FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:




Cora Stephan:
Wider die Moralisierung.
Diskussionsbeitrag zu den Thesen von Meinhard Miegel


Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß wir hierzulande immer, wenn es ein Verteilungsproblem gibt, in eine Werte- und Tugenddebatte einstimmen. So ist es heute, wo der Zwang zur Selbstbescheidung unübersehbar geworden ist; so war es auch 1990, als deutlich wurde, daß kein Weg an der deutschen Einheit vorbeiführte. Damals beglückten Politiker ein überraschtes Publikum mit der intensiven Erörterung des westdeutschen Charakters, die im Vorwurf des Egoismus und der Teilungsunwilligkeit mündete, noch bevor die Probe aufs Exempel gemacht worden war – noch bevor nämlich die Regierung den Bürgern mitgeteilt hatte, auf welche Weise und in welcher Höhe denn ihr Altruismus herausgefordert sein würde. Diese vorauseilenden Egoismus-Vorwürfe machen mich mißtrauisch und ich kann nicht verhehlen, daß es mir schwerfällt, Meinhard Miegels Unterscheidung zwischen Individualismus und Gemeinwohlorientiertheit nicht dieser Sorte von Moraldebatten zuzuschlagen.

Sie sind beliebt in diesem Land, zugegeben: jeder kann ja mitreden bei der Erörterung des menschlichen Charakters, sich selbst an die Brust schlagen und Sensibilität erkennen lassen. Es sind bezeichnenderweise stets die durchaus tugendhaften Vertreter unserer Mittelschichten, die am lautesten verkündeten, sie lebten in einer eiskalten Ellenbogengesellschaft – ganz, als ob sie selbst keinerlei Einfluß auf den moralischen Zuschnitt der Gesellschaft hätten. Ich halte dagegen, daß die Menschen heute über soviel oder sowenig Tugend und Gemeinsinn verfügen wie eh und je. Sie haben sich indes Institutionen, Kanäle für ihre „Solidarität" geschaffen, die diesen Gemeinsinn weniger als individuelle Charakterstärke erscheinen lassen denn als abstrakte Größe. Auch das hat natürlich wenig mit menschlicher Herzenswärme bzw. mit dem Fehlen derselben zu tun, sondern mit der Logik der Sache und es ist sehr die Frage, ob sich an dieser Logik bereits etwas bewegen läßt, wenn wir nur, wie Miegel fordert, zu neuen „Normen" finden. Ich fürchte, die Sache übersteigt die moralische Einsichtsfähigkeit eines jeden einzelnen.

Meinhard Miegel postuliert zu Recht, man möge das, was er „Individualismus" nennt, nicht mit „Individualisierung" gleichsetzen. Dennoch behaupte ich, daß just mit diesem Prozeß, diesem historischen Prozeß der Individualisierung, jenes Phänomen beginnt, das Miegel beschreibt. Individualisierung, das heißt zum einen jener revolutionäre Prozeß der Freisetzung der Menschen aus alten Bindungen – aus patriarchalischen Zwängen, aus Familienbindungen, aus Tradition und Religion. Karl Marx, ein hervorragender Diagnostiker, dessen Talent zum Erfinden menschenfreundlicher gesellschaftlicher Lösungen man indes bestreiten möchte, hat diesen Prozeß der „Freisetzung" präzise beschrieben, der dem sich entwickelnden Industriekapitalismus einen Markt frei verfügbarer Arbeitskräfte verschaffte.

Für unser Problem, die Frage nämlich nach den Organisationsformen des Gemeinsinns, ist ein weiterer Schritt in diesem Prozeß der Individualisierung wichtig – nämlich der Übergang zum Individualeinkommen. Karl Marx hat in seiner Analyse des Stücklohns entwickelt, daß der Arbeiter im Lohn keineswegs einen leistungsbezogenen Anteil am geschaffenen Mehrwert enthält, sondern lediglich „die Reproduktionskosten der Arbeitskraft", d.h. das, was nötig ist, den Arbeiter und seinen Ersatz zu erhalten, sprich: seine Familie. Mit dem Übergang von der „halbierten Moderne" (Beck 1990) [ Ulrich Beck: Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt/Main 1990.] zu jenem Punkt im Prozeß der Individualisierung, an dem auch die Familie erfaßt wird, werden Lohn und Gehalt nicht mehr als „Ernährereinkommen" aufgefaßt, das mit Frau und Kindern zu teilen wäre, sondern als Individualeinkommen, dem der Zweck nicht mehr anzusehen ist, zu dem er einmal dienen sollte. Damit hat ein wichtiger Ort von „Umverteilung", nämlich die Familie, an Bedeutung rapide verloren.

