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Meinhard Miegel
Das Ende des Individualismus?


Wer den Begriff des Individualismus in den Mund nimmt und dann sogar noch sein mögliches Ende thematisiert, begibt sich auf vermintes Gelände. Das nicht zuletzt deshalb, weil dieser Begriff im allgemeinen Sprachgebrauch mit ganz anderen Begriffen wie Individuum, Individualität oder Individualisierung vermengt und ausgetauscht wird. Deshalb ist es erforderlich, den Begriff des Individualismus von jenen anderen Begriffen eindeutig abzugrenzen.

Im folgenden wird der Begriff des Individualismus als das gebraucht, wofür er eigentlich steht: für eine Ideologie. Und schon wieder steht damit ein Begriff im Raum, der erläuterungsbedürftig ist. Denn in der Tat, der Begriff der Ideologie ist noch ungleich schillernder als jener des Individualismus. Ich verstehe unter „Ideologie" – und ich stütze mich dabei auf die einschlägige deutsche Lexikonliteratur – eine „Anordnung und Hervorbringung von Vorstellungen zur Interpretation der Welt in einer bestimmten Sichtweise" oder auch die „Betrachtung des Verhältnisses einer Vorstellungswelt zu einer – wie immer aufgefaßten – wirklichen Welt".

Die Ideologie des Individualismus ist – und ich stütze mich dabei erneut auf die einschlägige deutsche Lexikonliteratur – eine Auffassung oder auch Vorstellungswelt, derzufolge „Interessen, Bedürfnisse und Rechte des Individuums gegenüber seiner sozialen Umgebung vorrangig sind. Das Individuum gilt in theoretischer, ethischer oder gesellschaftlich-politischer Hinsicht als eigentliche oder einzige Wirklichkeit und wird sinn- und wertmäßig als Zweckbestimmung, Gestaltungsnorm und Beurteilungsmaßstab angesehen." Oder noch pointierter: „Individualismus ist die Vertretung der eigenen Interessen ohne Rücksicht auf die Gesellschaft".

Sich gegenüber dem Individualismus kritisch zu äußern, bedeutet deshalb nicht, irgendwelche Vorbehalte gegenüber dem Individuum oder seiner Individualisierung anzumelden. Wer Gegenteiliges meint, müßte auch allen jenen, die sich z.B. gegen den Materialismus oder den Idealismus wenden, unterstellen, sie seien gegen die Materie oder Ideale oder gar Ideen eingestellt – ein offenkundiger Unfug.

Daß der Individualismus in unserer Gesellschaft oft nicht mehr als Ideologie erkannt und begriffen wird, ist ein verläßliches Anzeichen für den hohen Grad seiner Verinnerlichung. In Gesellschaften wie der unseren wirkt der Individualismus identitätsstiftend oder zumindest -fördernd. Diese Ideologie zu hinterfragen, wird daher leicht als Angriff auf die individuelle und gesellschaftliche Identität empfunden. Um das zu verhindern, wird der Ideologie des Individualismus der Rang eines Wertes zuerkannt oder besser noch einer Wertordnung. Diese Ordnung ist der Wurzelgrund von Überzeugungen und Gewißheiten, die das eigene Selbstwertgefühl erhöhen, nach dem Motto: Alle anderen haben Ideologien, ich selbst pflege Werte.

Nun ist unbestritten, daß jene Ideologie der Vorrangigkeit des Individuums vor der Gesellschaft eine Flut von Energien freigesetzt und sowohl das individuelle als auch das gesellschaftliche Leben außerordentlich bereichert hat. Hierüber ist so viel gesagt und geschrieben worden, vor allem aber wird diese Ideologie so aktiv gelebt, daß sich weitere Bekenntnisse erübrigen.

