonders hohe Anforderungen stellt an gemeinsam akzeptierte Grenzen der Solidargemeinschaft. Ein deregulierter und leistungsarmer Wohlfahrtsstaat würde eine höhere Akzeptanz von Zuwanderung ermöglichen. Nur auf diesem Hintergrund könnten die USA oder Kanada zu einem Zuwanderungsmodell werden.

2. Ich teile nicht die Auffassung der Autoren, daß der Zuwanderungsdruck aus Mittel- und Osteuropa rasch wieder abnehmen könnte. Die jüngeren, qualifizierteren und dynamischeren Zuwanderer aus diesen Staaten könnten unsere Probleme abmildern. Dies erscheint mir sogar recht wahrscheinlich. Dies würde aber erkauft um den Preis beeinträchtigter Entwicklungen in diesen Ländern selbst.

3. Sterbehilfe oder selbst weitergehende Rationierungen medizinischer Leistungen für Hochbetagte scheinen mir ethisch unvertretbar. Ein probates Mittel der Minderung der Alterslast sind sie nicht. Hier gibt es noch ein großes, kaum ausgeschöpftes Potential der Rehabilitation kranker älterer Menschen, das für Kostendämpfungen eingesetzt werden könnte.

4. Die Autoren versprechen sich viel von der dynamischen Anpassung, d.h. Anhebung der Jugend- und Altenaltersgrenzen zur Entlastung der sozialen Sicherungssysteme. Ich halte dagegen den graduellen Anstieg des Alters beim Eintritt ins Erwerbsleben auf Grund verlängerter Ausbildungszeiten für wenig wünschenswert, insbesondere im Hinblick auf die Innovationsfähigkeit und Produktivität der Wirtschaft, und die faktische Anhebung des Übertritts in den Ruhestand für wenig wahrscheinlich – ungeachtet gesetzlicher Änderungen (Mayer 1992).

Auch der weitergehende Vorschlag einer Aufhebung der starren lebenszeitlichen Sequenz von Ausbildung, Erwerbsarbeit und Ruhestand (Riley/ Kahn/Foner 1994) scheint mir unter den Bedingungen des gegenwärtigen deutschen Institutionengefüges (duale Ausbildung, berufssegmentierter Arbeitsmarkt, Effizienzlöhne, nicht-staatlich finanzierte Weiterbildung und beitragsabhängige Alterssicherung) nahezu ausgeschlossen (Mayer 1992).

5. Ich möchte hier nicht in die Debatte um die Einführung einer Grundrente eintreten, aber ich sehe weder, wie das Mackenroth’sche Gesetz (Deckung der Alterssicherung aus Periodenerträgen) beim Übergang von einem Umlage- zu einem Versicherungssystem außer Kraft gesetzt werden kann, noch wie die Doppelbelastungen der Übergangsphase bewältigt werden könnten. Realistischer schiene mir eine graduelle Rentenkürzung, die dann zum Teil, nämlich von den Wohlhabenderen, durch Ersparnisse und Vermögen ausgeglichen werden könnte – freilich mit der Folge größerer Ungleichheit der Alterseinkommen.

6. Geschichtsphilosophische Konstruktionen wie die von Miegel und beschworene säkulare Individualisierung verheißen einen gesicherten Blick in die Zukunft. Ganz im Gegensatz dazu bedeutet Individualisierung aber Zunahme von Wahlfreiheit und damit eine offene, weniger leicht vorhersagbare Zukunft. In einer solchen Zukunft ist dann auch denkbar, daß der Grenznutzen individualistischer Lebensstile und Lebensstrategien auch einmal wieder abnimmt und – bei besser staatlich geförderter und besser partnerschaftlich getragener Vereinbarkeit von Beruf und Familie – die Zwei-Kinder-Familie wieder an Attraktivität gewinnt. Für diese Tendenz gibt es nicht nur das Beispiel Schwedens der achtziger Jahre, sondern auch empirische Tendenzen in Deutschland (Huinink 1995).

Meinhard Miegel und Stefanie Wahl haben eine Studie vorgelegt, deren Schlußfolgerungen – von der unrealistischen Forderung nach einer Rückkehr zu Gemeinschaftswerten abgesehen – wichtig und weitgehend richtig oder hoch wahrscheinlich sind. Diese Schlußfolgerungen und Zukunftsszenarien sind aber bestenfalls locker mit der Theorie der Kulturentwicklung und den Analysen zur Bevölkerungsentwicklung und ihren Folgen verbunden. Sowohl die theoretische Erklärungsweise als auch die demographischen Analysen entsprechen nicht dem Stand der wissenschaftlichen Forschung und sind außerordentlich problematisch. Nicht zuletzt zeigt dieses Buch aber einen gravierenden Mangel an wissenschaftlichen Grundlagen für eine unabweisbare Politikberatung, den die Autoren nur zum Teil selbst zu vertreten haben.

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Literatur

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© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 1999

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