Um zu zeigen, wie dramatisch die Familie als Umverteilungs-, als Solidaritätsinstanz an Bedeutung verloren hat, sei daran erinnert, daß noch um die Jahrhundertwende auch in weniger betuchten Mittelschichtshaushalten die Beschäftigung von Dienstboten selbstverständlich war. Von einem Einkommen lebten also entschieden mehr Personen als die, die wir heute als „Kernfamilie" bezeichnen. Der Industrialismus ersetzte diesen „Paternalismus" durch Lohnarbeit.

Wir verdanken den „Individualismus" auch dieser historischen Individualisierungsbewegung, die in der staatlichen Förderung von Solidarkassen wie der Rentenversicherung ihren konsequenten Ausdruck gefunden hat. Wenn Unterhalt von der Teilnahme am Erwerbsmarkt abhängig ist, wird auch die Altersversorgung zu einer erwerbsabhängigen Größe. Das erste Mal vielleicht in der Menschheitsgeschichte ist die Familie als Solidargemeinschaft entlastet bis ersetzt worden – ein Tatbestand, der sich übrigens durchaus segensreich auf die Beziehungen zwischen den Generationen ausgewirkt hat.

Wer Unterstützungsleistungen wieder mehr in den Familien ansiedeln will, muß deshalb bedenken, daß unsere Sicherungssysteme anderes begünstigen. Da Menschen sich nunmal, weitgehend jedenfalls, durchaus rational verhalten, kalkulieren auch Frauen rational, wenn sie, statt viele Kinder zu gebären, eigene Rentenanwartschaften ansammeln. Anderenfalls müßte man wieder die Unauflöslichkeit der Ehe einführen – denn angesichts der Tatsache, daß Ehe und Familie nicht mehr notwendigerweise Wirtschafts- und Notgemeinschaften sind und überdies, dank der langen Lebenserwartung, für einen ungeheuer langen Zeitraum zu halten hätten, ist die Wahrscheinlichkeit groß, daß Frauen nicht ein Leben lang vom „Ernährereinkommen" des Mannes leben. Gegen die Eventualität einer Scheidung sichert der eigene Rentenanspruch.

Das System begünstigt Individualismus. Es scheint indes nicht richtig zu sein, daraus auf die Gemütslage der Mehrheit der Menschen zu schließen. Gemeinschaft und Familie sind auch Zwangsgemeinschaften, die Autonomie, die Menschen heute voneinander gewonnen haben, ist den meisten von ihnen durchaus lieb und es sind keineswegs die Jungen, die die Älteren „hinaustun", wie Miegel sagt, sondern es sind die Alten selbst, die auf die Freiheit nicht verzichten wollen, allein, wenn auch räumlich nah zu den Kindern zu leben. Wir machen uns ein falsches Bild von „den Alten", wenn wir sie im Altersheim, auf Pflege- oder gar Intensivstationen vor sich hin dämmern wähnen. Selbst wenn der Pflegefall eintritt – bei 4-5% der über 65jährigen ist das, heißt es gemeinhin, der Fall –, dann sorgen entgegen der Vorstellung vom enthemmten Individualismus in der Gesellschaft noch immer weitgehend die Familienangehörigen, präziser: die weiblichen Familienangehörigen, für sie.

Daß der „Individualismus" eine verrohte Ellenbogengesellschaft produziert habe, ist offenkundig gar nicht wahr – denn auch die „Werte", die sich auf Familie und Gemeinschaft beziehen, haben keineswegs an Konjunktur verloren, im Gegenteil: sie erfreuen sich höchster Beliebtheit. Bleibt die Frage, ob und wie Individualismus, wie Miegel behauptet, Geburtenarmut produziert.