Was im Mittelpunkt der folgenden Betrachtungen stehen soll, ist deshalb nicht ein erneutes Loblied auf den Individualismus, sondern der Hinweis auf seine Janusköpfigkeit. Denn wie alle Ideologien hat auch der Individualismus zwei Gesichter. Seinen Stärken – die dank ihrer Verinnerlichung gewissermaßen metaphysisch überhöht werden – stehen Schwächen gegenüber, die aus dem gleichen Grund verdrängt werden. Diese Einseitigkeit der Sichtweise ist gefährlich. Denn dadurch können sich die Schwächen dieser Ideologie wie Knochenfraß ausbreiten, und zwar so lange, bis eines Tages das gesellschaftliche Gefüge zusammenbricht. Unsere Gesellschaft, wie die Gesellschaften anderer frühindustrialisierter Länder – so mein Befund – nähert sich diesem Zustand. Sie leidet unter einer empfindlichen Schwächung ihrer biologischen und kulturellen Tragfähigkeit.

Zunächst einige Gedanken zur abnehmenden biologischen Tragfähigkeit. Empirisch recht eindeutig sind individualistische Gesellschaften und gesellschaftliche Gruppierungen geburtenarm. Nicht eine einzige frühindustrialisierte Gesellschaft verfügt heute noch über eine bestandserhaltende Geburtenrate. Ohne mehr oder minder große Zuwanderungen sind sie alle auf zahlenmäßige Abnahme programmiert, wobei in der Anfangsphase dieses Bevölkerungsrückgangs der alte Bevölkerungsteil steil ansteigt.

Ich führe diese Entwicklung ganz maßgeblich auf die Ideologie des Individualismus zurück. Mein Argument: Wenn die Interessen, Bedürfnisse und Rechte des Individuums gegenüber seiner sozialen Umwelt vorrangig sind, liegt es nahe. daß mögliche Konkurrenten bei der Verfolgung solcher Interessen und Bedürfnisse von vornherein ausgeschaltet, das heißt nicht gezeugt und nicht geboren werden. Denn sie konkurrieren mit Karriere, Wohnraum, Konsum oder Urlaub. Kinder sind deshalb allenfalls hinnehmbar, wenn ihre „Last" kollektiviert, das heißt auf den Staat übertragen wird, der dann für Kinderkrippen, Kindergärten, Kindergeld und ähnliches zu sorgen hat.

Um diesen Sachverhalt ist eine dichte Argumentationshecke gewuchert, die sich jedoch unschwer auf die Grundaussage reduzieren läßt: „Kinder stören", „Menschen ohne Kinder haben es ganz einfach besser" oder „wenn schon ein Kind, dann hat es den Interessen und Bedürfnissen seiner Eltern zu genügen". Die Folge: In die entstehenden Bevölkerungslöcher strömen Menschen aus anderen Regionen, die entweder früher oder später selbst zu Individualisten werden, dann wirken individualistische Gesellschaften gewissermaßen wie schwarze Löcher, oder die an weniger individualistischen Sicht- und Verhaltensweisen festhalten und damit individualistischere Verhaltensformen verdrängen. In dem einen wie dem anderen Fall verliert die Ideologie des Individualismus an Wirksamkeit.

Zugleich zersetzt diese Ideologie ihre wirtschaftlichen und kulturellen Grundlagen. Da das Individuum gegenüber seiner sozialen Umwelt vorrangig ist, bedeutet Freiheit – als Individualrecht – im Individualismus nicht zuletzt Freiheit von Verantwortung. Anders gewendet: Das Individuum fühlt sich in der Befriedigung seiner Interessen und Bedürfnisse behindert, wenn es die Folgen seines Handelns selber tragen soll. Darum strebt es danach, Freiheit von Verantwortung zu trennen.

So will es sein Bedürfnis nach Rauchen, Drachenfliegen usw. befriedigen können, ohne dafür höhere Krankenversicherungsprämien zahlen zu müssen. Es fordert ein liberales Scheidungsrecht, sträubt sich aber dagegen, für den Ex-Ehepartner und Kinder aufzukommen. Für sie soll das Gemeinwesen einstehen. Ähnliches gilt für pflegebedürftige Eltern oder sonstige Verwandte. Auch hier wird Individualverantwortung zunehmend abgelehnt und der Gemeinschaft übertragen.