Ich muß gestehen, daß mich diese Gleichsetzung von Individualismus und Geburtenarmut etwas irritiert. Haben denn Menschen zu früheren Zeiten aus Gemeinsinn Kinder gekriegt? Oder nicht schlicht deshalb, weil es so üblich, „natürlich" war; weil man Arbeitskräfte brauchte, weil die Erbfolge geregelt werden mußte? Aufopfernde Mutterliebe und romantisch verklärte Liebesehe sind Produkte des 18. und 19. Jahrhunderts; unsere Vorfahren sahen das alles pragmatischer. Ist, wozu die Not oder auch nur die bloße Notwendigkeit zwingt, schon gleich tugendhaft, i.e. von Gemeinsinn bewegt?

Der Geburtenrückgang ist in den Industrienationen seit der Jahrhundertwende ein säkulares Phänomen. Es ist indes falsch, den Geburtenrückgang für die „alternde Gesellschaft" verantwortlich zu machen. Das „Problem" – wenn man denn eine solche revolutionäre Sache wie die Tatsache, daß Menschen heute und hierzulande damit rechnen können, ein hohes Alter bei gutem geistigen und physischen Zustand zu erreichen, unbedingt ein Problem nennen muß – das Problem liegt bei der gestiegenen Lebenserwartung. Nur dort können die Relationen zwischen Jung und Alt verändert werden, um das einmal ganz deutlich zu sagen – nur durch Verringerung der Alten, nicht durch Vermehrung der Jungen. Hätten wir uns bei heutiger Lebenserwartung auf dem Niveau von 1871 vermehrt, lebten heute in der kleinen Bundesrepublik nicht Millionen, sondern Milliarden. Ich denke manchmal, daß eine biologische Weisheit darin liegt, angesichts dieser Lebensverlängerung weniger Kinder in die Welt zu setzen. Das Problem der Rente, um das noch hinzuzufügen, ist denn auch zuletzt ein demographisches Problem, ein Konflikt zwischen Alt und Jung – nicht „die Jungen" zahlen „den Alten" ihre Rente, wie oft behauptet wird, sondern die 30- bis 64jährigen Erwerbstätigen, also nun wirklich keineswegs alles „junge" Leute, leisten die Beiträge, aus denen die laufenden Renten bezahlt werden. Statt vom „Krieg der Generationen" zu faseln und von der Gebärfreudigkeit der Frauen alles zu erhoffen, also das Problem zu biologisieren, käme es darauf an, die politische Entscheidung für dieses Rentenmodell politisch zu behandeln – d.h. behutsam zu revidieren. Das wird übrigens weder die derzeit Alten noch die heute Jungen, sondern vor allem meine Generation der 40jährigen treffen. Denn ich stimme Meinhard Miegel in einem ja zu: ob wir uns das System, dessen Vorzüge, wie ich meine, offenkundig sind, auf Dauer so weiter werden leisten können, ist „äußerst zu bezweifeln. Die abstrakten Kanäle, in denen unser Gemeinsinn heute fließt, bedeuten zudem reichlich „Umwegkosten", auch da hat er recht. Ich glaube ebenfalls, als in den siebziger Jahren Wohngemeinschaftserfahrene, daß es nur wenige freiwillige Zusammenschlüsse gibt, die so umstandslos funktionieren wie wohl immer noch die Familie. Familie ist, man sieht es etwa bei den koreanischen Einwanderern in die USA, unter Umständen ein ungeheurer Produktionsfaktor. Ressourcensparend ist sie auch noch. Auch gibt es keine Frage, daß Kinderkriegen nicht, wie hierzulande üblich, faktisch bestraft werden sollte. Aktive staatliche Bevölkerungspolitik ist uns indes aus guten Gründen nicht sonderlich angenehm – zumal in der Geschichte ihre Erfolgsquote selten hoch war. Und ob vermehrtes Kinderkriegen die Frauen ernstlich vom Erwerbsmarkt fern halten und in den Bereich des familiären Gemeinsinns überführen wird, ist zu bezweifeln. Die „Abhängigkeit" vom Ernährer ist ja nicht deshalb ein Problem, weil sie irgendwelchen abstrakten Emanzipationsgeboten widerspräche – sondern weil sie sich, angesichts hoher Lebenserwartung und hoher Scheidungsraten, als überaus riskant erweist.

Mag sein, daß wir uns vom „Individualismus" verabschieden müssen – wenn die Not uns dazu zwingt. Man sollte sich indes hüten, aus jeder Not schon gleich wieder eine Tugend zu zimmern.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 1999

Previous Page TOC Next Page