Die unvermeidliche Folge hiervon ist, daß staatliches Handeln parallel zur Zunahme individualistischer Denk- und Verhaltensweisen expandiert. Immer haben alle für alles einzustehen: für Raucher, Scheidungswaisen, Pflegebedürftige. In Zahlen ausgedrückt: 1950 wurde ein Sechstel des Bruttoinlandsproduktes für soziale Zwecke transferiert, heute ist es ein Drittel, obwohl zugleich das Bruttoinlandsprodukt real auf das Fünffache gestiegen ist. Das heißt, für Zwecke des Sozialtransfers wird heute zehnmal so viel aufgewendet wie vor 45 Jahren – eine vor dem Hintergrund des allgemeinen Wohlstandsanstiegs paradoxe Entwicklung.

Diese Entwicklung beinhaltet aber auch noch ein zweites Paradox. Wenn nämlich der Staat von den Individuen zunehmend Verantwortung übernimmt, kann er dieser Verantwortung aus offensichtlichen Gründen nicht individuell gerecht werden. Er muß standardisieren. Das bedeutet: Spätestens wenn das Individuum von der Gesellschaft versorgt wird – was nach Lage der Dinge immer häufiger geschieht –, endet alles Individualistische. Zwar bemüht sich die Gesellschaft noch immer um den Anschein von Individualität, indem sie sich um „Einzelfallgerechtigkeit" müht. Doch diese führt zwangsläufig zu Ungerechtigkeiten und selbst Willkür. Durch die massenhafte Übertragung von Verantwortung vom Individuum auf den Staat degradiert sich das Individuum selbst. Es trägt zu seiner Entindividualisierung bei. Schon heute wird kaum noch an Feiertagen geboren, da das nicht in das Schema paßt. Bald wird wohl auch nicht mehr an Feiertagen gestorben werden.

Hinzu kommt, daß die entindividualisierte Leistung in aller Regel sehr kostspielig ist. Das Kind im Kinderheim, der Alte im Altenheim, der Kranke im Krankenhaus – sie alle kosten ungleich mehr, als wenn sie im Familienverband oder durch sonstige nahestehende Menschen betreut würden. Doch immer öfter gibt es weder den einen noch die anderen. Nicht zuletzt deshalb stehen wir staunend vor dem Phänomen, daß die Wirtschaft wächst und wächst, wir uns aber weder individuell noch kollektiv mehr leisten können. Der Grund: Die kollektive Wahrnehmung von Verantwortung verschlingt wachsende Anteile des Erwirtschafteten. Der Aufwand nimmt zu, bis er eines Tages unbezahlbar wird. Möglicherweise haben wir jetzt diesen Punkt erreicht.

Dieses Dilemma ist wohl nur zu lösen, wenn das Verhältnis von Freiheit und Verantwortung, von individuellen und gemeinschaftlichen Belangen, wie es durch den Individualismus bewirkt worden ist, verändert wird. Gegenwärtig stimmen die Beziehungen von individuellem und gemeinem Wohl nicht mehr. Die untrüglichen Anzeichen: Schwarzarbeit, Sozialmißbrauch, Subventionsschwindel, Steuerhinterziehung, Korruption, Bestechung. Die Frage, die erneut zur Beantwortung steht, lautet: Wer trägt die Verantwortung für das gemeine Wohl? Ist dies fast ausschließlich der Staat, muß der Individualismus enden. Trägt diese Verantwortung aber der einzelne, dann endet seine Vorrangigkeit vor seiner sozialen Umwelt. Das Individuum hätte dann auch den Bedürfnissen und Interessen anderer Rechnung zu tragen. Das wäre ebenfalls das Ende der Ideologie des Individualismus.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 1999

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